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Überall Finsternis

"Lagum", ein Begriff türkischen Ursprungs, bezeichnet in Serbien unter anderem einen dunklen unterirdischen Gang, in den kein Licht fällt, wie sie sich zahlreich etwa unter der Belgrader Festung Kalemegdan befinden. Der gleichnamige Roman bezieht sich aber vor allem auf die dunklen Seiten des revolutionären Umbruchs in Jugoslawien nach dem Sieg von Titos Partisanen über die deutschen Besatzer und die Klassenfeinde im eigenen Land.

Von Ursula Rütten | 26.04.2004
    Als das Buch erschien, Ende der 80er Jahre, war ich überwältigt. Das Buch hat einige Tabus gebrochen, es wurden darin Sachen erzählt und behauptet, die bis dahin niemand gesagt hat.

    "Überall Finsternis, in die wir nur Fragen entsenden könnten". wäre eine Kurzfassung dieses Romans mit dem Titel "Lagum", der die gebürtige Jugoslawin Mirjana Wittmann damals noch in Belgrad als unbeteiligte Leserin so begeisterte. Über ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis sich ein deutscher Verlag fand, der dieses erfolgreichste Werk der "Grande dame" der zeitgenössischen serbischen Literatur, Svetlana Velmar-Jankovic, endlich ins Deutsche übersetzen ließ und Mirjana und Klaus Wittmann diese große sprachliche Herausforderung anvertraute. War man sich womöglich nicht sicher, ob sich ein deutsches Lesepublikum für den hier thematisierten Konfliktstoff interessieren würde? Belgrad im Chaos des Zusammenpralls serbisch-nationaler Bildungsbürger mit kommunistischen Partisanen und der deutschen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges? Schließlich erschien die Originalausgabe am Beginn der Milosevic-Ära, in dem das seinem Untergang geweihte Jugoslawien aktuellere politisch-moralische Fragen aufwarf.

    Zum ersten Mal hat man gelesen, dass die Kommunisten schlecht waren, dass sie ungerecht waren, dass sie die Leute enteignet haben und dass sich vor allem Leute gewendet haben. Das war ein Buch über die bürgerliche Schicht. Das war auch etwas Neues, und diese bürgerliche Schicht wurde darin nicht kritisiert.

    Als Milicas Mann, der bekannte Kunstkritiker Dusan Pavlovic während des Krieges in Belgrad versucht, möglichst viele Menschen vor den Todeslagern im unabhängigen Kroatien zu retten und deshalb mit der Quislingregierung zusammenarbeitet, lebt sich das Paar immer mehr auseinander. Obendrein deckt Milica das Versteck eines verwundeten Partisanen im Dienstbotenzimmer ihrer Wohnung ohne Wissen von Mann und Kindern. Die Machtübernahme der kommunistischen Widerstandskämpfer besiegelt das Schicksal der Familie: Dusan wird als Kollaborateur hingerichtet, die mit musealen Kostbarkeiten eingerichtete Wohnung von Nachbarn geplündert, die sich eilfertig in eifrige und grausame Handlanger des neuen Regimes verwandelt haben. Milica wird von Menschen, denen sie und ihr Mann Jahre zuvor das Leben gerettet hatten, als Verräterin geschmäht. So auch von jenem Partisanenoberst, der unter ihrem Dach versteckt genesen durfte.

    Der Oberst, den ich einst als den Maler Pavle Zec kennen gelernt hatte, verströmte eine kalte Gewalt, die nicht nur in ihm selbst, sondern auch um ihn herum alles ausradierte, was nicht unmittelbare Gegenwart war, was auch nur im Geringsten zur Vergangenheit gehörte. Es entstand aus dem Bewusstsein, dass der Verzicht auf die Erinnerung, also die Bereitschaft zum totalen Vergessen, eine der wesentlichen Grundlagen der neuen Existenz war. ... Wenn es außerhalb dieser Gegenwart doch noch etwas gab, dann war es etwas Fremdes, und alles Fremde war zu eliminieren.

