Archiv


Überzeugendes musikalisches Plädoyer

Musikalisch auf der sicheren Seite: Das Minetti Quartett aus Wien hat zwei Streichquartette des jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy aufgenommen. In seinen zwei Werken verschlüsselt der Komponist sowohl die Liebe zu einer Frau als auch die Verehrung für seinen bewunderten Kollegen Ludwig van Beethoven.

Von Raoul Mörchen |
    Zwei Werke des jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy geben Auskunft nicht nur über die kompositorischen Anfänge eines früh begabten Genies, sondern blicken zugleich zurück auf einen Kollegen, den Mendelssohn neben Bach am meisten verehrte: Ludwig van Beethoven. Das Wiener Minetti Quartett hat Mendelssohns Streichquartette op.12 und 13 aufgenommen für das Label Hänssler-Classics.

    1. Satz (Beginn) aus Streichquartett, op.13

    Als Felix Mendelssohn-Bartholdy diese Takte schreibt, die ersten seines ersten Streichquartetts, ist er gerade 18 Jahre alt. Der Spross einer der vornehmsten und wohlhabendsten Familien in Berlin ist mit Begabung und Glück gesegnet: tadellos die Manieren, elegant das Auftreten, froh und scheinbar unbeschwert das Gemüt. Er beherrscht mehrere Sprachen, seine Virtuosität auf dem Klavier wird von der feinen Gesellschaft bejubelt, die Musik, die er seit seiner Kindheit schreibt, findet allenthalben großes Gefallen. Felix Mendelssohn-Bartholdy ist ein Liebling der Götter – so haben ihn Zeitgenossen gesehen und so sieht ihn auch die Nachwelt: als einen, dem alles leicht, manchmal vielleicht sogar zu leicht gefallen ist.

    Doch was tut dieser 18-Jährige, als er 1827 die Arbeit an seinem ersten Streichquartett aufnimmt, sich also an eine Gattung macht, die lange Zeit noch eine Form des Divertissements war, eine Einladung zur Hausmusik? Er macht sich ausgerechnet Ludwig van Beethoven zur Richtschnur: diesen berühmten Querulanten und seine letzte, erst wenige Monate zuvor vollendete Komposition, das Quartett, op.135 – ein Werk, das wenige nur kennen und noch weniger verstehen. Der junge Mendelssohn studiert dieses späte Werk und die anderen Quartette aus Beethoven letzten Lebensjahren, er erkennt ihre Größe und beschließt, sich daran zu messen ...

    1. Satz (Ausschnitt) aus Streichquartett, op.13

    Ausgerechnet also der Sunnyboy des Berliner Klassizismus, Felix Mendelssohn-Bartholdy, dem niemand Genialität, manch einer aber allerletzten Tiefgang abspricht, ausgerechnet Mendelssohn bricht die Lanze für den späten Beethoven – er macht sich zu einem der ersten Anwälte einer Musik, die das Publikum geschlossen ablehnt und auch die Fachwelt zögern lässt: Könnte es sein, dass der kauzige Beethoven sich auf seine alten Tage verrannt hat?

    Keineswegs, erkennt der junge Mendelssohn sehr schnell und zieht seine Konsequenzen aus dem, was er sieht. In seinem a-Moll Quartett wird er, wie der späte Beethoven, die vier Sätze motivisch miteinander verklammern, aus einer losen Folge eine logische Abfolge machen, und er wird einen rätselhaften Wink Beethovens zu einem eigenen Rätsel umformulieren. Hatte Beethoven im Finale von op.135 das Hauptmotiv mit der Frage "Muss es sein?" untertitelt und dessen Beantwortung mit dem Ausruf "Es muss sein!", so stellt Mendelssohn seinerseits mit einer kleinen dreitönigen Zelle die Frage: Ist es wahr?
    2. Satz (Ausschnitt) aus Streichquartett, op.13

    Die Frage, die Mendelssohn versteckt in seinem ersten Streichquartett, hört nur der, der sich in den Notentext hineinliest – und ihn mit dem Text eines anderen Werks vergleicht. Unmittelbar vor dem Quartett hat der junge Komponist seine Liebe zu einer Nachbarstochter in einem Lied Ausdruck verliehen: "Ist es wahr", heißt es, und das Motiv, das Mendelssohn dieser Frage dafür unterlegt hat, greift er nun im Quartett auf. Die Botschaft freilich ist so gut verschlüsselt, dass offenbart selbst die Frau, der sie galt, sie nicht verstanden hat.

    Ohnehin ist es so eine Sache mit Mendelssohns Hang zu geheimen Verweisen und Botschaften. Neben der erwähnten Beethoven-Referenz finden sich etliche andere in den vier Sätzen des Quartetts: Die Fuge des langsamen Satzes verbeugt sich vor Beethovens Fuge in opus 95, die langsame Einleitung und das gesamte Finale gestaltet Mendelssohn nach dem Vorbild von op.132. Wer das damals wohl erkannt hat?

    Ein junger Komponist verschlüsselt also in seiner Musik eine doppelte Liebe: die Liebe zu einer schönen Frau und zu dem bewunderten Kollegen, der noch während der Niederschrift des Quartetts stirbt im weit entfernten Wien.

    4. Satz (Ausschnitt) aus Streichquartett, op.13

    Greift man nun also zur neuen Platte des Minetti Quartett s mit den beiden Streichquartetten, op.12 und op.13, dann hört man keine Frühwerke, keine Tastversuche auf neuem Terrain. Man erlebt den selbstsicheren Auftritt eines Komponisten auf der absoluten Höhe seiner Kunst. Auch das zweite Quartett, das dem ersten zwei Jahre später folgt, zählt zum besten, was Mendelssohn geschrieben hat. Irritieren kann an diesem großartigen Werkpaar allenfalls seine Chronologie: Das zuerst entstandene trägt die höhere Opuszahl und wird vom Komponisten zum Zweiten erklärt ... warum auch immer.

    Mit diesen Werken ist das Minetti Quartett musikalisch auf der sicheren Seite. Die vier Musiker aus Wien, die sich vor knapp zehn Jahren zum Ensemble zusammen schlossen, lieben Mendelssohns hohe Tempi und die Leichtigkeit, die er sich dabei bewahrt, das so typisch Flüchtige, "Huschende". Was bei anderen Komponisten Dramatik ist, ist bei Mendelssohn Dramaturgie: Gerade die Eigenschaft, eine Sache mit Nachdruck zu verhandeln und Spannung aufzubauen, ohne dabei Extreme zu berühren, ohne den Klang zu brechen und das Gleichgewicht zu gefährden, macht sich das Minetti Quartett zu eigen. Es hält Maß.

    Gleichwohl verraten Details, dass dieses recht junge Quartett noch Spielraum hat: manche Linie könnte kräftiger gezeichnet sein, einiges in der inneren Dynamik besser abgestimmt, die Phrasierungen etwas präziser und damit verständlicher. Diese Aufnahme ist gewiss nicht das letzte Wort in Sachen op.12 und op.13. Aber sie ist ein durchaus überzeugendes Plädoyer.

    1. Satz (Ausschnitt) aus Streichquartett, op.12

    Das war, zum Abschluss unsere Sendung, der erste Satz des Streichquartetts Es-Dur, op.12 von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Mendelssohns Streichquartette, op.12 und 13 sind in einer neuen Einspielung des Minetti Quartett s erschienen bei Hänssler Classic und wurden Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.


    Diskografie

    Das Minetti Quartett spielt frühe Streichquartette von Mendelssohn Bartholdy
    Hänssler Classic, LC 06047
    Bestellnummer: 98645
    EAN: 4010276025276