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Übungen, jüdisch zu sein

Auf den ersten Blick erscheint ihr Lebenslauf unauffällig: Geboren 1952 in einer südhessischen Kleinstadt, verbrachte sie die Kindheit in einer beengten Sozialwohnung in Darmstadt, die Mutter ist geschieden und alleinerziehend. Immer wieder fragt sich die Schülerin, "warum es rund um uns so einsam war?": keine Geselligkeit, keine Familienfeste. Esther Dischereit ist Jüdin, die Großeltern wurden von den Nationalsozialisten ermordet, die Mutter überlebte im Berliner Versteck. Die "bleierne Zeit" der 50er und frühen 60er Jahre erlebt das junge Mädchen zwischen allen Stühlen: Nur bruchstückhaft kennt sie die Liedertexte, die an den jüdischen Feiertagen gesungen werden. Der Kontakt zur jüdischen Gemeinde ist distanziert. Und sie versteht nicht recht, warum sie freitags und nicht samstags das Badezimmer schrubben soll.

Günter Beyer |
    Da tritt am 17. Oktober 1965 ein aufrüttelndes Ereignis in das Leben der 13jährigen Schülerin: Nelly Sachs erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Gebannt erleben Mutter und Tochter am Fernsehschirm, daß deutsche Politiker eine jüdische Schriftstellerin ehren. Eine Geste, die Esther Dischereits "bisherigem Lebens- und Erfahrungshintergrund vollkommen widersprach" und die "für einen Moment die Einsamkeit auflöste". Ein Fanal der Befreiung und eine Ermunterung, das Schweigen zu brechen.

    Ihre Erzählung "Ein sehr junges Mädchen trifft Nelly Sachs" hat Esther Dischereit zusammen mit zehn weiteren Texten unter dem Titel "Übungen, jüdisch zu sein" bei Suhrkamp veröffentlicht: "Ich beschäftige mich mit Wahrnehmungen", so Esther Dischereit, "mit Wahrnehmungen in der Sprache, im Sehen, im Fühlen, beim Aufenthalt in mehrheitsdeutscher Umgebung. Weniger abstrakt ausgedrückt: Wie ist das, wenn ich Straßenbahn fahre, und meiner Tochter sagen muß: Sprich nicht so laut über Pessach, du kannst nicht wissen, wer zuhört? Oder spreche ich diesen zweiten Satz sowieso gar nicht? Und sage ihr nur: Sprich nicht so laut!"

    Jüdische Themen, ein bohrendes Nachdenken über eine gewaltsam verlorene und mühsam wiedergewonnene, nicht selbstverständliche, sondern "eingeübte" Identität hatte Esther Dischereit bereits in früheren Veröffentlichungen in den Mittelpunkt gerückt. Jahrelang lagen die ersten 40 Seiten von "Joemis Tisch" in der Schublade, bis daraus 1988 ein Buch und ein Hörspiel wurden. Darin geht es um eine junge Frau, die, wie die Ich-Erzählerin formuliert, "nach zwanzig Jahren Unjude" wieder "Jude werden" will. "Das Kains-Mal der Geburt, vergessen unter Wassern von Sozialismus, schimmert es durch auf meiner Haut." Daneben schrieb Esther Dischereit Gedichte, Erzählungen für Kinder, Theaterstücke.

    Die ausgebildete Lehrerin war in den siebziger Jahren per Radikalenerlaß aus dem öffentlichen Dienst gejagt worden, arbeitete als Schriftsetzerin in Druckereien, engagierte sich für südkoreanische Textilarbeiterinnen gegen den deutschen Bekleidungskonzern Adler. Schließlich geht sie als Bildungsreferentin für eine Gewerkschaft in die neuen Länder. "Übungen, jüdisch zu sein" ist die erste Veröffentlichung ihrer politischen Texte, die der Verlag etwas spröde "Aufsätze" nennt. Dischereits Texte fallen auf durch einen unakademischen, frischen, sehr persönlichen Ton und unterscheiden sich darin wohltuend von den gravitätisch daherkommenden Sonntagsreden zur Erinnerung an die Judenverfolgung oder bei Beschwörung des Dialogs zwischen Juden und Nichtjuden. Da hält sie mitten im Gedanken inne, fragt: "Drücke ich mich verständlich aus?", relativiert, ob sie nicht "maßlos überzieht". Noch 50 Jahre nach dem Ende der Shoa haben die Worte ihre Harmlosigkeit verloren, ist Esther Dischereit die deutsche Sprache immer noch heikel: "Es geht auch dabei um den Unterschied in der Wahrnehmung. Daß ich verschiedene Wörter nicht mehr benutzen kann, die andere ohne Probleme und ohne Vorbehalt benutzen. Ich erinnere an eine Zeitungsüberschrift, da ging es um eine Disco, die war ‘gaskammervoll’, oder eine Nachbarin hat gearbeitet ‘bis zum Vergasen’. Das könnte ich nicht sagen. Bei manchen Wörtern gibt es gar keinen Ersatz dafür, wenn ich sagen will, ich möchte die Möbel abholen, und sie sind auf einer ‘Rampe’ abzuholen. Da hat sich kein anderes Wort dafür gefunden oder eingebürgert. Und trotzdem ist es so, daß ich es nicht sprechen möchte."

