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Überseezungen

"Überseezungen" in einem Wort. Der Titel von Yoko Tawadas Buch ist ein Ineinandergleiten von Wörtern und Bedeutungen. Handelt es von schmackhaften Fischen oder von der Zunge aus Übersee? Letzteres wohl mehr als Ersteres, doch dem Kern des Buches nähert man sich am besten, wenn man den Titel schnell liest: Übersetzungen. Für Yoko Tawada ist das ein Prozess, der nicht nur zwischen Sprachen stattfindet. Jede Handlung, jede Geste erfördert Übersetzungen, und natürlich ist auch die Verwandlung von Schrift in Sprache eine Form der Übersetzung:

Joachim Büthe | 23.09.2002
    Wenn man ein Buch liest oder laut vorliest, muss man ja diese Buchstaben in die Laute übersetzten. Um das schnell und gut machen zu können, muss man diese Formen verdrängen. Sie sollten dann gar nicht mehr da sein, sondern sie sollten sich gänzlich in den Klang verwandeln. Aber das tun sie nicht. Es gibt bei der Übersetzung immer diese Reste oder mehr als die Reste, die nicht aufgegangen sind, die immer noch da sind. Wie sinnlose Gegenstände, die da herumliegen, die keine Funktion, keine Bedeutung mehr haben, aber doch sehr wichtig sind, sehr körperlich auch, denn sie machen ja die Sprache aus.

    Der Buchstabe 0 gleicht der Form unseres Mundes, wenn wir ihn aussprechen. Andere Schriftzeichen sind nicht so direkt mit ihrem Klang verbunden, und zusammen formen sie ein Muster, ein Bild, das nicht im Klang aufgeht. Es ist unmöglich, das Schriftbild ohne Verlust zu übersetzen. Aber gerade das macht diesen universellen Prozess so reizvoll.

    Wenn man ein Gefühl hat oder man hat das Gefühl, dass man ein Gefühl hat, und man möchte etwas sagen, dann ist es auch eine Form der Übersetzung. Es gibt ein Gefühl, und das möchte man jetzt in eine Sprache oder ein Wort übersetzen. Und das kann man natürlich nicht, weil ein Gefühl besteht ja nicht aus einem Wort oder Lauten oder Buchstaben, sondern das ist etwas ganz anderes. Also: man kann nicht übersetzen, eigentlich gar nicht. Und selbst, wenn man versucht, es zu tun, so gut wie man es kann, bleibt ganz viel übrig. Das ist die Unmöglichkeit der Übersetzung. Aber gerade deshalb sprechen wir ja auch. Das ist die Voraussetzung, warum wir was sagen. In dem Moment, wo wir was sagen, bleibt dieses Gefühl unartikuliert zurück. Das ist der Rest, der da bleibt. Aber die Sprache, die durch diesen Impuls entstanden ist, sie hat Kraft. Sie hat wieder ein eigenständiges Gefühl und Ausdruckskraft.

    Wenn es einfach wäre zu verstehen, dann müssten wir nicht reden. Und wenn es nicht diese Reste gäbe, denen wir uns annähern können, die aber unartikuliert bleiben müssen, dann gäbe es keine Poesie. So einfach ist das. Es wird viel gereist in diesem Buch, zwischen den Kontinenten, über die Meere, aber die eigentlichen Reisen finden auf der Zunge statt.

    Es gibt nichts Bewegungsloseres als Sitzen im Flugzeug. Aber in dem Moment, in dem ich eine andere Sprache spreche, im Flugzeug wird man ja z.B. von jemandem plötzlich angesprochen in irgendeiner Sprache, und man versucht dann zu antworten und spricht eine andere Sprache. Dann merkt man sofort, vom Körperinneren, erst mal von der Zunge, die versucht, diese fremden Laute auszusprechen, wie eine Verwandlung, eine Veränderung stattfindet. Um eine Sprache zu sprechen, muss man ja auch Muskeln im Gesicht ganz anders bewegen, als wenn man andere Sprachen spricht. Und das ist für mich eigentlich die Reise.

    Dieser Form des Reisens entspricht ein körperliches Verhältnis zur Sprache. Sie dringt durch die Ohren ein und wird durch den Mund wieder entlassen. Sich die Worte auf der Zunge zergehen lassen, sich die Sprache einverleiben.

