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Überall brannten die Synagogen

Sie kamen plötzlich, gar so plötzlich allerdings auch wieder nicht. Sie mordeten und plünderten, sie prügelten und stahlen, sie legten Brände und vergewaltigten. Es geschah in Berlin und in Bremen, in Frankfurt am Main und in München, in Bad Hersfeld oder Baden-Baden. Und es geschah, wie ein Radioreporter stolz berichtete, in dieser Nacht vom 9. zum 10. November 1938, auch in Wien, das ja seit ein paar Monaten zu Adolf Hitlers Großdeutschem Reich gehörte.

Von Claus Menzel |
    "Die erbitterten Einwohner, arischen Einwohner dieses Bezirkes haben nach dieser ruchlosen Tat von Paris es sich nicht nehmen lassen, um auch hier ihren abgrundtiefen Hass gegen das Judentum zu bezeigen. Der Judentempel war in wenigen Minuten ein Raub der Flammen. Und wenn wir uns jetzt hier in diesem orientalischen Kuppelbau umsehen, dann ist von dem eigentlichen Tempel, von diesem prunkvollen und mit viel Geld erbauten Gebäude nur mehr das Gerippe, das alte Gerüst übrig geblieben."

    Einen Tag später ließ Reichspropagandaminister Dr. Goebbels einen Aufruf verbreiten, den alle Zeitungen auf ihrer ersten Seite abzudrucken hatten.

    "Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft geschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr ... die strenge Aufforderung, von allen Aktionen gegen das Judentum ... sofort abzusehen".

    Geplant hatte die Ausschreitungen der später sogenannten "Reichskristallnacht" niemand. In den Plan aber passten sie durchaus. Am Nachmittag des 9. November war in Paris der Legationsrat Ernst vom Rath an den Schüssen gestorben, die Herschel Grynspan, ein 17 Jahre alter Jude aus Hannover, zwei Tage zuvor auf ihn abgegeben hatte. Und die NS-Führung, die sich traditionell an jedem 9. November in München zum Gedenken an den gescheiterten Nazi-Putsch im Jahre 1923 zu versammeln pflegte, erkannte sofort, dass die Schüsse von Paris der ökonomischen Ausplünderung der deutschen Juden einen ausgezeichneten Vorwand boten. Offiziell wollten Staat und Partei nicht in Erscheinung treten - die Ausschreitungen sollten als so spontan wie möglich erscheinen. Die Fernschreiben, die aus München in den diversen Gau- und Kreisleitungen eintrafen, enthielten folglich nur selten klare Befehle. Der braune Mob aber wusste auch so, was er zu tun hatte.

    Von dem, was dann geschah, haben Zeitzeugen später berichtet. Aus Nürnberg zum Beispiel.

    "Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran. Mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen ... der Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus. Danach ging es in die von Juden bewohnten Häuser ... Jede Gruppe hatte die nötigen Einbrecherwerkzeuge wie Äxte, große Hammer und Brechstangen dabei ... Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder zerschnitten. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert. Das Schlimmste dabei waren die Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen ebenso oft misshandelt wurden wie die Männer."

    Vierhundert Juden sind am 9. und 10. November 1938 ermordet worden. Rund 30.000 Juden wurden verhaftet, rund 20.000 in Konzentrationslager gebracht. Überall brannten die Synagogen - 267 jüdische Gotteshäuser wurden ausgeraubt, zerstört, angezündet. Auch in Wien.

    ""Ja, es ist jetzt alles weg, Leute stehen nicht mehr auf der Straße und wir werden auch gleich verschwinden. Also ich glaube, der Tempel kann ohne weiteres einstürzen, wir haben alle nichts dagegen, was ? - Nein, nein ... (Lachen). "

    Nicht alle Deutschen lachten. Auf Kritik stieß, was in der Nacht des 9. November geschehen war, selbst in der Nazi-Führung. Nicht, natürlich nicht, weil irgendwer diese Ausschreitungen für kriminell gehalten hätte. Wohl aber, weil auch nichtjüdische Geschäfte demoliert worden waren.

    Und weil es in Deutschland auch bei kriminellen Ausschreitungen streng nach Recht und Gesetz zuzugehen hat, wurden zwei SA-Leute, die in der Nacht des 9. November Jüdinnen vergewaltigt hatten, von deutschen Richtern tatsächlich streng bestraft. Allerdings nicht wegen Vergewaltigung. Sondern weil die Nürnberger Gesetze Intimitäten zwischen Ariern und Juden als Rassenschande strikt verboten hatten.