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Über Glück und Moral

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe spielt seit Jahrzehnten eine maßgebliche Rolle sowohl im ethischen wie im politisch-philosophischen Diskurs. Jetzt meldet er sich beinahe mit einer Art Opus Magnum zu Wort, in dem er zwei Diskurse miteinander verknüpft, die man traditionellerweise eher als Gegensätze versteht. Er fragt in "Lebenskunst und Moral" mach dem Verhältnis von Moral und Lebenskunst.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 10.09.2007
    Otfried Höffes Leitfrage lautet gemäß dem Buchtitel, ob Moral zum Glück führt. Seit den Anfängen des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als man Moral entweder für zu durchsetzungsschwach oder für bürgerliche Ideologie hielt, hätte man diese Frage entweder gar nicht zu stellen gewagt oder sie mit einem klaren Nein beantwortet. Glücklich mit Moral wird höchstens der Reiche, der sie sich leisten kann. Der Arme geht mit ihr unter. Will der Slumbewohner dem Leben nur ein wenig Glück abringen, dann darf er sich nicht an den mosaischen Geboten orientieren, sondern muss schwarzfahren, lügen, betrügen und stehlen.

    Genau hier erhebt Höffe Einspruch und erklärt nicht nur eine solche Gegenwartsdiagnose für verfehlt und unangemessen:

    "Es gibt ja empirische Untersuchungen über die Zufriedenheit, über das Glücklichsein der Menschen und da stehen überraschenderweise an den Spitzenplätzen unter anderem auch sehr, sehr arme Länder. Oder was mal ein Ethnologe gesagt hat, bei den ganz Armen wird sehr viel mehr gefeiert, getanzt, gelacht. Es ist keine Proportionalität, nicht mal ein annäherndes Verhältnis von Armsein und Glücklichsein auf der einen Seite und man braucht ja nicht große Anstrengungen und auch große finanzielle und andere Umstände, um moralisch zu sein.

    Die elementaren Dinge, dass man sich nicht betrügt, dass man ehrlich miteinander ist, dass man nicht stiehlt, die gelten doch für den armen Slumbewohner ähnlich. Denn will er von seinen anderen Slumbewohnern bestohlen werden? Will er seine Partnerin, seine Kinder oder seine Eltern bestehlen oder von seinen Freunden betrogen werden.

    Da wiederholt es sich. Das ist allenfalls, wenn man den Komplex des gesamten Slums gegenüber jetzt vielleicht der wohlhabenderen Gesellschaft anschaut, sieht es etwas anders aus. Das soll aber nicht heißen, dass ich dafür bin, bleibt in eurem Slum und seid glücklich miteinander, sondern umgekehrt, wenn ich aus welchen Umständen auch immer in einem Slum aufwachse, muss ich deshalb, muss ich deswegen weder unglücklich noch unmoralisch sein."

    Man kann die Welt für noch so verdorben und gottverlassen halten - einer Analyse, der man spätestens seit 1989 nicht unbedingt folgen muss - und auf die vielen Fälle hinweisen, wo Verbrechen unbestraft bleiben: Der Schluss, dass der Unmoralische glücklich wird, erweist sich allemal als fragwürdig: Verbrecher können deswegen kaum glücklich werden, weil sie allein ständig mit dem Risiko der Entdeckung leben.

    Dagegen begreift Höffe den Menschen als ein an der Moral sich orientierendes Wesen, das sich sinnvollerweise darum bemüht mit anderen zusammenzuleben und darunter selber nicht leidet, wenn er auf eigene Vorteile verzichten muss. Damit schließt er an eine Tendenz in der Ethik des 20. Jahrhunderts an, die von Sartre über den großen französischen Ethiker Emmanuel Lévinas zum bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts John Rawls verläuft, nämlich die traditionelle ethische Dichotomie zurückzuweisen, den Menschen entweder als egoistisches oder als altruistisches Wesen zu entwerfen. Höffe stellt fest:

    "Ein gutes Vorbild ist ja das Christentum und das heißt: liebe deinen nächsten wie dich selbst! Oder den Dekalog 'du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe auf Erden'. Diese Wechselseitigkeit, die Verknüpfung von Eigenwohl und Fremdwohl ist der Lebensweisheit und der Moral und wir müssen ja nicht nur an Moralphilosophen denken, seit langem vertraut."