    Esther Dischereits "Übungen, jüdisch zu sein" sind ein Exerzitium über das genaue Hinhören und Hinsehen. Sie bringt verborgene, dissonante Zwischentöne zum Klingen. "Ich bin empfindlich", bekennt sie. Sie ist sprachwund. Eine Episode illustriert ihre Verletzbarkeit. Da ist im sachsen-anhaltinischen Jerichow im Schaufenster eines Schuhgeschäfts zu lesen: "13.500 Paar im Angebot / Spezialist für Deutsche / Markengrößen in Unter- und Übergrößen". Bloß abstrus, diese Werbung, wiegelt ihr Begleiter ab. "Deutsche Markengrößen", nur ein orthographischer Fehler. Aber Esther Dischereit liest anders: "Da klatscht mir eine Schaufensteraufschrift ins Gesicht," schreibt sie, "da steht: ‘Spezialist für Deutsche’. Assoziationen stellen sich ein: Dürfen Ausländer hier nicht einkaufen? Deutsche Markenschuhe für deutsche Füße?" Und sie zwingt den Leser zu der Überlegung: Wie weit ist es da noch zum sogenannten "Judenboykott" vom 1. April 1933: "Deutsche, kauft nicht bei Juden"? "Ich schreibe in der ersten Person, das ist natürlich auch ein Versuch, mich als Individuum darzustellen. Das hebt sich ab von der Zeit, in der man und in der ich Klassenkampf führte. Da gab es nur ein ‘wir’. Es ist aber auch ein Versuch, eine gemeinsame Stimme zu haben mit der Geschichte von sechs Millionen Stimmen. Ich denke, daß diese Beschränkung auf den subjektiven Blick eine Bereicherung ist. Es würde mir ja schon genügen, wenn dieser gesehen wird. Mich hat interessiert: Wie erreiche ich, daß ich meinen Augen traue, daß ich sehe, was ich sehe, und daß ich höre, was ich höre. Ich finde das einen absoluten Gewinn, zu erreichen, selbst zu sehen, und nicht, das zu sehen, was viele sehen."

    Brillant ist ihr Essay "Was Liebermann in den Augen Hindenburgs nicht sah". Da geht es um den jüdisch-deutschen Maler Max Liebermann, der 1927 ahnungslos Reichspräsident Hindenburg porträtiert. Sechs Jahre später macht der Feldmarschall Hitler zum Kanzler, Liebermann legt die Präsidentschaft der Preußischen Akademie der Künste nieder, stirbt 1935. Seine Angehörigen werden ermordet. Künstlerbiografie und Zeitgeschichte, Liebermanns Villa in Wannsee und das Schuhgeschäft in Jerichow - ein fulminanter Flug von Assoziationen.

    Und immer wieder springt die Autorin in Gegenwart und Alltag. Ob sie nicht eine Putzstelle wissen, fragt eine Nachbarin an. Die Juden hätten doch alle reiche Angehörige. Jüdischsein, so Dischereits bitterer Befund, ist auch 50 Jahre "danach" weit davon entfernt, selbstverständlicher Teil gelebter Normalität zu sein. Auch wenn vielerorts nach dem Fall der Mauer und dem Zuzug von Juden aus Osteuropa jüdisches Gemeindeleben aufblüht oder jüdische Studien sich an einigen Universitäten großer Beliebtheit erfreuen. Auch wenn vermehrt Politiker und Journalistinnen, Manager und Künstlerinnen sich zu ihrem Jüdischsein bekennen - auf Esther Dischereits Wahrnehmung ihrer "mehrheitsdeutschen" Umgebung fallen lange Schatten: "Die öffentlichen Äußerungen jüdischen Leuten gegenüber schwanken zwischen Antisemitismus, Philosemitismus und schlichter Peinlichkeit. Sie finden keinen richtigen Weg. So wird mir zum jüdischen Neujahr für die Entwicklung in Israel gratuliert. So werde ich gefragt, wann ich ‘heimgehe’ - das alles in bestem Einvernehmen. Ich denke, es gibt keine Normalität, und es macht auch keinen Sinn, sie zu suchen. Das hängt damit zusammen, daß die Reflexion durch die Kinder der Täter über die Geschichte, über ihre Geschichte, über das, was sie transportieren, noch immer sehr bescheiden ist."