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"Über Leben"

Judith Herzbergs Trilogie "Über Leben" handelt von einer Familie holländischer Juden, die die Shoa überlebt hat. Am Deutschen Theater Berlin wurden zum ersten Mal alle drei Teile an einem Abend aufgeführt. Inszeniert wurde das Stück von Stephan Kimmig.

Von Eberhard Spreng | 09.04.2011
    Lea feiert ihre Hochzeit. Es ist ihre dritte und doch sind fast alle ihrer Freunde und Verwandten gekommen. Auch ihr erster Mann Alexander, der diese Gelegenheit für Flirts nutzt, während Nico, den Lea ehelichen möchte, bei der Gelegenheit seiner ersten Frau Dory wieder sehr nahe kommt.

    Über all dem thronen Leas Eltern Simon und Ada, Auschwitzüberlebende, die ihr Trauma sehr unterschiedlich verarbeiten. Ada sucht Hilfe in der Psychotherapie, ihr Mann Simon, der die große Familiengesellschaft mit philosophischen Apercus überrascht, droht sie noch heute zu verlassen, sollte sie sich in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. Ganz zum Schluss im letzten Teil der viereinhalbstündigen Trilogie wird ihm und seinem Tod ein eigenes Stück gewidmet. Noch aber sind die vielen Geschichten der vielen Charaktere nicht erzählt. Noch tändelt die Inszenierung in unentschiedener Beiläufigkeit dahin. Immer wieder lösen sich in kurzen Szenen die Protagonisten aus dem Gruppenbild und fallen unversehens in die Totale zurück, tänzelt die ganze Gesellschaft zu lateinamerikanischen Klängen immer dann neckisch vor sich hin, wenn sich etwas Emotionales oder Bedeutendes ereignet hat. Wir sind in 1972 und, wie es scheint, in der Zeit der großen Verdrängung.

    Was zunächst wie eine ziemlich ärgerliche ironische Distanzierung der Inszenierung erscheint, diese flächige schematische Darstellung, bekommt im zweiten Teil Tiefe. Jetzt kreist die Drehbühne still vor sich hin und schafft so wechselnde Hintergrundbilder für das Geschehen auf der Vorderbühne. Aber die Brüche der Figuren, ihre Verletzungen und schroffen Ausbrüche, werden nicht mehr schnodderig weggewischt. Wiederum ist es die mit Almut Zilcher etwas zu jung besetzte Ada, die in der von der Shoa geprägten Familienchronik, wie ein lebendes Orakel, Vergangenheit und Zukunft verknüpft:

    Wenn du jetzt kein Kind bekommst, dann gibt es niemanden mehr, dem es etwas ausmachen würde, dass deine Eltern im KZ ermordet worden sind. Ist doch wenigstens etwa, denn das war nicht beabsichtigt. Die Absicht war, dass niemand mehr übrig bleiben sollte, sodass auch niemand über jemand anderen trauern konnte. Das war die Absicht, aber es ist ihnen nicht gelungen.

    Dory, die ihre Eltern im KZ verloren hatte, bekommt von dem alten Simon ein Kind. Sie will es Isaak nennen und gerät dadurch mit Simons Tochter Lea in einen heftig ausgetragenen Konflikt. Die beiden Frauen stecken in einer tiefen Konkurrenz um Talent, Karriere, um die Männer und das Kinderkriegen. Aber Lea wird keine Kinder bekommen und Dorys Sohn stammt aus dem Verhältnis mit einem Mann aus der Generation ihres ermordeten Vaters. Dass sie ihn Isaak nennen will, erbost Lea, denn den Sohn, den sie nie bekommen wird, hätte auch sie Isaak genannt.

    Subtil und ohne jede simple Psychologisierung erzählen Herzbergs Stücke von den Transformationen der großen, von der Shoa geprägten Familienthemen. 1972, 1979, 1995- und 98 sind die Stationen in diesen über drei Generationen sich erstreckenden diversen "Überlebensbiografien". In den Pausen kurz vor dem Beginn der einzelnen Teile lässt Kimmig Maßregeln für das Verhalten von sogenannten Kriegseltern auf eine Gaze projizieren: Pflegeeltern, denen Juden ihre Kinder vor der Deportation übergaben, um sie unter einer anderen, vorgetäuschten Identität vor dem Tod zu bewahren. Auch deren Drama erzählt das Stück und zeigt zudem mit der sehr eindrucksvoll von Christine Schorn gespielten Riet das Schicksal von einer dieser "zweiten" Mütter.

    Der dritte Teil versammelt die Kinder der dritten Generation und mit ihnen all jene, für die sich die Erzählungen, Berichte aus ersten Hand verklären. Die Überlebenden der Shoa werden rar. Wiederum hat Kimmig alle seine Figuren aufgereiht und lässt jeden Einzelnen in einer Pose verharren. Viele sehen jetzt alt aus, die Jungen flüchten in modische Posen des gesellschaftlichen Widerstands. Erben der Shoa wollen sie nicht mehr sein und nicht für alle Zeiten beauftragt, andere an die Judenvernichtung zu erinnern.

    Katja Haß hat für diese Inszenierung Fragmente einer aus rohen Holzplatten bestehenden Kulisse bauen lassen, die sich nie zum Gesamtbild fügen. Möbel sind aufgestapelt und mit weißen Tüchern überdeckt. Die Figuren in "Über Leben" sind Unbehauste, ihre Existenz eine ungeklärte Grauzone. Die Leichtigkeit, die sich die Autorin gewünscht hat, gelingt dieser Inszenierung nicht, wohl aber eine ästhetisch Klammer, die die Vielzahl der kurzen szenischen Skizzen, das reichhaltige Beziehungsmosaik der Trilogie in eine Form fasst.