    In diesem Buch werden authentische Personen beschrieben unter ihrem Namen, und es werden authentische Personen beschrieben unter einem anderen Namen. Das war für die Öffentlichkeit in Serbien, in Belgrad, sehr neu zu erfahren, dass sich unter einem anderen Namen in dem Roman bekannte Persönlichkeiten verbargen, wie z. B. Pavle Zec, der eine durchaus negative Rolle in dem Roman hat, die Kenner haben darin den Maler Dordje Andrejevic-Kun entdeckt, das war ein Porträtist von Tito, ein Maler, der mit den Partisanen gekämpft hat und diese Kämpfe auch zeichnerisch festgemacht hat und der auch die Zeichungen für den ersten Dinar geprägt hat. Auf einmal sieht man, dass dieser große Maler ein Schuft war. ... oder z. B. der Kommissar für Flüchtlinge, Tomo Maksimovic, der war ein Freund meiner Eltern, der saß nach dem Krieg im Gefängnis, weil er mit der Besatzungsmacht kollaboriert hatte. Er hat sich mit der deutschen Regierung und der Quislingregierung gut gestellt um serbische Flüchtlinge aus Kroatien nach Serbien zu schaffen.

    Jedermann, da war sich Dusan sicher, werde die Auffassung unlogisch finden, wonach es besser sein solle, wenn nicht schon alle, dann wenigstens einen Teil zu retten. Insbesondere den Siegern würde das unlogisch erscheinen, die bekanntlich immer im Recht seien, und die Sieger würden auf keinen Fall die Deutschen sein. Es sei ein Paradox, dass die Wahrheit, insbesondere die historische Wahrheit, nicht einfach sei, aber für die Sieger, wer immer sie seien, würde sie einfach sein, so wie die Gerechtigkeit für alle Sieger im Laufe der Geschichte schon immer einfach ausgesehen habe.

    Es ist interessant, wie sich diese Schicht bewegt hat, und es ist vor allem interessant, wenn man von Dusan und Milica spricht, dieser Konflikt zwischen ihnen, der übrigens auch authentisch ist. Die Autorin, Svetlana Velmar-Jankovic, hat unlängst den ersten Teil ihrer Autobiografie herausgegeben, und da sieht man, dass das ihre Eltern waren, die auch diesen Konflikt hatten, der nicht zu lösen ist: soll man mit der Besatzung kollaborieren, um den Landsleuten Gutes zu tun, wohlwissend, dass man keinen Dank erwarten kann, oder soll man seinen Idealen streng folgen und eine saubere Weste behalten?

    Man muss dieses Gesellschaftsporträt nicht unbedingt als bahnbrechenden Schlüsselroman lesen wollen, wie die Menschen im Herkunftsland seiner Handlung. Ohne jedweden Hau-drauf-Revanchismus zeichnet Velmar-Jankovic subtil die Bruchlinien und Schwächen menschlicher Charaktere, besonders der jungen Revolutionsprofiteure nach.

    Was ich schön finde ist die Schlussszene, das ist die Szene, wo die Zora, das adoptierte Kind, was sich nachher als große Kommunistin gebärdet und so weit geht, dass sie ihre Wohltäter im Stich lässt und anzeigt, als Milica stirbt, ist sie dabei, wie eine Dame angezogen. Aber in dem Augenblick bricht aus ihr das Ursprüngliche heraus und sie fängt ein Klagelied anzustimmen wie eine Bäuerin. Das ist etwas ganz Urtümliches, so dass man Gänsehaut bekommen kann. Damit will die Autorin sagen, dass man sich letzten Endes nicht ändert. Man bleibt, was man ist.

    Über die gesellschaftskritische Rahmenhandlung hinaus vermittelt Lagum viele hier zu Lande weitgehend unbekannte Einblicke in die serbische Zeitgeschichte: sei es in die vitale Kunstszene im Belgrad der 30er Jahre, sei es in das bis heute nicht bereinigte Spannungsfeld zwischen wertkonservativen Traditionalisten und kosmopolitischen Modernisten oder sei es in die Tatsache, dass politisch verfolgte Serben und Juden im deutsch besetzten Teil Jugoslawiens relativ weniger grausam traktiert wurden als unter der Knute der verbündeten kroatischen und ungarischen Faschisten. Ein geradezu makabrer Befund, ruft man sich den letzten Roman von David Albahari, "Götz und Meyer", in Erinnerung. Und somit darf "Lagum" durchaus auch als ein Schlüsselroman für nichtserbische Leser gewertet werden.

    Svetlana Velmar-Jankovic: "Lagum"
    Verlag edition Büchergilde, Frankfurt am Main, 278 S., 16, 90 EUR