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Überbehütete Kindheit

Die Welt erobern, eigene Erfahrungen machen, den Aktionsradius ausweiten - Dinge, die für Heranwachsende wichtig sind. Doch vielen Kindern bleiben diese Erfahrungen verwehrt. Da ihre Eltern Angst um sie haben, werden sie ständig kontrolliert. In vielen italienischen Städten gehen Kinder deshalb selten allein zum Spielen raus.

Von Kirstin Hausen |
    "Montags habe ich Klavierunterricht, mittwochs Tanzschule, Donnerstags Judo gemeinsam mit meiner besten Freundin,"

    erzählt Isotta. Sie ist zehn Jahre alt und lebt in Mailand. Ihre Nachmittage sind ausgefüllt mit Aktivitäten. Ein voller Terminkalender und wenig Zeit zur freien Verfügung - für das lebhafte Mädchen mit den langen dunkelbraunen Haaren ist das ganz normal.

    "Das ist ok, ansonsten würde ich ja gar nicht wissen, was ich machen soll", " meint sie.

    Und wie wäre es, einfach mal nach der Schule durch das Viertel zu streifen und mit Nachbarskindern zu spielen?

    Allein draußen spielen ist zu gefährlich, sagt Isotta, wegen der Autos. Sie lächelt zu ihrer Mutter hinüber, die gerade von der Arbeit heimgekommen ist. Dominique Muret, gebürtige Französin, ist stolz auf ihre so vielseitig interessierte und begabte Tochter. Auch wenn Isotta ein ganz anderes Leben führt als sie selbst in dem Alter.

    ""Ich habe Erinnerungen, da frage ich mich, ob ich sie geträumt habe, so unvorstellbar scheinen sie mir in der heutigen Zeit. Ich erinnere mich, dass ich mit sechs Jahren meine kleine Schwester, sie war fünf, allein zum Kindergarten brachte und dann weiter zur Schule ging. Meine Eltern haben uns auch mal allein zu Hause gelassen."

    Isotta hört aufmerksam zu, wickelt sich eine Haarsträhne um den Finger und schaut nachdenklich aus dem Fenster. Die wenigsten Kinder in Mailand dürfen allein auf die Straße. Das ist nicht nur hier so. Nach Auskunft des italienischen Psychologenverbandes spielen mehr als 30 Prozent aller Kinder bis zu zehn Jahren nie ohne Aufsicht Erwachsener im Freien. Mark Francis, ein amerikanischer Kinderpsychologe, spricht von der "eingesperrten Kindheit". Ein Schlagwort, das nun auch in italienischen Fachkreisen die Runde macht. Es ist vor allem der Autoverkehr, der den Eltern Sorge bereitet. Aber es gibt auch noch andere Gründe für die intensive Betreuung. Isottas achtjähriger Bruder Gil mischt sich ein:

    "Ich würde gerne mehr allein machen, aber das erlauben meine Eltern nicht, weil mich jemand klauen könnte,"

    sagt er und senkt den Blick. Seine Sehnsucht nach mehr Spielraum im wahrsten Sinne des Wortes ist kein Einzelfall. Viele Kinder wünschen sich mehr Zeit zum Spielen und meinen damit offensichtlich nicht von Erwachsenen organisierte Aktivitäten, sondern Leerlauf, freie Zeitfenster, in denen sie keiner Kontrolle ausgesetzt sind.

    "Nein, das geht nicht. Sie sind immer unter Aufsicht. Entweder ist die Babysitterin bei ihnen oder die Oma. Die Zeiten haben sich geändert. Leider, ich würde ihnen nämlich gerne mehr Freiräume lassen, aber mein Mann blockiert das. Er ist nämlich Italiener."

    Italienische Eltern gelten als besonders beschützend. Dominiques Mann Mauro zuckt mit den Schultern.

    "Wir haben da schon viel drüber diskutiert. Irgendwie bist du gefangen in dem, was alle um dich herum denken und sagen."

    Bei der Sicherheitsindustrie haben die Ängste der Eltern zu einem neuen Boom geführt: Jeder dritte Achtjährige in Italien besitzt ein Handy mit integriertem GPS. Ist das Kind nicht zur vereinbarten Zeit daheim, können die Eltern es auf zehn Meter genau verorten - eine Art Rundumüberwachung, die immer mehr Telefongesellschaften anbieten. Soweit will es Mauro aber nicht kommen lassen.

    "Ich habe als Kind meine Hausaufgaben gemacht und dann nichts wie raus. Meine Eltern haben sich keine großen Sorgen gemacht. Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der die Kinder permanent unter Beobachtung stehen."

    Nach Ansicht des Psychologen David Elkins übertragen Eltern ihre eigenen diffusen Ängste vor einer komplizierter gewordenen Welt auf ihre Kinder. Sie wollen den Nachwuchs vor all den Gefahren, die in der Welt draußen lauern, beschützen und vergessen dabei, wie wichtig es für das Selbstvertrauen der Kinder ist, die eigenen Grenzen auszutesten und Wagnisse zu bestehen.

    Durch den Bach waten, ein Baumhaus bauen - solche Abenteuer sind in einer Großstadt wie Mailand rar, aber auch der Weg von der Schule nach Hause oder zum Fußballplatz kann Raum für spannende Erfahrungen bieten, vorausgesetzt, man geht ihn allein. Für Kinder wie Isotta und Gil ergibt sich dazu aber fast nie die Gelegenheit.
    "Es hängt davon ab, was meine Mutter oder die Babysitterin erlaubt,"

    sagt der achtjährige Gil.