Archiv


Überleben im Chaos

Für Besucher aus dem Westen ist Indien oft Paradies und Hölle zugleich: Es ist ein Anschlag auf alle Sinne, eine Welt voller Wunder und Schrecken. Genau das beschreibt Suketu Mehta in seinem neuen Buch über die indischste aller Städte, über Bombay. Sein Buch ist ein spannendes Porträt der indischen Megametropole. Mehta schildert auf mehr als 700 Seiten die Kunst des Überlebens inmitten des Chaos. Er begleitet Landflüchtlinge und Straßenkinder, Gangster und Polizisten, Filmstars und Transvestiten, Diamantenhändler und Erlösungssuchende. Ein urbaner Moloch zwischen Moderne und Archaik.

Von Christian Brüser |
    Bandenchefs, Bartänzerinnen und Huren, Auftragskiller - zweieinhalb Jahre verbringt Suketu Mehta in Bombay, um die verschiedensten Menschen in ihrem Alltag zu begleiten. Am stärksten zieht es ihn in die Unterwelt.

    " Ich war fasziniert von extremen Leuten in einer extremen Stadt. Von den Gangstern, Einbrechern und Filmstars. Normalerweise habe ich keinen Zugang zu diesen Menschen. In Bombay konnte ich diese außergewöhnlichen Persönlichkeiten beobachten, und ich konnte austesten, wie weit ich gehen konnte, wenn ich lebend zurückkehren wollte. "

    Die Faszination von Suketu Mehtas Buch über Bombay besteht darin, dass er den schillernden Persönlichkeiten in den riesigen Slums, in den Bars, auf Polizeirevieren und in den Filmstudios von Bollywood ungewohnt nahekommt. So nahe, dass man das Gefühl hat, man könne ihre Poren sehen, den Duft ihrer Parfums oder ihren Schweiß riechen. Die Nähe, die Suketu Mehta zu den porträtierten Persönlichkeiten herstellt und die Abgründe, in die er den Leser dabei schauen lässt, machen sein Buch wertvoll und einzigartig. Selbst den Lesern in Bombay, die mit den Hindu-Fundamentalisten, den Slumbewohnern und den vielen gewaltbereiten jungen Menschen Seite an Seite leben, die mit ihnen Tag für Tag in den überfüllten Vorortzügen Bombays fahren, selbst ihnen bietet Suketu Mehta neue Zugänge zu ihrer Stadt. "Uns umgibt eine Welt, von der wir überhaupt nichts wissen," sagt eine Bombayer Filmkritikerin zu Suketu Mehta, nachdem sie gemeinsam mit ihm einige Stunden im Büro eines Polizeichefs verbracht und bei Vernehmungen zugesehen hat.

    Ganz plötzlich wird ihr bewusst, dass es nur fünf Minuten entfernt von ihrem schönen Haus voller grüner Pflanzen einen unterirdischen Strom der mörderischen Gewalt gibt, einen tiefen Fluss des Schmerzes, an dessen Ufer sie lebt.

    Bombay ist ein Moloch. Gleichzeitig gibt diese Stadt einen Vorgeschmack auf Entwicklungen, die sich in den kommenden Jahren auch in anderen asiatischen Riesenstädten abspielen werden.

    Der Großraum Bombay ist mit gegenwärtig rund neunzehn Millionen Einwohnern bevölkerungsreicher als einhundertdreiundsiebzig Staaten der Erde. In Singapur leben 6.500 Menschen auf einem Quadratkilometer, in der Inselstadt Bombay dagegen 29.000. In einigen Stadtteilen im Zentrum drängen sich gar 400.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Das ist die höchste auf der Welt registrierte Wohndichte.


    Jeden Tag kommen 500 Menschen hinzu. Sie fliehen vor der Armut in den Dörfern oder träumen davon, Filmstar zu werden. Häufig endet ihre Suche nach Arbeit im Elend. Der Polizist Ajay Lal berichtet Suketu Mehta von einem jungen Mann, der auf einer Müllkippe hauste und, da der Monsun bevorstand, eine Plastikplane für seine Hütte suchte. Das Angebot, einen Ehemann aus dem Weg zu schaffen, der seiner Frau und ihrem Geliebten ihm Weg stand, nahm er ohne Zögern an.

    Ajay fragte den Jungen, wieviel Geld er für diese Arbeit erhalten habe: für die Ermordung des Mannes, den Transport des Leichnams, seine Zerstückelung und die Suche nach geeigneten Plätzen, wo er den blutigen Kopf, den Rumpf und die Gliedmaßen verstecken konnte.
    "Fünfzig" antwortete der Junge.
    "Fünfzigtausend?"
    "Nein. Fünfzig Rupien."


    Fünfzig Rupien sind weniger als ein Euro. In einem guten Bombayer Hotel bekommt man dafür nicht einmal eine Tasse Tee. Etwa ein Jahr dauert es, bis Suketu Mehta Kontakt zu den Auftragskillern der wichtigsten indischen Banden herstellt und soviel Vertrauen gewinnt, dass sie sich mit ihm in Hotelzimmern treffen, um ihm ausführlich über ihre Arbeit und später auch über ihr Leben zu erzählen.