    Höffe verknüpft dazu die Idee der moralischen Autonomie und der Freiheit von Kant herkommend mit einer auf Aristoteles zurückweisenden am Glück des Menschen orientierten Ethik, die heute recht populär unter dem Namen Lebenskunst segelt. Ihr Vordenker ist Michel Foucault. Der Lebenskunst geht es folglich primär um das individuelle Glück. Die rationale Ethik zielt auf allgemein verbindliche Normen und bindet damit den einzelnen in die Gemeinschaft ein. Doch Lebenskunst und Moral - so Höffes zentrale These - schließen sich nicht grundsätzlich aus, sie überschneiden sich in vielfältiger Hinsicht, wiewohl sie miteinander nicht identisch sind. Das moralisch gute Leben ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das glückliche Leben. Otfried Höffe:

    "Wenn jemand sich eine bestimmte Karriere vorgenommen hat und es in jeder Hinsicht daneben gegangen ist, dann muss er schon ein sehr hohes Maß an Lebenskunst aufwenden - aber das kann man - um zu sagen, deshalb bin ich doch nicht gescheitert. Das setzt etwas voraus, was ich die große Gelassenheit nenne, nämlich die Fähigkeit, die Welt ein gut Stück so zu akzeptieren, wie sie ist, auch sich selber und seine Schwächen zu akzeptieren, wie sie nun mal sind und trotzdem nicht darauf zu verzichten, dass man in seinem Leben etwas vorhat, und indem man etwas vorhat, das Risiko des Scheiterns eingeht."

    Liegt nicht trotzdem hier der Einwand nahe, Moral unterwerfe das Individuum nur disziplinatorisch der Gemeinschaft und zerstöre damit strukturell die Glücksfähigkeit des Individuums, so dass sich Moral und Lebenskunst gerade nicht verbinden lassen? Doch Höffe versteht die Ethik der Freiheit nicht als autoritär. Das Individuum gehorcht nicht blind politisch ethischen Führern, die ihm Normen vorgeben. Stattdessen fordert die Moral im Anschluss an Kant den einzelnen zum Selbstdenken, zum Reflektieren auf, was ihn natürlich dazu führt, sich um die angemessen Begriffe und Urteile zu kümmern. Moral im kantischen Sinn setzt auf die Freiwilligkeit und kann gar nicht gewaltsam Unterwerfung erzwingen. Höffe erläutert:

    "Mein Buch ist Fundamentalethik und nicht Lebenskunst im Sinne des täglichen Lebens. Das kommt drin vor, um auch zu zeigen, dass auch fundamentalethische grundlegende philosophische Überlegungen zu diesen Themen führen. Aber es ist falsch, wenn man in diesem Buch blättert wie in einem Kochbuch des Lebens, was mache ich in jeder Situation richtig, sondern hier soll man zunächst einmal lernen, wie man über diese Grundfragen nachdenkt, wie man den Begriff des Glückes in seinen verschiedenen Bedeutungen aufgliedert, wie im Glück selber ein Potential von Moral steckt, umgekehrt wie man über Moral denkt, wie in der Moral selber ein Potential von Lebenskunst steckt. Dann wie man diese beiden Dinge, das sind wahrscheinlich die beiden Hauptprinzipien der Moralphilosophie wie der menschlichen Lebensweisheit, wie man diese Dinge zusammen bringt und zwar zunächst denkerisch und dann auch von der Frage der alltäglichen Lebenspraxis. Widerspricht sich das alles und da kann man nur sagen, keineswegs."

    Aber passen Moral und Lebenskunst wirklich so gut zusammen? Muss sich die Lebenskunst nicht letztlich doch immer der Moral unterwerfen beziehungs. muss man das Glück der Moral hintanstellen? Nach Kant darf man nicht lügen, auch wenn die Gestapo nach einem versteckten Juden fragt. Genau hier folgt Höffe Kant denn auch nicht. Die Ethik der Freiheit verlangt keinen blinden Gehorsam gegenüber Normen, wenn dadurch ungerechte Verhältnisse bestärkt werden. Sie fordert Zivilcourage, wenn geltende Gesetze gegen höhere ethische Normen verstoßen, wie die Würde des Menschen, die der Rassismus offenbar verletzt.

    "Die Frage ist, darf man in Notsituationen lügen? Die Sache ist ganz einfach, wenn man sich damit einen Vorteil erheischen will, das ist klar, nämlich unzulässig. Wie ist es aber, wenn man anderen helfen kann? Dann sieht es schon etwas schwieriger aus. Dann ist es eigentlich eine Güterabwägung zwischen Lügenverbot und Hilfsgebot.

    Habe ich das recht im Namen der Menschenliebe einen Menschen zu belügen und Kant sagt zunächst mal, ich habe nicht das Recht. Aber das heißt nicht, dass ich das nicht eventuell machen könnte im Sinne einer Güterabwägung und das nehme ich in Kauf und ich neige dazu dass man das gelegentlich in Kauf nehmen darf. Allerdings sollte man das nicht mit einem guten Gewissen machen.

    Es bleibt dabei, dass man gegen ein offensichtliches moralisches Gebot verstoßen hat und dabei sollte man, selbst wenn man es für richtig hält, kein gutes Gewissen haben."

