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Übersetzen: Walter Benjamin

Walter Benjamin hat seine sprachtheoretischen Überlegungen in verschiedenen Aufsätzen formuliert. Auch das Übersetzen hat ihn, der mit Übertragungen von Charles Baudelaire und Marcel Proust befaßt war, stark beschäftigt. Ihm zufolge soll die Übersetzung den Resonanzraum der verschiedenen Sprachen mit nüchterner Sachlichkeit durchdringen, um den geschichtlichen Rang eines Originals zu wahren, in dem die geistige Wesensbestimmung der Sprache fortlebt. So folgt der ins Profane verschlagene Laientheologe Benjamin der Spur eines messianischen Versprechens. Die Grundannahme einer reinen Sprache zeitigt eine radikale Konsequenz: sie mutet dem Übersetzer die Erlösung aus dem babylonischen Sprachengewirr zu. Er arbeitet im Dienst einer Revision des Sündenfalls, der die auratischen und einzigartigen Namen durch die profanen und gleichgültigen Zeichen verdrängt hat. So ist das Übersetzen für Benjamin in den tiefsten Schichten des göttlichen Schöpfungsprozesses fundiert, wie er in seinem berühmten Aufsatz ‚Die Aufgabe des Übersetzers' von 1921 schreibt:

Khosrow Nosratian |
    Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers." (...) "Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht. Sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen.

    Der von Christiaan Hart Nibbrig in der edition suhrkamp herausgegebene Sammelband mit dem Titel ‚Übersetzen: Walter Benjamin' rückt der Sprachkonzeption Benjamins auf den Leib. Dabei wird Benjamins Verflechtung von historischem Materialismus und jüdischem Messianismus, von hochpolitischem Stilwillen und esoterischer Sprachmagie zu anregenden Thesen und verwegenen Texten ausgestaltet, die auch die Freude am intelligenten Sprachspiel nicht scheuen. Momentaufnahmen gleich wird der Forschungsstand sichtbar. Willem van Reijen hat die Lesarten auf eine griffige Programmformel gebracht:

    Lesen, was nie geschrieben wurde - zwischen den Zeilen lesen; Benjamins Denken dreht sich unentwegt um jenen ‚Indifferenzpunkt', der den Ort markiert, an dem die Logik der Extreme, das Paradox der Identität der Widersprüche und der antagonistischen Kräfte zum Tragen kommt. Man untersucht die frühromantischen Motive Benjamins, die auf Friedrich Schlegels Utopie einer progressiven Universalpoesie zurückgehen; man analysiert Benjamins Umschrift von Kants Grundsatz der Antizipation der Wahrnehmung in ein mit Intensitäten aufgeladenes Sprachkonzept. Im erfrischenden Gegenzug zu jener schweren Kost hat Irving Wohlfahrt Benjamins Dialektik der Verfremdung erläutert:

    Im Namen der reinen Sprache soll eine reinigende Gewalt den unreinen Sprachen widerfahren. Daraus ergibt sich eine Parallele zwischen der Arbeit des Übersetzers und dem Impuls moderner Künstler, eine ‚Verfremdung' der Alltagssprache zu erzeugen. Der Weg zu jenem inneren Sanktum, wo die Sprachen ‚einander nicht fremd' sind, führt über eine Verfremdung ihrer bestehenden Entfremdung.

    Das ist der Forschungstrend. Subtil und nuanciert studiert man die geheimen Affinitäten unter den Schlüsselwörtern in Benjamins verdichtetem Textkorpus. Denn es sind Schlüsselwörter, die es Benjamin erlauben, sprachkritische Ansichten auf gesellschaftspolitische Strategien umzulegen. Ein Beispiel für Benjamins Partisanentaktik: Wie der Übersetzer die ‚morschen Schranken' der eigenen Sprache niederreißen muß, so wird die revolutionäre Politik die Grenzpfähle des kapitalistischen Systems umstürzen. Damit hat Benjamin die Übersetzung der messianischen Energie in die materiellen Verhältnisse gesichert. Aber auch umgekehrt: So wird die Überproduktionskrise in Marxens politischer Ökonomie zur semantischen ‚Überbenennungskrise' bei Benjamin. Das hat Irving Wohlfahrt zu einer kritischen Anmerkung veranlasst:

    Der Übersetzer, der Benjamin vorschwebt, erscheint zuletzt als ein von jüdischen Engeln geretteter Hölderlin. Wonach er sich letztlich sehnt, ist, selber hinübergesetzt zu werden. Die Lösung seiner Aufgabe ist die Erlösung. Über-Setzung ist Meta-Physik.

    In diesem Zusammenhang verdient ein Beitrag gesonderte Erwähnung. Thomas Schestag legt eine Studie über den Status der ‚Lampe' bei Benjamin vor, die zwischen Hegel, Goethe und Hölderlin alle Register der kunstvollsten Entzifferung zieht. Auf vierzig Seiten entfaltet er eine ebenso geduldige wie gewaltsame Lektüre, die im Lichtkreis der Lampen-Metaphorik den Bergwald der Benjamischen Begrifflichkeit selbst ausleuchtet:

    Lesen trifft, aber setzt, was es trifft, auseinander. Geht, wie das Licht, zur Seite. Driftet ab: über das, was es trifft, hinaus.

    In solch enigmatischen Zeilen wird das Übersetzen zur Metaphysik. Doch eben jene Technik der Verfremdung, die Schestag als Musterschülert Benjamins perfektioniert hat, muß die Leselust der vielen Freunde des philosophischen Schriftstellers beflügeln. Ihnen vor allem wäre die eiligste Beschaffung des Buchs anzuraten. Denn, wie Benjamin in einem Brief an Buber aus dem Jahre 1916 formuliert:

    Nur die intensive Richtung der Worte in den Kern des innersten Verstummens hinein gelangt zur wahren Wirkung.