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Übertreibungen in Richtung Wahrheit

Wer heute eine Geschichte der Kulturkritik schreibt, wie der angesehene Siegener Germanist und Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck, weiß, dass er sich mit einem unbeliebten Gegenstand befasst. Die Kulturkritik hat keinen guten Ruf. Sie gilt als elitär, ja reaktionär, nicht bloß kulturkonservativ. Gegenwartsverdrossen spielt sie eine imaginäre Vergangenheit gegen ihre Zeit aus. Das Mindeste, mit dem sie droht, ist der immer mal wieder kurz bevorstehende Untergang des Abendlandes.

Von Ludger Lütkehaus | 27.02.2008
    Die ganze Richtung passt ihr nicht. Ressentimentgeladen rümpft sie gleichsam immer die Nase, nie ist sie gutgelaunt. Sigmund Freuds besonnene Analyse des "Unbehagens in der Kultur" überbietet sie allemal mit dem "Unbehagen an der Kultur". Am Ende bringt sie auch noch die ernstzunehmende Kritik in Verruf: Kulturkritik ist die unfreiwillige Parodie einer Kritikkultur, die diesen Namen verdiente.

    Aber hat sie nicht allzu oft Recht? Geht es denn ohne sie, ohne ihre "Übertreibungen in Richtung Wahrheit" - so der Kulturkritiker und Philosoph Günther Anders? Will man beispielsweise etwa bestreiten, dass wir im Zeitalter der kollektiven "Info-Demenz" leben, in der "das Kauen des Vorgekauten durch alle Mäuler geht", wie der Kulturkritiker Botho Strauss in seinem jüngsten "anschwellenden Bocksgesang", der "Bewusstseinsnovelle" "Die Unbeholfenen", mit der gebotenen Strenge behauptet?

    Bollenbeck, über die Fachgrenzen hinaus bekannt geworden durch sein Buch "Bildung und Kultur", attackiert Strauss in seiner sonst eher unpolemischen "Geschichte der Kulturkritik" als "kulturkritischen Wiedergänger", als Sprecher "einer erstarkenden Gegenaufklärung und einer sich reintellektualisierenden Rechten." "Ein angesehener Autor votiert in einer angegrauten Sprache mit hohem Ton. ( ... ) Die Divergenz zwischen Wahrheitsanspruch und Erkenntnisleistung ist bei ihm besonders groß".

    Doch auch Bollenbeck will auf die diagnostischen Qualitäten der Kulturkritik nicht verzichten. Sein Resümee lautet: "Die Zeit der großen kulturkritischen Entwürfe mag vorbei sein. Lebendig aber bleibt die stimulierende Kraft kulturkritischen Denkens." Der Begriff "Kulturkritik", ein "Kampfbegriff", ist für ihn zwar unscharf, "ein vager Sammelbegriff für Verlustgeschichten und Pathologiebefunde, die sich gegen die eigene Zeit richten". Aber Kulturkritik ist nicht obsolet. Nach wie vor sind in ihr die Erkenntnispotentiale eines Denkens zu entdecken, "das mit der Moderne entsteht und das gegen die Moderne Verlustgeschichten aufbietet". Bollenbecks Formel dafür lautet: Sie ist ein "Reflexionsmodus der Moderne".

    Das ist etwas zu allgemein und vor allem zu moderat gesagt, weil es sich um einen affektiv aufgeladenen, kritisch zugespitzten Reflexionsmodus handelt. Nietzsche hat sehr viel deutlicher von sich und seinesgleichen verlangt, der Philosoph habe "das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein.

    Die Einschränkung der Kulturkritik auf die Selbstreflexion der Moderne ist überdies nicht selbstverständlich, wie Bollenbeck weiß. Er selber kennt in seiner differenzierten, überaus belesenen Darstellung, die er vorsichtigerweise nur "eine Geschichte der Kulturkritik" nennt, auch einen weiteren Begriff, der die Antike, Autoren wie Hesiod, Lukrez, Seneca, radikale kulturkritische Praktiker wie Diogenes mitumfasst. Trotzdem zieht Bollenbeck einen engeren Begriff neben einem spezifisch deutschen vor.