    Nur taugt, so Höffe, die Ethik natürlich auch nicht dazu, soziale Verhältnisse politisch zu revolutionieren oder restaurieren. Die Ethik liefert ein differenziertes Instrumentarium, um das Handeln wie auch politische Verhältnisse zu beurteilen und zu gestalten. Aber das muss natürlich sehr reflektiert und vorsichtig geschehen. Wer es hierbei eilig hat, gerät dann sehr schnell aus den ethischen Bahnen hinaus und in eine fatale politische Praxis hinein.

    Aber zeigt nicht genau das die Schwäche der Ethik, weshalb von ihr weder Hegel noch Marx etwas hielten? Unterfüttert nicht zudem die neuere Hirnforschung solche Skepsis, wenn sie experimentell belegt, dass es sich bei den moralischen Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung um Illusionen handelt, weil der Mensch durch die Funktionsweisen seiner Nerven vollständig determiniert erscheint. Otfried Höffe erhebt hier mehrere Einwände und stellt zunächst eine überraschende Frage:

    "Lebt ihr denn so, ihr lieben Hirnforscher, als wenn ihr behauptet, es gäbe keine Freiheit?

    Sie machen Versuche und beanspruchen diese Versuche selber entworfen zu haben und beanspruchen ihre Experimente so gemacht zu haben, dass sie der modernen Hirnforschung als gelungene Experimente gelten können. (. .) Der Hirnforscher will auf diese Weise wissenschaftliches Prestige, er will vielleicht eine Forschungsstelle oder er will Ehrenpreise am Ende vielleicht den Nobelpreis haben und er reklamiert auch das was er getan hat, für sich selber. (. .) Man erwartet von einem Forscher und hoffentlich der Forscher von sich selber, dass er dabei nicht Daten verfälscht, lügt, betrügt. (. .)

    Und auf diese Weise zeige ich (. .) dass die Forscher ihr eigenes Forscherleben, Karriere machen, damit Ansehen gewinnen und vor sich selber ein Mindestmaß an Integrität zu wahren, dass sie damit ihrer eigenen These, es gibt keine Freiheit, widersprechen."

    Trotzdem, die Ethik der Freiheit verlangt im Sinne Kants unbedingte und allgemeingültige ethische Normen, an denen sich der Mensch orientieren soll. Entbirgt indes nicht die kulturelle Vielfalt unterschiedlicher ethischer Systeme, dass es keine allgemeingültigen Normen geben kann? Doch für Höffe verkürzt ein solcher Relativismus damit wiederum die Realität wie schon der Einwand, dass Moral nicht glücklich machen könne. Denn ethische Normen gelten nicht nur innerhalb einer Kultur allgemein. Vielmehr führt Otfried Höffe vor:

    "Wir können eines sagen, andere Länder andere Sitten. (. .) Die Frage ist nur, liegen in anderen Sitten auch andere moralische Grundsätze zugrunde. Und da muss man in vielen Fällen sagen, nein. (. .) Und da zeigt sich wie in vielen anderen Fällen, wenn man sich die Mühe macht, die Oberfläche der verschiedenen Sitten auf die zugrundeliegenden moralischen Grundsätze zu befragen, dass man dann auf Gemeinsamkeiten kommt. Die Gemeinsamkeiten sind sogar so zahlreich, so verblüffend zahlreich, dass ich hier von einem Weltmoralerbe spreche. Die Menschheit hat gemeinsame Vorstellungen von Ehrlichkeit, Courage, Hilfsbereitschaft, auch in Bezug auf Rechtsgüter in allen Rechtskulturen. (. .) Angefangen mit diesem Kernbereich gibt es sehr viel mehr elementare Übereinstimmungen in der Menschheit als manche etwas aufgeklärte Kulturrelativisten glauben."

    Problematisch wird es allerdings dort, wo Höffe unter die kulturell überall anerkannten Normen das Inzestverbot und die Ablehnung des sexuellen Libertinismus zählt. Das stimmt nicht mehr, seit in der westlichen Welt Monogamie und Familie keine allgemein orientierende Kraft mehr besitzen und stattdessen Promiskuität, Homosexualität und vor allem die Emanzipation der Frau traditionelle Lebensformen in aller Öffentlichkeit verabschieden. Dazu zählen dann auch Problemfelder wie Abtreibung, Sterbehilfe oder die Genetik. Sie alle zusammen zeigen ethische Bruchlinien an, die global zwischen Fundamentalismus und Posttraditionalismus verläuft. Gerade hier geht es um die Frage des Glücks des Einzelnen und damit um die Lebenskunst. Gleichzeitig aber stellt das auch die Ethik der Freiheit vor schwierige neue Herausforderungen, die die moralphilosophische Debatte fortsetzen könnten.


    Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral
    oder: Macht Tugend glücklich?
    C.H. Beck 2007
    Gebunden,3 91 Seiten, ca. 24,90 Euro