Es gibt auf jeden Fall 'nen Einfluss von der vorherigen Generation, gleichzeitig versucht man sich aber abzustoßen davon, um was Neues zu machen, was immer das auch sei, das kann man so oder so nicht mehr machen, aber man kann es als Material einfach benutzen.
Auch Kasnitz spricht davon, dass man sich an den Traditionen abzuarbeiten habe, dass neue Ausdrucksformen nur in bewusstem Bezug darauf entstehen können. Es geht also um einen geordneten Neuaufbau, die Lyriker dieses Kontexts sind keine jungen Wilden, die alles niederreißen wollen, was vorher existierte. Skepsis hat Einzug gehalten, vorsichtige Innovation, vorsichtiger Umgang mit Sprache. Die poetologischen Forderungen sind dazu passend, nämlich extrem tief gehängt. "Das Gedicht braucht keine festgelegte Poetik. Es braucht Grenzen, die im Moment nicht zu bestimmen sind, da sie durch das Permanent-Wechselnde des Inneren ihre Grenzen bestimmen", schreibt Björn Kuhligk in einem kurzem Theorie-Text, der in der von Ron Winkler herausgegebenen Zeitschrift "Intendenzen" erschienen ist, einem der maßgeblichen Organe dieses Autoren-Zusammenhangs. Das pocht auf Subjektivität und enthält sich in auffälliger Weise jeglicher Festlegung. Ein anderer Passus bezieht da eher Position: "Das Gedicht braucht Bilder. Es müßte permanent eine Kamera mit sich führen." Doch ihn möchte Kuhligk heute schon nicht mehr unterschreiben:
Ich würd' das so nicht mehr sagen, das ist veraltet. Ich würde überhaupt nicht mehr auf Bilder eingehen. Ich würde, wenn ich eine Poetologie schreiben müsste, dann würde ich einfach nur noch einen Satz schreiben, der würde lauten: Das Gedicht ist nur eine Möglichkeit. Es ist eine Ausdrucksform, einfach. Man hat die gewählt aus bestimmten Gründen, in diesem Fall, weil sie kurz ist, weil es den Reiz darin gibt, mit Sprache zu arbeiten, also mit einem minimalen Wortaufwand etwas sehr Maximales rauszuholen, aber im Endeffekt ist es nur eine Form, man könnte malen, man könnte komponieren oder Anderes tun.
Nach langen Zeiten, in denen die poetische Methode oder auch der Gesellschaftscharakter der Lyrik im Zentrum des Interesses stand, wird jetzt auf einen elementaren Erlebnisgehalt des Gedichts rückgeschlossen:
Ja, es hat Tagebuchcharakter, denk ich, dass man einfach sich vielleicht besinnt auf, ich nenne es immer gern: "Die neue Zerbrechlichkeit", also dass man das "Ich" einfach mal versucht, in den Vordergrund zu stellen und damit zu arbeiten.
Während Kuhligk diesen extremen Grad an Subjektivität für das Gedicht veranschlagt, plädiert Kasnitz weiterhin für den Einsatz von Bildern und Metaphern, die ja auch Distanz schaffen, differente Lesarten des Textes ermöglichen:
Sie bieten aber neue Zugänge zum Verstehen und man kann halt dadurch eine neue Perspektive gewinnen und halt [CUT] neues Wissen neu aufdecken, indem es durch so geläufige Redewendungen verdeckt wird, also neue Perspektiven, die so durch Redewendungen der Alltagssprache so eingefahren sind, dass diese Perspektiven gar nicht mehr wahrnimmt.
Subjektivität UND Sprachkritik, das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Intentionen bewegen, der individuelle Zugang der einzelnen Autoren ist dabei natürlich verschieden, wie Kuhligk bestätigt:
Also, es gibt zwar Gemeinsamkeiten, denk' ich, das beruht eher darauf, dass man sich kennt und gegenseitig das wahrnimmt, was der Andere macht und sich daran auch schult. Es gibt, denk' ich, aber mehr Unterschiede, weil jeder einen völlig anderen Ansatz hat. Der eine machts experimenteller, der anderer traditioneller, und ich denke, das ist bei dieser Generation genauso, wie bei den davorherigen, dass es einfach eine große Bandbreite gibt.
Jeder steht dieser Poeten für sich, aber vergleicht man sie mit den Altersvorgängern sind ihre Gemeinsamkeiten untereinander stärker, als sie selber glauben. Jan Wagner, der 2001 als erster aus diesem Kreis mit seinem Band "Probebohrung im Himmel" ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte, widmet sich ebenso dem alltäglichen Erleben und dessen nahezu unsichtbaren, poetischen Sprüngen wie sein Freund Kuhligk. Der brachte in diesem Frühjahr eine erste umfangreichere Gedichtsammlung heraus, wie Wagner im Berlin Verlag:
Vor und neben diesen beiden Publikationen im großen Publikumsverlag gab es eine Reihe kleinerer Veröffentlichungen, Crauss und Kuhligk brachten Bücher in der von Heinz-Ludwig Arnold betreuten Book-on-Demand-Reihe "Lyrik-Edition 2000" heraus, in diesem Sommer folgt dort ein Band von Adrian Kasnitz. Dieser betreibt zudem in Köln mit Wassiliki Knithaki eine Mini-Edition, die "parasitenpresse", wo unter anderem wiederum Kuhligk und Tom Schulz veröffentlicht wurden.
Schulz, ebenfalls Berliner, verschmilzt detailgenaues Registrieren der urbanen Umgebung mit Einflüssen aus dem Bereich der "hard-boiled-poetry" und intellektuell-erkenntniskritischen Tendenzen. Seine Gedichte beziehen allgemeinere gesellschaftliche Positionen, die Wahrnehmung wird durch die soziale Realität politisiert.
Ob "neue Zerbrechlichkeit" oder Wiedererstarken einer "neuen Subjektivität", die lyrischen Positionen, die hier deutlich werden, vereinen ein starkes Form- und Traditionsbewusstsein mit unvoreingenommenem Bekenntnis zum "poetischen Gefühl". Wie sehr auch in Zukunft die individuellen Wege auseinander streben mögen, diese Ansätze scheinen davor gefeit zu sein, zur Germanisten- oder Schreibtischpoesie zu verkommen. Deutsche Lyrik im neuen Jahrtausend, man darf darauf gespannt sein!
Bücher der Autoren:
Crauss, Berlin Neun Neun/ CraussStreichungen, HAND Verlag: Siegen
Crauss, Ein scharfes Bild, HAND Verlag: Siegen
Crauss, Crausstrophobie, Lyrikedition 2000, BoD-Verlag bei Book&Medi@: München 2001
Adrian Kasnitz, Lippenbekenntnisse, parasitenpresse*: Köln 2000
Adrian Kasnitz, Reichstag bei Regen, Lyrikedition 2000 BoD-Verlag bei Book&Medi@: München (erscheint im August 2002)
Björn Kuhligk, Am Ende kommen Touristen, parasitenpresse*: Köln 2000
Björn Kuhligk, Draußen fällt ein Vogel, Cottbus 2000
Björn Kuhligk, Es gibt keine Küstenstraßen, Lyrik Edition 2000, BoD-Verlag bei Book&Medi@: München 2001
Björn Kuhligk, Am Ende kommen Touristen, Berlin Verlag: Berlin 2002
Tom Schulz, Trauer über Tunis, parasitenpresse*: Köln 2002
Jan Wagner, Probebohrung im Himmel, Berlin Verlag: Berlin 2002
*erhältlich bei Wassiliki Knithaki, Marienstr. 39, 50825 Köln