Unterhauswahlen in Großbritannien
Tories droht laut Umfragen der Machtverlust

Seit 2010 regieren die Konservativen im Vereinigten Königreich. Bei den Parlamentswahlen am 4. Juli droht den Tories laut Umfragen eine schwere Niederlage. Die Labour-Partei will zurück an die Macht. Worum es im britischen Wahlkampf geht.

    Von links nach rechts: Labour-Parteichef Keir Starmer, Premierminister Rishi Sunak, die früheren Premierministerinnen und -minister Liz Truss, Boris Johnson, Theresa May und David Cameron.
    Tauschen sie bald die Rollen? Opposition und Regierung in UK (hier beim Gedenken an gefallene Soldaten) Von links nach rechts: Labour-Parteichef Keir Starmer, Premierminister Rishi Sunak, die früheren Premierministerinnen und -minister Liz Truss, Boris Johnson, Theresa May und David Cameron. (picture alliance / empics / Yui Mok)
    David Cameron, Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss, Rishi Sunak. Seit 2010 stellen die britischen Tories die Premierministerinnen und Premierminister im Vereinigten Königreich. Diese Regierungszeit begann mit Kürzungen der öffentlichen Ausgaben („austerity“), es folgte der Brexit. Weitere wichtige Themen: die Dauerkrise des Gesundheitssystems, Corona, Migration, Inflation - es waren und sind turbulente politische Jahre. Hinzu kam, dass Tories in etliche Skandale verwickelt waren.
    Am 4. Juli finden nun Parlamentswahlen statt. Laut Umfragen droht dem konservativen Premierminister Sunak dabei der Machtverlust. Oppositionsführer Keir Starmer (Labour Partei) will in den Regierungssitz in 10 Downing Street einziehen – zuletzt hatte Labour von 1997 bis 2010 mit Gordon Brown den Premierminister gestellt.

    Inhalt

    Wer oder was wird in Großbritannien gewählt?

    Das Parlament in Großbritannien besteht aus zwei Kammern: dem gewählten Unterhaus (House of Commons) und dem Oberhaus (House of Lords), dessen Mitglieder nicht gewählt, sondern mit wenigen Ausnahmen auf Lebenszeit ernannt werden. Bei den Unterhauswahlen am 4. Juli 2024 können die Wahlberechtigten in Großbritannien in 650 Wahlkreisen ihre Abgeordneten bestimmen. Der oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen gewinnt das Mandat und vertritt dann diesen Wahlkreis für rund fünf Jahre im House of Commons. Das britische Mehrheitswahlrecht sieht also vor, dass lediglich die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis das Parlamentsmandat gewinnt.
    Die letzte Wahl fand im Dezember 2019 statt. Der damalige Premierminister Boris Johnson erzielte dabei mit seinen Tories eine klare absolute Mehrheit der Mandate. Von rund 47 Millionen Wahlberechtigten gaben bei der letzten Wahl etwa 67 Prozent ihre Stimme ab.

    Wer sind die wichtigsten Kandidaten?

    Premierminister Rishi Sunak ist Spitzenkandidat der regierenden Konservativen. Der 44-Jährige ist der erste Regierungschef in der Geschichte des Landes mit nicht-britischen Wurzeln. Sunak wurde 2020 im Kabinett Johnson Schatzkanzler. Seit 2022 ist er Premierminister.
    Der britische Premierminister Rishi Sunak
    Am 22. Mai kündigte Premierminister Rishi Sunak vor seinem Regierungssitz in 10 Downing Street die General Election am 4. Juli an. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Kin Cheung)
    Der 61-jährige Oppositionsführer Keir Starmer will der erste Labour-Premier seit der Ära von Tony Blair und Gordon Brown werden. Seit 2015 gehört er dem britischen Unterhaus an. Nach der schweren Wahlniederlage des linken Labour-Chefs Jeremy Corbyn übernahm Starmer im Jahr 2020 den Job. Er steht für einen deutlich moderateren Kurs als Corbyn, hat die Partei stärker in der politischen Mitte positioniert.
    Labour-Chef Keir Starmer Anfang Juni 2024 bei einem Wahlkampftermin in der englischen Stadt Bolton.
    Labour-Chef Keir Starmer will seine Partei zurück in die Regierung führen. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Stefan Rousseau)
    Spitzenkandidat der Liberaldemokraten ist Ed Davey (58), der dem Parlament mit einer kurzen Unterbrechung bereits seit 1997 angehört. Der Rechtspopulist Nigel Farage (60), der sich zuvor weitgehend auf mediale Auftritte beschränkt hatte, kündigte einen Monat vor der Wahl überraschend an, als Leader für die Reform UK Partei ins Rennen zu gehen. Bislang ist er bei sieben Versuchen, als Abgeordneter ins Parlament in London einzuziehen, gescheitert. Nun aber hat er gute Chancen.
    Der Parteichef der Liberaldemokraten, Ed Davey
    Der Parteichef der Liberaldemokraten, Ed Davey, will ebenfalls die Mehrheit der Tories brechen. (picture alliance / empics / Will Durrant)
    Auch regionale Parteien wie die Scottish National Party (SNP), die unionistische Parteien in Nordirland oder Plaid Cymru in Wales treten zur Wahl für das Parlament in Westminster an. Die Grünen sind in Großbritannien deutlich schwächer aufgestellt als in Deutschland.

    Wie sehen die Umfragen aus?

