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Überraschende Fundstücke

Joachim Kalka bewegt sich in acht Essays äußerst elegant und sprachgewandt in den Sphären der Verwandlung, des Unbestimmten, des Zwielichten, aber auch des Gewöhnlichen und Alltäglichen und gewinnt denen überraschende Einsichten ab.

Von Angela Gutzeit | 07.11.2012
    Der Titel von Joachim Kalkas neuem Essayband täuscht Beliebigkeit vor. "Die Katze, der Regen, das Totenreich". Hinzu gesellen sich der Halbschlaf, der Rauchtabak, der Teufel, Gedanken über das Kismet, die Zauberei und den Slapstick. Der Autor nimmt die Haltung eines Flaneurs ein, der Dinge aufliest, die er am Wegesrand findet, und die in seiner Hand geheimnisvoll zu leuchten beginnen. Und um etwas Geheimnisvolles geht es in Kalkas "Ehrfurchtsnotizen". Darauf stimmt schon das erste Literaturzitat ein: "Die negative Fähigkeit - das heißt, wenn der Mensch fähig ist, sich im Ungewissen, Geheimnisvollen, Zweifelhaften zu befinden, ohne irritiert nach Tatsachen und Gründen zu haschen" - heisst es in John Keats "Brief an die Brüder" von 1817. Wenn bei anderen Autoren das Literaturzitat den Part eines einstimmenden Akzentes übernimmt, so wird es bei Kalka zum Strukturprinzip des "Essais". Zitate und Motive aus Werken der Weltliteratur und der bildenden Kunst sowie aus berühmten Filmen haben hier ihren Platz - aber nicht, um mit ihnen den eigenen Text schlüssig zu runden, sondern um die Gedanken vielstimmig ins Offene zu führen.

    So umkreist Joachim Kalka im klassischen Essaystil die Figur des Teufels. Schon, dass er so viele Namen hat, ist irritierend: Beelzebub, Satan, Luzifer - und dann diese sich stetig wandelnde Gestalt! In Chamissos "Peter Schlemihl", so der Autor, tritt der Teufel als grauer Herr auf, der in einer Gesellschaft "die outriertsten Wünsche der Anwesenden erfüllt" - ohne dass sie etwas davon bemerken. Er taucht in der Literaturgeschichte immer wieder auf, als Bürokrat und Advokat, als Retter und Freund, als feiner Herr und als Dandy. Geschmeidig sich wandelnd treibt er in unzähligen Geschichten sein "Spiel mit der Logik unseres Wünschens". Seine Verschlagenheit ist lediglich der Spiegel, in dem - wir ahnen es, aber wollen es nicht wahrhaben - die Bosheit des menschlichen Herzens sichtbar wird.

    Der eminent belesene Essayist Joachim Kalka bewegt sich äußerst elegant und sprachgewandt in diesen Sphären der Verwandlung, des Unbestimmten, des Zwielichten, aber auch des Gewöhnlichen und Alltäglichen, denen er überraschende Einsichten abgewinnt. So sieht er im Zustand des Halbschlafes, der in Kafkas "Verwandlung", in Prousts "Recherche", in Gedichten von Karl Kraus und ganz besonders in Gustav Meyerinks Halbschlaffantasie "Golem" eine bedeutende Rolle spielt, einen Ort, an dem die "zerstreute Erkenntnis" wohnt, ein Zwischenreich der schroffen Montage, das auf subversive Weise Wachheit und Traum aneinander reibt.

    Der vielleicht schönte Text in diesem Band ist der über den Rauchtabak. Schon die Wortwahl ist wunderbar: Rauchtabak! Es evoziert das Bild der aufsteigenden Rauchschwaden aus einer Pfeife oder Zigarette, denen der Autor in seinem Essay im Augenblick ihres historischen Niedergangs ein Denkmal setzt. Dabei interessiert sich Kalka nicht so sehr für den Verzicht auf einen gewiss schädlichen Genuss, sondern für das Verschwinden einer Gebärde. Das Rauchen, es steht in enger Beziehung zum Studium, zur Konzentration, zum Gespräch. Aber vor allen Dingen hat der Akt des Rauchens eine eigene Zeichensprache hervorgebracht, die zum Beispiel wortlos Spannungsmomente in Kriminalfilmen zum Ausdruck bringt. Sie signalisiert, an welchem Punkt der Aufklärung sich Sherlock Holmes gerade befindet oder welcher Gemütszustand Joseph Cotten am Ende des Films "Der dritte Mann" bewegt, wenn er sich wartend - und natürlich rauchend - auf der Landstraße an ein Auto lehnt, während die begehrte Frau wortlos an ihm vorübergeht. Kalka bezeichnet das sich abzeichnende Fehlen dieser Gestik als Verlust einer Weltsprache, die die Kunst um ein Gebärdenrepertoire ärmer macht.

    Man kann die Motive und Themen in Joachim Kalkas Essays sicherlich nicht unter ein Motto zusammen zwingen. Dazu sind sie zu disparat - das Rauchen, der Regen, das Phantasma des Kismet, unserer Vorstellung von der orientalischen Schicksalsergebenheit. Dazu gesellen sich die unbeugsame Katze, die Weisheit des Slapsticks, in dem die Dinge sich gegen die Menschen wenden, und die widergängerischen Gespenster, "die etwas wissen, was wir nicht wissen". Kalkas überraschende Fundstücke sperren sich geradezu gegen eine nahtlos verbindende Interpretation. Und doch sind sie in einem höheren Sinne nicht beliebig. Alle Sujets entziehen sich der Eindeutigkeit, sind oft irgendwo im Ungefähren angesiedelt, aber sie werfen alle im Augenblick ihres Aufleuchtens, wenn sich im Essay Zitate und Autortext aufs Glücklichste fügen, ein intensives, manchmal unheimliches Licht zurück auf unsere Existenz. Vielleicht kann man sagen: Joachim Kalkas Betrachtungen geben Einblick in das menschliche Verlangen nach Beherrschbarkeit aller Dinge und nach Verdrängung von Unzulänglichkeit und Schuld. - Ein großer Lesegenuss!

    Joachim Kalka: Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen
    Berenberg Verlag, Berlin
    142 Seiten, 20 Euro.