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Über die Wurzeln des Cricket

Geologie. – Die Idee ist nicht neu, sie stammt vielmehr schon aus den 80er Jahren, aber jetzt kann man sie endlich auch nachweisen: Zwei Riesenflutwellen haben Großbritannien zur achtgrößten Insel der Welt gemacht, und es geschah – geologisch gesehen – vor gar nicht so langer Zeit: Bis vor vielleicht 200.000 Jahren gab es den Ärmelkanal noch nicht, und Great Britain war Teil des Kontinents. So steht es in der jüngsten Ausgabe von "Nature".

Von Dagmar Röhrlich |
    "”Bevor es den Kanal gab, war Großbritannien über eine Landbrücke fest mit Frankreich verbunden, wenn Sie so wollen, war es eine Halbinsel Europas.""
    Sanjeev Gupta vom Imperial College in London entwirft eine grässliche Vision: Großbritannien als Anhängsel von Frankreich. Gut, dass die Eiszeiten und zwei Flutkatastrophen die Briten vor diesem Schicksal bewahrt haben. Gupta:

    "”Durch eine Sonarkartierung des Meeresbodens im Ärmelkanal haben wir Belege dafür gefunden, wie Großbritannien zur Insel wurde. Wir entdeckten ein gigantisches Tal, das bis zu zehn Kilometer breit und mehr als 50 Meter tief ist. Anscheinend haben es zwei katastrophale Überflutungen aus dem Gestein im Ärmelkanal heraus gewaschen.""

    Die gigantischen Wassermassen, die im Fels tiefe "Narben" hinterließen, stammen von zwei Seen. Dabei war der erste der gewaltigere. Gupta:

    "”Auf dem Höhepunkt einer Eiszeit, die vor rund 400.000 Jahren begann, dehnten sich die Gletscher von Skandinavien bis mitten in die Nordsee hinein aus, und der Meeresspiegel lag über 100 Meter tiefer als heute. Die eisfreie Nordsee und der Ärmelkanal waren trocken, und zwischen Frankreich und England ragte hoch eine breite Landbrücke aus Kreidefelsen auf. Damals entstand zwischen dem Eis im Norden und dem Kreidefels-Riegel bei Dover ein See, den der Rhein, die Themse, die Maas und das Schmelzwasser der Gletscher speisten.""
    Dieser See erreichte die Größe von Wales, als eines Tages – vielleicht durch ein Erdbeben in Kent – die Kreidefelsbrücke unter dem Wasserdruck zusammenbrach. Den frühen Menschen muss sich ein schreckliches Schauspiel geboten haben: Monatelang schossen pro Sekunde Millionen von Kubikmetern Wasser durch die schmale Bresche. Das ist fast das Tausendfache dessen, was der Rhein heute ins Meer schafft. Ein Mega-Flusstal entstand. Die Landbrücke zwischen Frankreich und Großbritannien war zerstört. Gupta:

    "”Durch dieses Ereignis veränderten Rhein, Themse und Maas ihren Lauf. Nun flossen sie durch die Strasse von Dover in den Ärmelkanal hinein.""
    Aber noch war die Straße von Dover schmal. Ihre heutige Breite ereichte sie eine Eiszeit später. Damals hatten die Gletscher einen riesigen Moränendamm aufgeschoben. Zwischen ihm und dem Eis erstreckte sich wieder ein See. Der Damm brach, die Wassermassen rissen die Straße von Dover weit auf. Die beiden Flutkatastrophen hatten Folgen. Durch sie trennte in den Kaltzeiten ein unüberwindlich breiter Fluss Großbritannien von Europa. Und wenn in den Warmzeiten der Meeresspiegel anstieg, war England eine Insel. Für die frühen Menschen bedeute das eine Katastrophe. Gupta:

    "Die Spuren der Besiedlung Großbritanniens reichen viele hunderttausend Jahre weit zurück. Solange die Landverbindung existierte, hat es mehrere Besiedlungswellen gegeben. Aber dann scheinen es hier plötzlich keine Menschen mehr gelebt zu haben. Wir glauben, dass in den Kaltzeiten der Megastrom und in den Warmzeiten das Meer wie Barrieren gewirkt haben. Sie sorgten dafür, dass lange Zeit niemand einwandern konnte. Ein geologisches Ereignis hatte also schwere Folgen für die frühen Menschen."

    Diese Auffassung vertritt auch Philip Gibbard von der University of Cambridge, der die Forschungen seiner Kollegen für "Nature" eingeschätzt hat:

    "”Es ist sehr wichtig, dass diese katastrophalen Überflutungen erkannt worden sind. Bislang wussten wir nicht genau, wie Großbritannien zur Insel geworden ist. Aber diese Strukturen am Untergrund des Ärmelkanals erzählen eine überzeugende Geschichte.""
    Ohne die Überflutungen könnten wir Kontinentaleuropäer uns nicht über Cricket wundern, die Hutmode von Ascot und den Baumstammweitwurf in Schottland. Das wäre doch schade.