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Ukraine
Massenproteste in Kiew dauern an

Regierungsgegner machten in Kiew mobil und demonstrierten dafür, dass Präsident Viktor Janukowytsch in Vilnius ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreibt. Allerdings vergebens: Das Staatsoberhaupt weigerte sich. Die Polizisten der Spezialeinheit "Berkut" veranstalteten eine regelrechte Treibjagd auf die Demonstranten.

Von Florian Kellermann | 02.12.2013
    "Haben Sie Hunger? Greifen Sie zu! Tee gibt es dahinten." Nastja jongliert einen Teller mit belegten Broten durch die Reihen der Menschen. Viele kommen in den Innenhof des Michaelsklosters, um sich ein bisschen auszuruhen. Hier haben die Demonstranten eine Art Versorgungsbasis aufgebaut. Neben Essen und Trinken gibt es warme Kleidung, die Kiewer gespendet haben. Für die 18-jährige Nastja bedeutet das Kloster inzwischen noch viel mehr. Hierher ist sie geflüchtet am Samstagmorgen um vier, als die Polizei mit Schlagstöcken auf die friedlichen Demonstranten losging, unten am Unabhängigkeitsplatz.
    "Sie haben einfach losgeprügelt, auch auf uns Mädchen. Eine hat sich auf die Stufen gesetzt und die Nationalhymne gesungen, sie hatte einen Schock. Da haben sie noch mehr auf sie eingeschlagen. Eine andere haben sie am Zopf gepackt und das Pflaster entlang geschleift."
    Die Polizisten der Spezialeinheit "Berkut" veranstalteten eine regelrechte Treibjagd auf die Demonstranten. Sie verfolgten die Jugendlichen sogar mit Autos auf den Gehwegen. Als Erklärung sagte der Polizeichef später: Sie hätten den Platz geräumt, weil dort am Sonntag der traditionelle große Kiewer Christbaum aufgestellt werden sollte.
    Nastja hatte Glück, die Polizisten trafen sie nur am Bein. Trotzdem war sie so geschafft, dass sie 24 Stunden am Stück durchschlief. Eine Kiewer Familie nahm sie bei sich auf, denn Nastja wohnt in Lemberg in der Westukraine. Dort studiert sie Philosophie. Vor einer Woche war sie mit Freunden in die ukrainische Hauptstadt gekommen. Sie demonstrierten dafür, dass Präsident Viktor Janukowytsch in Vilnius ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreibt. Allerdings vergebens: Das Staatsoberhaupt weigerte sich.
    "Ich will nicht, dass wir so werden wie Russland, eine Diktatur. Deshalb müssen wir uns Europa anschließen, damit wir uns zu einem wirklich demokratischen Land entwickeln. Die Gesetze sollen für alle gelten. Wir wollen nicht zurück in die Sowjetunion."
    Nastja wischt sich kurz über die geschwollenen Augen. Sie ist immer noch müde, trotzdem zieht sie los, hinunter zum Unabhängigkeitsplatz. Eine überwältigende Menschenmenge hat sich dort inzwischen angesammelt.
    "Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich dachte, mit der Polizeiaktion ist alles vorbei. Aber Kiew, die Ukraine ist jetzt für uns auf die Straße gegangen."
    Aus dem Menschengewühl ragt eine Fahne - mit dem Symbol der Partei "Udar" von Vitalij Klitschko. Der gehört zur Opposition und unterstützt die Demonstrationen für eine EU-Annäherung. Trotzdem stürmt Nastja empört auf den Fahnenträger zu.
    "Nehmen Sie die Fahne weg", "Keine Parteisymbole", schreit sie den verdutzten Mann an. Diese Regel galt in der vergangenen Woche bei den Studenten-Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz. Nastja ist aber noch aus einem anderen Grund aufgebracht.
    "Die Opposition hat uns im Stich gelassen. Keiner war da in jener Nacht und hat uns vor den Polizisten geschützt. Wenn es jetzt Neuwahlen gibt, ehrlich, ich wüsste nicht, für wen ich stimmen soll. Das ist mir vorhin erst klar geworden.
    An der Unabhängigkeitssäule trifft Nastja auf Mitstreiter. Die Freude ist riesig - die anderen haben sie überall gesucht. Sie dachten schon, ihr sei bei dem Polizeiangriff etwas zugestoßen. Stundenlang habe sie im Internet Fotos verglichen, um wenigstens ihren vollen Namen herauszufinden, sagt eine. Denn sie alle haben sich erst hier, bei den Protesten, kennengelernt. Die Freunde, mit denen Nastja nach Kiew gekommen war, sind längst wieder nach Lemberg zurückgefahren.
    Nastja will mit den anderen gerade in ein nahes Einkaufszentrum gehen, um sich aufzuwärmen - da ruft ihre Mutter an.
    "Mama will, dass ich heimkomme. Sie sagt, ich brauche das hier doch alles nicht und solle an meine Gesundheit denken. Aber hier geht es um mein Land, um meine Zukunft. Außerdem bin ich seit dem ersten Tag da. Jetzt abhauen und die anderen im Stich lassen - da würde ich mich schäbig fühlen."