    Meine Erfahrung, meine erste Erfahrung mit der Fremdsprache, richtige Erfahrung, nicht diese durch Bücher, sondern körperliche Erfahrung, ist, dass ich nach Deutschland kam, und dann musste ich plötzlich von morgens bis abends nur Deutsch sprechen. Dann habe ich bemerkt, dass ich gar keine richtige Distanz mehr zu der Sprache behalten kann. Und das fand ich dann ganz seltsam, so etwas Fremdes, ausgerechnet etwas so Fremdes aus dem eigenen Körper heraus produzieren zu müssen. Das war am Anfang fast zuviel, das war wie ein Angriff der Sprache. Es ist nicht nur, dass ich eine Sprache esse, sondern man wird auch von der Sprache gegessen.

    Man wird auch examiniert, wenn man sich zwischen Sprachen bewegt, die so verschieden sind. Etwas muss doch das Eigene sein, die sogenannte Identität, die Heimat, die erdverbundene, die den Schwebezustand nicht kennt. Und ausgerechnet im Traum soll sie zu finden sein? In welcher Sprache träumen Sie? wird Yoko Tawada oft gefragt. Sie hat auch darauf eine kompliziert einfache Antwort.

    Die Traumsprache ist ja immer verschoben, irgendwie. Es gibt ja keine direkte Logik, sondern nur Nachahmung der Logik, Nachahmung des Rhythmus der Logik. Viele Geschichten im Traum sehen plausibel aus, aber sie sind gar nicht logisch oder sie haben Überzeugungskraft und sind dennoch absurd. Und daher sind sie schon immer verspielt und auch verschoben. Das ist nie die Original spräche, also schon übersetzte Sprache. Und durch diese Verschiebung kann ja auch eine Sprache zu einer anderen werden. Wenn ich auf deutsch träume, dann ist meine Sprache sowieso etwas verschoben, so wie Holländisch, dachte ich mir. Wenn ich Holländisch höre... Man kann etwas verstehen und doch wieder nicht. Also es ist ein bisschen verschoben, wie im Traum. Also Holländisch wäre ein bisschen geographisch verschoben und was wäre, wenn man das ein bisschen auch zeitlich verschieben würde, das wäre ja Afrikaans. Das ist nicht ganz richtig, Afrikaans gibt es ja heute noch, aber es wirkt wie altmodisches holländisch.

    Und so findet unter der Hand eine vom Aussterben bedrohte Sprache Unterschlupf in den Träumen einer polyglotten, in Deutschland lebenden, Japanerin, zumindest im Text. Die Ironie dieses Vorgangs ist Yoko Tawada sicher nicht entgangen, aber vielleicht gefällt ihr auch dieser konservierende Impuls. Denn mit jeder Sprache, die verschwindet, geht der Welt eine Klangfarbe verloren. Überseeohren hätte das Buch auch heißen können:

    Ich höre z.B. auch sehr gerne Sprachen zu, die ich nicht verstehe, wo die Bedeutung gar nicht anwesend ist. Oder ich kann auch mir bekannten Sprachen so zuhören, dass ich nicht unbedingt an die Bedeutung denke, sondern nur an den Klang. Und dann ist es ein Teil der Geräusche, es ist erst mal als Klang da, Geräusch, Töne. Ich würde aber nicht sagen, dass sie nichts bedeuten, also bedeutungslos sind, sondern sie vermitteln schon etwas. Eine Sprache, die ich nicht verstehe, sagt mir was. Ich kann nur nicht so schnell sagen, was das ist. So wie Musik, sie vermittelt immer was. Die Sprache, die man versteht, hat auch immer diese Ebene. Sie geht nie weg.

    Einer der schönsten Texte das Buches trägt den Titel Portrait einer Zunge. Es ist das akustische Bild einer Person, zusammengesetzt aus ihren Redeweisen, einer Person, die sich gleichfalls zwischen Sprachen bewegt. Eingebettet ist es in die Sprachen und Klänge des Campus einer amerikanischen Universität. Wie alle Texte des Buches changiert es zwischen Erzählung und Essay. Und vielleicht ist die Zumutung, sich zwischen den Gattungen zu entscheiden, ebenso unproduktiv wie die Entscheidung zwischen den Sprachen. Yoko Tawada, Schriftstellerin und Übersetzerin. Für sie ist es ohnehin dasselbe.

    Mir kommt es manchmal sogar so vor, als gäbe es gar nichts Festes, aber indem ich übersetze entsteht plötzlich das, was man als Original bezeichnen kann und was ich als Übersetzung, als Endprodukt bezeichnen kann. Beide Seiten, das Original und die Übersetzung entstehen in der Bewegung der Übersetzung selbst.