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Ukraine
Der Präsident und sein "Presse-Marathon"

Wolodymyr Selenskyi, der Präsident der Ukraine, hatte zu einem 14-stündigen "Presse-Marathon" in einer Markthalle geladen. Es war seine erste offizielle Pressekonferenz nach fünf Monaten im Amt – die Ankündigung gab es erst am Tag zuvor. Viele Journalisten zeigten sich skeptisch.

Von Peter Sawicki | 19.10.2019
Der ukrainische Präsidentschaftskandidat und Komiker Wolodymyr Selenskyi beim Verlassen der Wahlkabine.
Direkte Interviews hat Wolodymyr Selenskyi bis heute nicht gegeben (ZUMA Wire/Serg Glovny)
Der Mann mit dem Lautsprecher ist hörbar bemüht. Er steht auf dem Vorplatz einer modernen Markthalle, daneben rauscht der Kiewer Vormittagsverkehr vorbei, um den Mann herum hält kaum mehr als ein Dutzend Personen Plakate hoch. "Keine Annäherung an Russland" lautet eine Forderung.
Zur Kenntnis nimmt das kaum jemand. Es sind zwar viele Journalisten da. Sie interessieren sich aber vor allem für den Mann, an den die Appelle gerichtet sind.
Wolodymyr Selenskyi, der Präsident der Ukraine, hat zu einem "Presse-Marathon" in der Halle geladen. Es ist seine erste offizielle Pressekonferenz nach fünf Monaten im Amt – die Ankündigung gab es erst am Tag zuvor. Mehr als 300 Journalisten wollen Selenskyi befragen. Auch TV-Reporterin Maria Shymanska aus Lwiw – sie darf aber nicht, erzählt sie und ärgert sich:
"Das ist doch eine Inszenierung. Wir haben keine Akkreditierung bekommen – man hat uns gesagt, dass nicht alle drankommen können. Wir haben aber viele Fragen. Offenbar will der Präsident aber nicht mit allen Journalisten sprechen. Weil er Angst hat und nichts über die Probleme der Ukraine weiß."
Die Halle ist an diesem Tag Medienzentrum und Konsummeile zugleich. Im Erdgeschoss werden Kaffee, Salate und Sushi verkauft, die Presserunde findet auf der Empore darüber statt. Das Gedränge ist groß, überall sind Kameras und Laptops.
Der Präsident sitzt am Kopfende eines Holztischs – und fragt erst einmal, ob das Essen schmeckt.
Seitlich sitzen acht bis zehn Journalisten. Alle 30 Minuten ist die nächste Gruppe dran. Lokalreporter Bohdan Tytskyi findet das Format gut:
"Das ist ungewöhnlich für die Ukraine. Pressegespräche hielt der Präsident bisher in einem großen Saal ab, Fragen durften nur ein paar wohlwollende Journalisten stellen. Ich denke, das hier ist besser. Unter Präsident Selenskyi ist vieles anders. Wichtig ist, dass wir Fragen stellen können und er Antworten gibt – ohne sich herauszuwinden."
Botschaften teilt der Präsident meistens über soziale Netzwerke mit
Den Begriff "Presse-Marathon" füllt der Präsident mit Leben. 14 Stunden lang spricht er mit den Medienvertretern. Selenskyi beantwortet Fragen zur Ostukraine, zur Wirtschaftspolitik oder zu Donald Trumps Telefonaffäre. Zwischendurch steht er auf, lehnt lässig ans Geländer und lächelt in die Kameras. Die volle Aufmerksamkeit ist ihm sicher.
Während Selenskyi eine Gruppe nach der anderen empfängt, wird lebhaft über die Veranstaltung diskutiert. Vitali Tysyachnyi schreibt für ein Onlinemagazin. Er ist hin und her gerissen:
"Das ist eigentlich eine gute Alternative. Aber in 30 Minuten können nicht alle am Tisch ihre Fragen stellen. Der Präsident spricht manchmal zehn Minuten lang, und dann ist die Zeit um. Ich finde das problematisch."
