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Übermalungen

Bei alledem quälte mich monatelang die Angst, daß Pentimenti auftreten könnten, diese gespenstischen Wiedergänger von Linien und Formen, die der Künstler in einem früheren Stadium der Arbeit gemalt und später übermalt hat, um sie für immer zu tilgen. Irgendwann, so fürchtete ich, würden sie an die Oberfläche meiner Bilder kommen wie Wasserleichen, aufgedunsen und obszön, gleichgültig wie viele Schichten Zinkweiß, Titanweiß und Bleiweiß ich auch auftrug."

Tanya Lieske |
    Der amerikanische Maler Austin Fraser ist in seinem Leben über Leichen gegangen. Nun ist er alt und glaubt, daß er sich vor Pentimenti fürchtet, vor den Schatten in seiner Kunst. Eigentlich aber fürchtet Fraser sich vor den Schatten seiner Erinnerung. Er hat sein Modell Sara 15 Jahre lang gemalt und sie dann sitzen lassen. Er hat seinen besten Freund George und dessen Freundin Augusta in den Tod getrieben. Für Fraser kam das Leben immer erst weit hinter der Kunst. Er verkörpert den Typ des intellektuellen Ästheten, für den alles erlaubt ist, wenn es nur seinem Werk dient. "Manchmal habe ich mich über ihn geärgert", sagt Jane Urquhart. "Aber ich war überrascht und auch schockiert, wie leicht es mir gefallen ist, aus seiner Sicht zu schreiben, mit seiner Stimme. Es war überhaupt nicht schwierig, seinen Ton zu halten. Und ich dachte: O je, was bedeutet das? Heißt das, daß irgendwo in mir ein distanzierter und kalter Typ wie Austin Fraser lauert? Das muß wohl so sein. Er ist wohl meine Schattenseite, wie Jung gesagt hätte."

    Die kanadische Autorin Jane Urquhart hat mit ihrem Roman "Übermalungen" großen Erfolg gehabt. Lange Zeit stand er auf den Bestsellerlisten in Kanada, und gerade wurde Jane Urquhart mit dem höchsten Literaturpreis des Landes, dem Governor's General Award, ausgezeichnet. Der beherrschte, kühle Ton des Romanes hat sicher zu seinem Erfolg beigetragen. Denn Urquhart behandelt schwere Themen, die ohne solche Kontrolle schnell zum Schwulst geraten könnten. Es geht um Freundschaft und Liebe, und um deren Kehrseite, den Verlust und die Schuld. Austin Fraser malt realistische Szenen seines Lebens und deckt sie dann mit weißer Farbe zu. Die "Übermalungen" sind sein Versuch, sich zu reinigen und zu vergessen. Fraser sucht am Ende seines Lebens nach dem, was ihn so gemacht hat, wie er ist. Die Autorin, Jane Urquhart, ist noch einen Schritt weiter gegangen. Sie fragt nach der Identität ihres Landes. Austin Fraser, erklärt sie, ist ein Amerikaner, weil sie seinen distanzierten Blick auf Kanada haben wollte. Zwei weitere Figuren des Romanes, George und Augusta, haben den Ersten Weltkrieg in Europa erlebt. Jane Urquhart dazu: "Die jungen Leute kamen total verändert aus dem Krieg nach Kanada zurück. Sie konnten sich mit dem Land, so wie sie es vorfanden, nicht mehr identifizieren, denn die älteren Leute hatten den Krieg nicht erlebt. Vor allem hatte sich nichts im Land verändert. In Europa konnte man wenigstes Beweise dafür finden, daß der Krieg stattgefunden hatte, aber es muß merkwürdig gewesen sein, nach Kanada zurückzukommen, wenn man jahrelang im Schützengraben gehockt hat. Alle Felder, alle Häuser waren wie zuvor, nichts hatte sich verändert. Ich schreibe nicht von glücklichen Leuten, dies ist kein glückliches Buch. Dies ist das traurigste Buch, das ich je geschrieben habe."

    Zwei unglücklich liebende Paare kreuzen sich in dem Roman: Der Porzellanhändler George und seine Gefährtin Augusta, der Maler Austin und sein Modell Sara. Das Quartett lebt in einer prekären Balance des Schweigens, die durch Austin Fraser zerstört wird. Einmal mit Vorsatz, einmal aus Unachtsamkeit. Fraser entläßt Sara, als er glaubt, daß sie seiner Kunst genug gedient hat. George und Augusta treibt er in den Selbstmord, als er mit einer früheren Geliebten von George auftaucht. Auch George ist ein Künstler, allerdings einer für den Alltag. Er bemalt Porzellantassen und wird dafür von Austin Fraser belächelt. George stellt Gebrauchskunst her, Kunst, die sich den Funktionen des Lebens unterordnet:

    "Fast schon an der Tür angelangt, blieb er plötzlich stehen, nahm eine bemalte Teetasse aus einem Regal und hielt sie mir brüsk vors Gesicht. ‘Immerhin könnte ich daraus trinken’, sagte er. Ich konnte sehen, daß seine Hand immer noch zitterte. ‘Immerhin ist das etwas, was mir immer wieder neue Wärme spenden könnte. Kannst du das von irgendetwas behaupten, was du gemacht hast?’"