    In Umfragen liegen die Konservativen weit hinter der oppositionellen Labour-Partei. Der letzten vor der Wahl veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge könnte die Labour-Partei bei der Wahl die Zahl ihrer Mandate mehr als verdoppeln – und auf 431 der 650 Sitze im Parlament kommen. Die Tories würden von bisher 365 Sitzen, die sie bei der letzten Unterhauswahl 2019 gewannen, auf nur noch 102 Mandate absacken. Ein solches Ergebnis wäre für Labour das beste in der Geschichte der Partei und für die Tories die schwerste Niederlage in mehr als einem Jahrhundert.
    Umfragen zeigen einen klaren Vorsprung der Labour-Partei vor den Konservativen.
    Die Umfragen zeigen einen klaren Vorsprung der oppositionellen Labour-Partei vor den regierenden Tories. (Statista)
    Dass die Stimmung für die Tories schlecht ist, verdeutlichte auch eine ebenfalls im Juni 2024 veröffentlichte YouGov-Umfrage. Demnach sagten 73 Prozent der Befragten, dass es dem Land schlechter gehe als bei Machtantritt der Konservativen vor 14 Jahren. 85 Prozent gaben demnach an, dass es ihnen beim Thema Lebenshaltungskosten schlechter gehe als 2010. 84 Prozent sehen das nationale Gesundheitssystem NHS in einem schlechteren Zustand. Beim Thema Migrationssystem und Wirtschaftslage waren es je 78 Prozent, die ein negatives Zeugnis ausstellten. Auch bei anderen Themenfeldern ist die Bilanz der Tories schlecht.

    Was sind die wichtigsten Themen im Wahlkampf?

    Im ersten TV-Duell trat Premierminister Rishi Sunak sehr kämpferisch auf und fiel seinem Herausforderer Keir Starmer ständig ins Wort. Dessen Labour-Partei wolle vor allem die Steuern erhöhen. Das liege in der DNA der Sozialdemokraten. Starmer erwiderte, dies sei "vollkommener Müll". Sunaks seit 14 Jahren regierenden Konservativen stünden für "Chaos", sagte Oppositionschef Starmer in der vom Sender ITV ausgestrahlten Debatte. Er stehe für einen Neuanfang und die Rückkehr der Moral in die britische Politik.
    Auch die Migrationspolitik ist Thema des Wahlkampfs. Farages harter Anti-Einwanderungskurs könnte den Konservativen rechte Wählerstimmen abjagen. Sunak versuchte dies im Wahlkampf bisher mit dem sogenannten Abschiebegesetz zu kontern, durch das illegale Migranten nach Ruanda ausgeflogen werden soll.
    Starmer hingegen präsentierte sich bei der TV-Debatte als Garant für eine verantwortungsvolle Politik. Labour werde die britische Wirtschaft und Verteidigung auf vernünftige Art und Weise handhaben, sagte er.
    Thema im Wahlkampf sind aber auch Aussetzer und Pannen der Kandidaten. So wurde Sunak öffentlich verspottet, weil er die Neuwahlen im strömenden Regen vor seinem Amtssitz verkündete. Außerdem geriet der Premierminister schwer in die Kritik, weil er die Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des D-Day vorzeitig verlassen hatte, um ein TV-Interview zu geben. Sunak entschuldigte sich.

    Wie haben sich die regierenden Konservativen verändert?

    Die Konservativen sind in den letzten Jahren immer weiter nach rechts gerückt. Der Brexit habe viel damit zu tun, antwortet der Politikwissenschaftler Tim Bale auf die Frage, wie der Rechtspopulismus bei den britischen Konservativen hoffähig geworden sei. Bale lehrt an der Londoner Queen Mary University und hat das Buch zum Wandel der Tories seit 2016 geschrieben: „Die Konservative Partei nach dem Brexit – Tumult und Transformation“. Bale kommt darin zum Schluss, dass die Tories seit dem Referendum zunehmend rechtspopulistische Parteien kopieren.
    Nigel Farage kämpfte seit den 1990er-Jahren dafür, dass Großbritannien aus der EU austritt. Dafür verließ er die Tories und gründete die UK Independence Party, später die Brexit Party, die inzwischen zu Reform UK mutiert ist. Im britischen Mehrheitswahlrecht können derart kleine Parteien kaum Sitze erringen. Aber sie können den großen Parteien entscheidende Stimmen wegnehmen, sie damit wichtige Wahlkreise kosten und am Ende den Sieg.
    Nigel Farage, Chef der Reform UK Party
    Nigel Farage (Reform UK) versucht ein politisches Comeback bei den Wahlen. (picture alliance / Photoshot)
    „Die Fäulnis hat mit dem Aufstieg von UKIP begonnen und damit, dass Nigel Farage eine Gefahr für die Konservativen darstellte. Er hat viele in der Konservativen Partei ermutigt, seinen Stil und sein Programm nachzuahmen“, sagt Bale. Das Mehrheitswahlrecht ist für Tim Bale einer der Gründe, warum gerade die britischen Konservativen stark nach rechts driften: „Die Tories sind stärker auf dem Weg nach rechts als andere konservative Parteien in Europa. Andere Mitte-Rechts-Parteien haben sich zwar auch in diese Richtung bewegt, aber nicht so weit wie die britischen Konservativen.“
    Nigel Farage hat seinem Comeback das Motto gegeben: „Zeit für eine politische Rebellion“. Und genau das hat er offenbar vor. Er will ins Unterhaus, um die geschwächten Tories vor sich herzutreiben – immer weiter nach rechts. Am Ende könnte er die Reste dann zusammenkehren und Reform UK einverleiben. Farage könnte die Tories aber auch selbst übernehmen. Dann wären wir bei Trump 2.0 angekommen – diesmal in Großbritannien. Das ist kein unrealistisches Szenario mehr.

    tei, Christine Heuer