    " Ob ich Angst hatte? Oh, ja. Viele Male, wenn ich sie traf, fürchtete ich um mein Leben. Jeder Tag kann ihnen einen Mordauftrag bringen. Das ist ihr Job. Sie hätten mich leicht in diesem Hotelzimmer umbringen können. Ich hatte nichts, um mich zu verteidigen. Sie hätten mich töten können, ohne irgendeine Strafe befürchten zu müssen. Gleichzeitig wusste ich, dass sie keinen speziellen Grund hatten, mich zu töten. Ich hatte ihnen von Anfang an gesagt, dass sie meinen Laptop oder mein Geld jederzeit nehmen könnten, dass ich machtlos war. Diese Verteilung der Macht musste von Anfang an für sie klargestellt werden. "

    Die Killer verarbeiten ihre Arbeit ganz unterschiedlich. Manche trinken hinterher. Manche bekiffen sich. Manche feiern in einer Tanzbar. Wenn Satish jemanden ermordet hat, isst er streng vegetarisch. Er ist Abstinenzler und Nichtraucher und nimmt keine Drogen. Er geht schnurstracks nach Hause, nimmt ein Bad, betet vor dem Bild des Affengottes Hanuman und nimmt ein "gewaltloses Mahl" zu sich. Er isst nicht einmal Eier. Nach dem Mordmahl schläft er lange und tief.

    " Einmal hat einer der Killer mit einer geladenen Pistole vor mir herumgespielt. Er hat mich angesehen und gefragt: "Hast du Angst vorm Sterben?" Ich sagte: "Ich habe in meinem Leben so viele Sünden begangen, dass ich im nächsten Leben als Ameise wiedergeboren werde, wenn du mich jetzt erschießt!" Er hat gelacht und die Pistole beiseite gelegt. Es war berauschend. Jedes Mal, wenn ich das Zimmer verließ, war ich froh, am Leben zu sein. Ich fühlte mich lebendig, lebendiger als je zuvor. Ich habe nie tiefgründiger über den Tod gesprochen, als mit diesen Menschen in Bombay. Die Gangster sprachen mit äußerster Ernsthaftigkeit über Gott und über den Tod, denn jeder Tag konnte ihr letzter sein. Nach den Treffen mit den Auftragskillern funktionierte ich tagelang nicht richtig. "

    Niemand außer Suketu Mehta hätte dieses Buch schreiben können, denn er ist Einheimischer und Fremder zugleich. Er hat seine Kindheit in Bombay verbracht und zog mit seinen Eltern in die USA, als er 14 war. Ihm ist Bombay fremd genug, um vieles, was für die Bewohner zur Normalität geworden ist, zu hinterfragen. Seine Neugier, die entlegensten Winkel der Stadt und der Seelen ihrer Bewohner zu durchstreifen, ist noch nicht im alltäglichen Überlebenskampf, in der unentrinnbaren Enge und in der Schwüle des Monsuns verdampft. Suketu Mehta kann mit den Killern im Bombayer Hindi sprechen, mit den Zuwanderern auf Gujarati und auf Englisch mit Diamantenhändlern oder den Bollywood-Regisseuren in ihren Luxusvillen am Meer. Seine Gesprächspartner gewähren ihm tiefe Einblicke in ihr Leben, denn sie wissen, dass er nicht lange genug bleiben wird, um das Vertrauen irgendwann zu missbrauchen. Doch Suketu Mehta bleibt lange genug für intensive Begegnungen. In einer der Tanzbars, in welchen vollständig bekleidete Frauen zu den neuesten Hindi-Film-Songs tanzen, begegnet er Monalisa.

    " Sie ist eine extrem verführerische junge Frau, das schönste Bargirl in Bombay. Sie verdiente mehr als alle anderen und hatte fünfmal versucht, sich das Leben zu nehmen, bevor sie 21 war. Ich war fasziniert von so viel Tragik in jemandem, der so schön ist. Ich begann, mit ihr zu reden, und wir wurden die besten Freunde. Viele dachten, unsere Beziehung sei sexuell geworden, doch dadurch hätte sich unsere Beziehung vollständig geändert. Ich wäre nur ein weiterer Kunde für sie geworden. Die größere Intimität war die ihrer Geschichte, ihres Lebens. "

    Meisterhaft gelingt es Suketu Mehta, den Leser die unkontrollierbare Dynamik dieser Megastadt spüren zu lassen, ihr unbarmherziges Chaos. Gleichzeitig nimmt er immer wieder einzelne Personen in den Blick, wie bei einem Film, wenn die Kamera plötzlich scharf auf die Heldin eingestellt wird, die inmitten einer Menschenmenge durch die Straßen geht. Das Geheimnis seiner Porträts liegt darin, dass sie stets viele Schattierungen einer Person sichtbar. Shahrukh Khan zum Beispiel ist nicht nur der größte Star des derzeitigen indischen Kinos, er ist auch ein netter Typ, der sich nicht zu schade ist, im Haus seiner Freunde Tee zu kochen. Und der kaltblütige Auftragskiller fürchtet sich, alleine in einem dunklen Zimmer zu schlafen. Mit den kunstvoll verwobenen Reportagen, Essays und persönlichen Erinnerungen hat Suketu Mehta die passende Form für seine rauschhafte Begegnung mit Bombay gefunden. Suketu Mehta führt den Leser durch ein Bombay, das man ohne dieses Buch nie betreten könnte.

    Suketu Mehta: Bombay. Maximum City
    Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2006.
    782 Seiten. 26,80 Euro.