    Natürlich gibt es am Ende des Romans zerbrochenes Porzellan. Bevor George den Freitod wählt, zerschmettert er seinen kostbarsten Besitz: Eine Sammlung bemalter Figürchen, die seinem Freund Austin Fraser immer zu kitschig waren. Nun sitzt Fraser da, an seinem Lebensabend, und klebt Nippesfiguren. Das Bild ist so einfach wie einleuchtend. Jane Urquharts Roman besticht in jeder Hinsicht durch seine Unaufgeregtheit, durch den ruhigen Erzählton, durch Bilder und Themen, die immer wieder auftauchen, bis sie sich zu einem wohlproportionierten Ganzen fügen. Hinter allem liegt das Tableau der weiten kanadischen Landschaft mit ihren Wäldern und Seen. Die weiße Farbe der Übermalungen findet sich wieder in der vereisten Fläche des Lake Superior. Landschaft und Mensch tragen Trauer, als Austin Fraser sein Modell Sara zum letzten Mal sieht."Landschaft ist für mich eine Metapher, sie spiegelt den emotionalen Ton meiner Arbeit", erläutert Urquhart. "Der Roman ‘Sturmhöhe’ von Emily Bronte hat mich als Kind sehr fasziniert, da war ich gerade elf oder zwölf, und ich habe ihn seither immer wieder gelesen. Landschaft ist ein zentraler Charakter meines Romanes, und das bedeutet mir viel."

    Als Jane Urquhart "Übermalungen" schrieb, ist sie manchmal fürhmorgens um halb fünf aufgestanden, hat sich in ein Flugzeug gesetzt und ist zum Lake Superior im Nordosten Kanads geflogen. Dort hat sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht, und dort lebt auch Frasers Modell Sara. Jane Urquhart ist ganze Tage in der Wildnis geblieben, um sich genau an das bestimmte Licht zu erinnern, das zur Jahrhundertwende so viele Maler faszinierte. Bei einem solchen Streifzug fand sie das passende Bild für Saras ungezähmten Charakter. "Eine Sache ist mir passiert, die war sehr geheimnisvoll. Ein Fuchs ist gekommen und hat mich auf meiner Wanderung begleitet. Ich hatte kein Essen dabei, vielleicht hatte ihn das Essen interessiert, aber das hätte er schnell mitbekommen. Er ist den ganzen Tag mit mir gekommen, und wenn ich mich auf einen Stein gesetzt habe um Notizen zu machen, hat er sich hingelegt, die Pfoten überkreuz, das war sehr erstaunlich. Dann sind wir wieder weitergelaufen, er trottete neben mir her, er ist mir gefolgt bis zum Parkplatz. Ich habe Fotos von ihm gemacht, dann kam ein anderes Auto, und er ist im Wald verschwunden. Ich wußte einfach, dieser Fuchs mußte in meinem Buch vorkommen."

    Jane Urquhart ist eine Autorin, die präzise recherchiert. Ihr Mann, der kanadische Maler Tony Urquhart, mußte ihr eine Übermalung anfertigen, damit sie sicher sein konnte, daß diese Technik wirklich funktioniert. Andererseits ist Urquharts Schreiben für Zufälle offen, für das, was auf sie zukommt. So gelangte der Fuchs an Saras Seite. George und Augustas Stimmen wiederum hat sie einem Bündel Briefe entnommen, die an ihrer Türschwelle abgeliefert wurden. "Meine Kusine Amy Quinn, der ich den Roman gewidmet habe, hat ein Paket mit Briefen gefunden von einer jungen Frau, die im Ersten Weltkrieg Krankenschwester war, an ihren Geliebten, der eine Porzellanhandlung in einer kleinen Stadt am Ufer des Lake Ontario besaß. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Ein Brief kam aus Übersee, die anderen aus Toronto. Sie haben mich sehr bewegt, sie waren so einfach, aber es war klar, daß ihre Beziehung sehr unglücklich war."

    Die Autorin Jane Urquhart geht einen Weg, der dem des Malers Austin Fraser entgegengesetzt ist. Sie öffnet ihre Kunst dem Leben. So steht auch in diesem Roman die Bildende Kunst als Synonym für die Bedingungen des Schreibens. "Was soll Kunst bewirken, nicht nur die mildende Kunst? Als ich das Buch fertig geschrieben hatte, dachte ich, Kunst soll sich mitteilen, nicht exklusiv sein und elitär, so daß sie das Publikum ausschließt. Sie soll das Leben bejahen. Das bedeutet nicht, daß sie niedlich sein muß, daß sie leichte Themen behandeln muß. Nur, sie sollte der Menschheit den Zugang nicht verwehren. Bevor ich dieses Buch geschrieben habe, fand ich, daß alles erlaubt war. Kunst war das wichtigste auf der Welt, alles durfte ihr geopfert werden, Beziehungen, Heimat, Landschaft, was immer für die große Kunst nötig war. Dann, als ich mit dem Buch fertig war, habe ich erkannt, daß Kunst auf Kosten des Lebens eine Kunst ist auf Kosten der Kunst."