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Über Geheimnis und Verrat

Wie ist es um die Zukunft des Whistleblowings bestellt? Ziemlich duster, wenn man an Edward Snowden denkt, der von Russland nur dann Asyl erhält, wenn er ab sofort den Mund hält. Die isländische Politikerin und Wikileaks-Mitbegründerin Birgitta Jonsdottir bleibt optimistisch.

Von Max Böhnel |
    Auf den derzeit bekanntesten Whistleblower Edward Snowden und die Ereignisse um ihn herum angesprochen, übt die 45-Jährige Medienschelte.
    "Und wie die Medien daneben lagen. Wo ist Snowden, fragten sie auf den Titelseiten, als er Hongkong verlassen hatte. Was sind seine möglichen Flugrouten, hiess es auf Grafiken im Fernsehen, was weiss Wikileaks darüber, wie sind die Verbindungen, wurde spekuliert. Dann jagten sie Snowdens Freundin hinterher. Das war und ist aber alles leeres Geplapper. Es geht doch in Wirklichkeit darum, was Snowden enthüllt hat, nämlich die Praktiken dieser gigantischen Überwachungsmaschine NSA."

    Vor dem NSA-Späher Edward Snowden war der Soldat Bradley Manning der Enthüller von Skandalen. Manning muss sich zur Zeit in der Nähe der US-Bundeshauptstadt Washington vor einem Militärgericht verantworten – weil er Dokumente und Videoaufnahmen an die Enthüller-Webseite Wikileaks weitergegeben hatte. Eines zeigt mehrere Kriegsverbrechen der US Army an Zivilisten im Irak. An der Aufbereitung des Videos war vor vier Jahren Birgitta Jonsdottir beteiligt. Sie hatte Wikileaks mitgegründet und hatte kurze Zeit als Sprecherin fungiert. Das Whistleblowing werde auch nach Manning und Snowden nicht aufhören, ist sie sich sicher.
    "Das Schöne daran ist doch, dass die Enthüllungen weitergehen. Ich bin begeistert von Snowdens Mut, und bin mir sicher, viele andere auch. Seine Odyssee zeigt uns einerseits, wie weit die USA und die Europäer, die alle etwas zu verstecken haben, zu gehen bereit sind. Sie versuchen, die Whistleblowers abzuschrecken. Aber da kann ich nur sagen: das lässt sich nicht stoppen. Es gibt haufenweise Whistleblower im Wartestand. Es ist passiert, und es wird weiter passieren. Ich persönlich hatte gedacht, mit Bradley Manning sei das Whistleblowing an seinem Höhepunkt angekommen."

    Dann kam Snowden. Aber werden Schicksale wie seines, das von Manning oder auch von Wikileaks-Gründer Assange, der sich seit über einem Jahr in der equadorianischen Botschaft in London verschanzt hält, künftige Whistleblower nicht eher abschrecken? Nein, meint Jonsdottir.

    "Wir sind in einer Übergangsphase. Denn zwischen der Informationsfreiheit und den Möglichkeiten, die das Internet bietet, und dem Wissen der Politiker und Gesetzgeber herrscht eine grosse Kluft. Die Politik hinkt der Realität hinterher. Wenn sich erst das Bewusstsein entwickelt, das die Information keine Grenzen kennt, dann werden irgendwann Gesetze folgen, die sich dem regional, auf staatlicher und internationaler Ebene anpassen. Auf entsprechenden Druck von unten natürlich. Aber bis es soweit ist, wird es weitere Whistleblower geben."

    Edward Snowden hatte seine Enthüllungen nicht an Wikileaks, sondern an die eingesessenen Zeitungen "Guardian" und "Washington Post" weitergereicht. Tatsächlich hat Wikileaks noch eine Präsenz als Webseite im Internet, aber als Plattform, die Zehntausende von Dokumenten ungefiltert präsentiert, spielt sie keine Rolle mehr. Das hat viel zu tun mit der Person Julian Assange. Birgitta Jonsdottir brach mit ihm, als er sich weigerte, sich Vergewaltigungsvorwürfen aus Schweden zu stellen. Über die Inhalte von Wikileaks spricht seitdem niemand mehr. Birgitta Jonsdottir schwebt stattdessen ein Island vor, das Medien Schutz bietet.

    "Wir brauchen einen sicheren Hafen für investigativen Journalismus, zum Beispiel in Island. Hier könnten Investigativabteilungen von grossen Medien ihre Server haben. Es ist doch bezeichnend, dass grosse Medienkonzerne grössere Rechtsabteilungen als Investigativabteilungen haben. Das ist ein Armutszeugnis für demokratische Gesellschaften."

    Neben einer fortschrittlichen isländischen Gesetzgebung, für die sie sich als Abgeordnete des Parlaments und als Gründerin der isländischen Piratenpartei einsetzt, hält sie auch grosse Stücke auf länderübergreifende Initiativen. Erst im April machte beispielsweise das "Internationale Konsortium für investigative Journalisten ICIJ" auf geheime Geschäfte in Steueroasen aufmerksam. Anonyme Quellen hatten ihm 260 Gigabyte Daten zugespielt. Das Konsortium filterte und ordnete die Datenmenge, anders als Wikileaks, allerdings vor der Veröffentlichung. Möglicherweise liegt in solchen Initiativen die Zukunft, meint Birgitta Jonsdottir. Ohne gesetzliche Absicherungen stehe solch ein Projekt aber auf tönernen Füssen.

    "Wir brauchen entsprechende Gesetze. Der Druck auf internationale Organisationen muss sich verschärfen. Wir brauchen internationale Standards für Informationsfreiheit, für das Recht auf die Privatsphäre und für das Whistleblowing selbst. Es geht nicht an, dass noch mehr Informationsflüchtlinge erzeugt werden."