    Kulturkritik, wie er sie pointiert, setzt mit der Aufklärung ein, deren Fortschrittsglauben sie beim Wort nimmt, um ihr die Verlustbilanzen zu präsentieren. So wird sie zur Aufklärung über die Aufklärung, "Kulturkritik ist wie die Aufklärung, in deren Gefolge sie entsteht, ein internationales Phänomen mit nationalen Ausprägungen."

    In weit ausreifenden Einzelanalysen beginnt Bollenbeck mit Rousseau und Schiller, bezieht dann Thomas Carlyle, den Marx der "Pariser Manuskripte", John Ruskin, Matthew Arnold ein, um im Anschluss an die epochemachende Kulturkritik des "guten Europäers" Nietzsche auch sekundäre kulturkritische Geister wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Walther Rathenau, Oswald Spengler und Ludwig Klages nicht zu verschmähen. In der Gegenwart stehen Günther Anders und Theodor W. Adorno für die legitimen Möglichkeiten einer ebenso radikalen wie aktuellen Kulturkritik.

    Im Denk- und Schreibstil ist sie unsystematisch, unakademisch, um so mehr auf eine paradoxe publizistische Wirkung bei den von ihr mitkritisierten Zeitgenossen bedacht. Sie kultiviert eine "Schlüsselattitüde", die mit ihren Diagnosen und Wertungen immer aufs Ganze gehen will. Was sie mit ihren negativen Begriffskaskaden im einzelnen attackiert, füllt ganze Registerarien der Pathologien der Moderne. Die Technisierung, Mechanisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung aller Lebensbereiche zählt ebenso dazu wie die Kommerzialisierung, die Allmacht und Allgegenwart des Geldes, die Entfremdung der menschlichen Beziehungen. Die Nivellierung aller qualitativen Unterschiede geht mit Vermassung und Banalisierung einher. Fortschritte der "Zivilisation" mag es ja wohl geben, aber nicht, so die liebste aller deutschen Dichotomien, solche der Kultur. Eigentlich ist der Begriff "Kulturkritik" noch viel zu freundlich. Denn wo wäre in der Moderne noch Kultur? Alles, was die Kulturkritik erblickt, ist Verfall. Und nimmt man neben der schon von Rousseau über Schiller bis zu Ludwig Klages beklagten Naturzerstörung den Kulturverfall in kleinerer Münze hinzu, so sind die Medien allemal ein hervorragender kulturkritischer Kandidat.

    Das klingt nach Parodie, hat aber bei aller preiswerten "Entrüstungsrhetorik" seine Wahrheit. Eine pauschale Verwerfung der Kulturkritik, wie sie schon seit längerem intellektuelle Mode ist, bietet nur unfreiwillig ironischen Anlass zu weiterer Kulturkritik.

    Bei Rousseau, bei dem mittleren, dem Aufklärer Nietzsche, bei Adorno und Anders, selbst bei dem Geist-Widersacher Ludwig Klages kann man sich überzeugen, wie triftig ihre Diagnosen und Anklagen sind. Sie bleibt auf Distanz, sie ist der unersetzliche Spielverderber, wo sonst das Klatschvieh in den Studios der Mediengesellschaft nur noch applaudiert. "Vergnügt sein heißt Einverstandensein": so Th. W. (Adorno).

    Gewiss, es gibt sie von rechts wie von links. Doch man darf sich durch die Darstellung Bollenbecks, die ihren Gegenstand lieber auf die Temperaturen der Geschichtsschreibung herunterkühlt, die kulturkritische Verve nicht nehmen lassen. Sogar ein verschwollener Bockssänger wie Botho Strauss trifft gelegentlich ins Schwarze. Die "Info-Demenz" hatten wir schon. Aber man lese eine Invektive: "Das 'Ich', Held empfindsamer Zeiten, ist heute eine minderbemittelte Instanz" - welch prachtvoller Hohn, welche abgrundtiefe Verachtung.

    Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders.
    C.H.Beck Verlag, München 2007, 320 S., 14,95 Euro