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Ukraine
Spekulationen über Maidan-Heckenschützen

Am 20. Februar wurden mehr als 40 Menschen auf dem Maidan erschossen - 41 Demonstranten und vier Polizisten. Nach Aussagen der Ärztin Olga Bogomolez könnten die dafür verantwortlichen Heckenschützen aus den Reihen der Demonstranten gekommen sein. Ein schwerwiegender Verdacht, den die neue Regierung schnell aus dem Weg räumen muss.

Von Sabine Adler | 11.03.2014
    Auf dem Maidan in Kiew erinnern Blumen an die Toten.
    Auf dem Maidan in Kiew erinnern Blumen an die Toten. (dpa / picture alliance / Andrey Stenin)
    Quelle dieser Anschuldigung ist der estnische Außenminister Urmas Paet, der sich auf die Ärztin Olga Bogomolez beruft.
    "Sie – Olga Bogomolez – sagte, als Arzt könne man beurteilen, dass das die gleiche Handschrift war. Der gleiche Typ Munition. Und was wirklich sehr beunruhigend ist, ist, dass jetzt die neue Koalition nicht untersuchen möchte, was exakt geschehen ist. Es gibt mehr und mehr Hinweise, dass hinter den Heckenschützen nicht Janukowitsch stand. Dass das jemand von der neuen Koalition war."
    Oleg Musii, der neue Gesundheitsminister, macht der Kollegin deswegen schwere Vorwürfe.
    "Das war ein großer Fehler und Irrtum von Olga Bogomolez. Ich verurteile diese Darstellung, ich finde sie nicht anständig. Sie ist falsch und widerspricht allem, was ich mit eigenen Augen gesehen habe."
    Er wolle eine öffentliche Ermittlung. Die tödlichen Verletzungen bei Demonstranten wie Polizisten seien identisch, das bestätigt auch Gesundheitsminister Musii. Doch seine Schlussfolgerung ist eine ganz andere:
    "Das zeugt davon, dass ein und derselbe Heckenschütze auf Polizisten und Demonstranten schoss. Aber es ist falsch, dass die Heckenschützen aus den Reihen der Demonstranten kamen. Schon das Zahlenverhältnis zeigt, wie unsinnig das ist. Es wurden 41 Demonstranten erschossen und vier Polizisten. Wenn die Scharfschützen aus den Reihen der Demonstranten gekommen wären, hätten sie weniger Demonstranten getötet und vermutlich sehr viel mehr Polizisten."
    Oleg Musii, von Haus aus Anästhesist, organisierte drei Monate lang die Rettungseinsätze auf dem Maidan, richtete die Sanitätsstellen ein, koordinierte die Verteilung der vielen gespendeten Medikamente, die Versorgung der Verletzten, den Abtransport der Toten.
    "Ich habe alle, jeden einzelnen Toten, mit eigenen Augen gesehen. Ich habe sie in das Leichenschauhaus zur Obduktion überstellt. Ich war bei der Protokollierung der Verletzungen anwesend. Ich weiß, wo jedes Opfer gefunden wurde. Deswegen stellt sich die Situation für mich so dar:
    Über 40 Menschen sind an diesem 20. Februar von Scharfschützen erschossen worden. Ich gehe von mehreren Heckenschützen aus, denn einige Schüsse trafen frontal auf die Körper. 30 bis 40 Prozent der Schüsse sind offenbar von Dächern aus abgegeben worden. Die Verletzungen der vier Polizisten sind identisch mit denen der Demonstranten."
    Wer hat die Toten auf dem Gewissen?
    Minister Musii ist überzeugt davon:
    "Die vielen Toten aufseiten der Demonstranten zeugen davon, dass die Heckenschützen vonseiten des Regimes kamen und auf beide Parteien geschossen haben. Das waren angeheuerte Scharfschützen, die die Regierung eingesetzt hat, um den Konflikt zusätzlich anzuheizen. Sie waren Profis. Solche gibt es beim ukrainischen Geheimdienst und beim russischen. Der provoziert gerade einen möglichen bewaffneten Konflikt, hat die Krimbesetzung vorbereitet. Dass Janukowitsch nach Russland geflohen ist, zeugt davon, dass er für den russischen Geheimdienst gearbeitet hat."
    Musii weiß, dass das bisher alles Vermutungen sind. Er fordert eine Untersuchung und öffentliche Gerichtsprozesse, davon hänge auch das Vertrauen in die neue Regierung ab. Die Wahrheit müsse nun ans Licht:
    "Das ist jetzt das Wichtigste, denn die Wahrheit öffnet die Augen und ermöglicht einem, Fehler zu vermeiden."
    Er selbst steht als Zeuge zur Verfügung und fordert die Sanitäter, die im Einsatz waren, auf, auszusagen.
    "Es müssen die sein, die alles gesehen haben. Das betrifft mich, aber auch die freiwilligen Helfer, die ganz vorn an den Barrikaden gewesen sind, wo die Toten lagen."
    Erst wenn Oleg Musii weiß, wer die Toten auf dem Maidan auf dem Gewissen hat, kann die eigentliche Arbeit im Ministerium beginnen, die Reform des Gesundheitswesens. Das ist bisher nur in punkto Korruption einsame Spitze.