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Überlebende im Auschwitz-Prozess
"Verzeihen können wir nicht!"

Beim Prozess gegen SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg sind auch Auschwitz-Überlebende als Zeugen der Anklage geladen. Im Gerichtssaal treten sie dem Mann gegenüber, der für den Tod vieler ihrer Familienmitglieder mit verantwortlich sein soll - und den hunderttausender weiterer Opfer.

Von Alexander Budde | 28.04.2015
    Im Ratssaal von Uelzen dröhnt beklommene Stille aus dem dicht gedrängten Publikum. Eva Pusztai-Fahidi ist aus Budapest gekommen, um Klage zu führen. Für sich, die Überlebenden, für all die Namenlosen.
    "Mein Zug ist angekommen in der Morgendämmerung. Die Hunde haben draußen gebellt und man hat gebrüllt. Ich weiß nicht, wie mein Vater verschwunden ist. Ich habe keine Ahnung, was war das letzte Wort was ich ihm gesagt hab."
    Die 89-Jährige mit dem schlohweißen Haar blickt in junge Gesichter. Ihre Worte, ihre Gesten strahlen Würde aus. Auf der Rampe von Auschwitz war es eine Handbewegung von Lagerarzt Mengele, die über Leben und Tod entschied.
    "Die größte Tragödie meines Lebens ist mir so zugekommen, dass ich überhaupt nichts darüber gewusst habe, was mit mir passiert ist. Dass ich alles verloren habe, meine ganze Familie. Bei dieser kleinen Gebärde. Damals wusste ich auch das nicht, dass ich 49 Familienmitglieder im Holocaust verlieren werde. Alle Auschwitz Überlebende müssen etwas im Leben mit diesem Trauma anfangen. Ich sage immer, wir die auf der Rampe zum Leben verurteilt wurden: Auf einmal sind wir dagestanden, kahl geschoren, splitternackt."
    Auf die Stirnseite hinter dem Rednerpult haben sie an diesem Abend ein Foto projiziert. Es zeigt im Mai 1944 die Ankunft ungarischer Juden in der Todesfabrik. Auf der Rampe neben den Viehwaggons, das aufgestapelte Gepäck der Todgeweihten. Oskar Gröning ist in Lüneburg der Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Menschen angeklagt. Er hat die Einheit befehligt, die das Raubgut bewachte, die in Mänteln, Schuhen, Koffern nach verborgenem Schmuck, nach kostbaren Devisen suchte. Ein kleines Rädchen nur, im Getriebe der Todesfabrik?
    Handschlag als Zeichen der Versöhnung
    Auch Hedy Bohm wird heute im Zeugenstand gegen den 93-jährigen SS-Mann aussagen. 27 Verhandlungstage hat die Kammer insgesamt für das Verfahren angesetzt. Hedy Bohm sitzt Gröning seit Tagen gegenüber, sie hört den Greis im Jargon der Nazis von „Versorgung" sprechen. Und weiß, was er tatsächlich meint. Ihre ganze Familie hat sie binnen Minuten im Gas verloren.
    "Es ist schwer, sich das anzuhören. Ich sehe einen Mann, der seine Schuld nicht in Gänze ertragen kann. Der sich herausredet, wo es um seine Taten geht und die des Systems. Ich habe ihn nicht sagen hören: Es tut mir leid. Ich trage Schuld. Aber wir haben so lange gewartet. Und in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht ausmalen können, einem Wachmann der SS entgegen zu treten, der auf der Rampe gewesen sein könnte, als meine Familie dort ankam. Dass er der Angeklagte und ich die Zeugin bin. Ich bin so dankbar, hier zu sein!"
    Eva Kor hat in den Fängen Mengeles grausame Experimente durchlitten. 70 Jahre später reicht die Überlebende dem SS-Schergen Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung. In der ARD-Sendung Günther Jauch lässt sie Zweifel am Nutzen einer juristischen Aufarbeitung der Mordtaten anklingen. Eva Fahidi, Hedy Bohm und die allermeisten Nebenkläger haben das mediale Ereignis mit Befremden aufgenommen. Im Prozess, sagt die streitbare Überlebende Bohm, geht es doch um industriell organisiertes Massentöten.
    "Diese Dame hat es über sich gebracht. Ich wäre dazu nicht im Stande. Vielleicht könnte ich ja meinen Frieden mit ihm machen. Aber ich habe nicht das Gefühl, das Recht zu haben, die Ermordung meiner Mutter, meines Vaters, der kleinen Cousinen, der Tanten und Onkel, meiner Klassenkameraden zu verzeihen. Wer bin ich denn? So viele können nicht mehr für sich selber sprechen. Ich hoffe, ich werde vor Gericht die rechten Worte finden."
    Am Ende eines langen Abends drängen sie heran. Hedy Bohm mit jungen Leuten ins Gespräch vertieft. Eva Pusztai-Fahidi signiert ihr Buch. "Die Seele der Dinge" beschreibt den Untergang ihrer Familie. Leben, um davon zu erzählen. Die beiden tun es oft gemeinsam, vor Schulklassen, in Ratssälen und - wenn die Zeit reif ist - auch vor den Schranken des Gerichts:
    "Wir wollen nicht hassen, einfach aus diesem Grund, weil wir unsere Seele nicht mit dem Hass beflecken wollen. Wir haben die Auseinandersetzung entdeckt! Aber verzeihen können wir nicht! Und wollen wir nicht!"