Direkte Interviews hat Wolodymyr Selenskyi bis heute nicht gegeben. Seine Botschaften teilt er meistens über soziale Netzwerke mit. Reporter Tysyachnyi sieht das kritisch:
"Die Ukrainer informieren sich über verschiedene Kanäle. Sie schauen fern, lesen Nachrichten im Internet. Der Präsident sollte also mit Journalisten sprechen. Auf Facebook mag ihm ja eine Million Menschen folgen. In der Ukraine leben aber 40 Millionen."
Unterdessen verlässt Gulliver Cragg den Tisch. Er ist Korrespondent für den französischen Sender France 24 und Selenskyi gegenüber aufgeschlossen, wie er sagt. Doch auch er findet nicht nur lobende Worte:
"Er versucht auf jeden Fall bestmöglich, alle Fragen zu beantworten. Eigenartig fand ich, wie Selenskyi auf einen Journalisten der Zeitschrift ‚Novoye Vremya‘ reagiert hat. Das ist ein sehr integres Medium. Selenskyi hat aber deren tschechischen Besitzer in Zweifel gezogen. Das war eine sehr nationalistische Aussage. Generell scheint der Präsident nicht gerade ein großer Anhänger von uns, den Massenmedien, zu sein."
Diesen Eindruck will Halina Yanchenko offenbar nicht vermitteln. Sie empfängt in ihrem Abgeordnetenbüro, ihre Assistentin setzt Teewasser auf. Yanchenko ist Fachfrau für Antikorruption und seit Juli für die "Diener des Volkes" im Parlament, die Partei des Präsidenten. Die Wände im Büro sind kahl, die Holzregale noch praktisch leer. Es ist sichtbar, dass Yanchenko neu ist. Sie und ihre Mitstreiter wollen die ukrainische Politik grundlegend verändern. Sie soll transparenter, verlässlicher und bürgernäher werden. Das betrifft auch den Kontakt zu Wählern. Yanchenko klickt auf ihr Facebook-Profil:
"Hier, schauen Sie. Das ist meine Idee, sie heißt ‚Joggen mit Abgeordneten‘. Es findet jeden Sonntag um 9 Uhr statt. Jeder kann kommen. Treffpunkt ist vor dem Parlament, wir lernen uns kurz kennen und joggen dann zusammen fünf Kilometer. Danach trinken wir Kaffee und diskutieren über alles Mögliche, jeder kann beliebige Fragen stellen. Das ist dieser neue Ansatz unseres Dialogs mit der Gesellschaft."
Neuer Politikstil
Trotz der neuen Ideen hätten auch traditionelle Medien weiterhin ihren Platz, versichert Yanchenko. Jeden Tag tauchten Abgeordnete oder Kabinettsmitglieder in Talkshows und Nachrichtensendungen auf. Dass der Präsident vor allem soziale Netzwerke benutzt, sei Teil eines neuen Politikstils:
"Eines seiner Mottos für die Ukraine lautete: Politiker sollen Menschen bleiben. Die meisten Politiker hier verhielten sich bisher wie Götter auf dem Olymp. Selenskyi ist viel umgänglicher."
Dazu zähle auch der Presse-Marathon. Der Präsident habe kein Problem mit Massenmedien, betont sie. Vielmehr sei dieses Format Ausdruck einer Demokratisierung der Pressearbeit des Präsidenten:
"Einzelne Interviews sind sehr zeitaufwändig. Der Pressemarathon war eine vollkommen offene Veranstaltung. Ich kenne auch kein vergleichbares Beispiel, in der Ukraine oder wo auch immer, wo der Präsident mehr als 12 Stunden mit Journalisten spricht."
In der Markthalle beantwortet Wolodymyr Selenskyi weiter Fragen von Journalisten. Korrespondent Gulliver Cragg befürchtet aber, dass es eine ähnliche Gelegenheit so schnell nicht wieder geben wird:
"Der Präsident und sein Team werden jetzt sagen: ‚Alle hatten doch die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.‘ Tatsache ist aber, dass Selenskyi da draußen, vor allem außerhalb Kiews, riesige Unterstützung hat."
Und so lange das so bleibt, schiebt Cragg hinterher, werde Selenskyi kaum etwas an seinem Stil ändern.