
Dass die Zahl der in Russland gefangenen ukrainischen Zivilisten nicht genau bekannt ist, liegt vor allem daran, dass Russland nicht eingesteht, dass es überhaupt solche Personen gefangen hält. Die betroffenen Menschen verschwinden schlicht in den besetzten Gebieten und werden weitgehend ohne Kontakt zur Außenwelt gefangen gehalten.
Bis zu 28.000 gefangene Zivilisten betroffen?
Der ukrainische Ombudsmann Dmytro Lubinets hält es für möglich, dass bis zu 28.000 Ukrainer in russischen Gefängnissen sitzen. Namentlich bekannt und dementsprechend gesichert kann man von rund 1.700 sprechen. Im Dezember 2024 sprach Lubinez von „mehr als 16.000“ in russischer Haft befindlichen Zivilisten. „Die Zahl wird wesentlich größer, wenn wir die ukrainischen Gebiete befreien“, sagte Lubinez damals. Erst dann sei eine Überprüfung vor Ort möglich.
Zum selben Zeitpunkt sprach der ukrainische Präsident Selenskyj „von derzeit mindestens sechs Bürgermeistern und Gemeindevorstehern in russischer Gefangenschaft“.
Spezielle Hilfsorganisation PeopleFirst! gegründet
Anfang 2025 haben die Organisationen Center for Civil Liberties und Memorial Human Rights Defense Center sowie zahlreiche internationalen Partner die Kampagne PeopleFirst! gegründet. Mehr als 60 ukrainische, russische und internationale Organisationen setzen sich in diesem Rahmen gerade für das Schicksal dieser Menschen ein. Auch PeopleFirst! spricht von Tausenden Menschen, die in den besetzten Gebieten und in Russland ohne Anklage in Haft sind, teilweise schon seit Jahren.
Unterschiedlichste Menschen als Gefangene betroffen
Zu den betroffenen Zivilisten gehören etwa proukrainische Aktivisten, Bürgermeister, Mitarbeiter des von Russland besetzten Atomkraftwerks Saporischja, oder Journalisten, die in Haft in Russland sind.
Laut Reporter ohne Grenzen sind mindestens 29 ukrainische Journalisten in Russland in Haft. Einer davon, Dmytro Khyliuk von der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian, ist verschwunden. Er wurde 2022 in seinem Haus im Kiewer Umland festgenommen. Von ihm gab es zuletzt Nachricht, weil ein ukrainischer Kriegsgefangener, der im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustausches freikam, berichtete, dass er Hilyuk Anfang Mai in einem Gefängnis im Gebiet Wladimir in Zentralrussland gesehen habe. Damit gehört er zu den seltenen Fällen, in denen man wirklich konkret etwas über die Gefangenen erfährt.
Viele Zivilisten sind ohne jede Nachricht verschollen
Andere sind komplett verschollen. Zum Beispiel eine Mutter aus Mariupol, sie ist Mitte 30. Sie fuhr vor drei Jahren mit ihrem Sohn aus Mariupol nach Donezk in eine Klinik, weil der Junge am Auge verletzt worden war. Unterwegs wurden sie angehalten und verhört. Die Mutter wurde von Uniformierten weggebracht. Der Junge kam noch in die Klinik und danach zu seiner Oma. Von seiner Mutter hat er nie wieder was gehört.
Erniedrigende Haftbedingungen bis hin zu Folter
Bekannt ist, dass die Bedingungen für Ukrainer in russischer Haft deutlich schlimmer sind als für russische Häftlinge in Gefängnissen in Russland. Für die Ukrainer geht es um systematische Folter, um tägliche Erniedrigungen.
Man weiß zum Beispiel aus einem Untersuchungsgefängnis in Südrussland, dass die Ukrainer dort jeden Morgen mehrfach die russische Nationalhymne singen müssen. Sie bekommen ihr Essen sehr heiß, sodass sie es kaum essen können, haben aber nur drei Minuten Zeit für die Mahzeit. Sexualisierte Gewalt, ständiges Ausziehen gehören zum Alltag. Das ist eine Form der Folter.
Anwälte als Quelle für Lage der Gefangenen
Manche Verschwundene tauchen irgendwann als Angeklagte auf. Sie werden auf diese Weise „legalisiert“. Das heißt, dass bestimmte Verbesserungen für sie möglich sind, weil sie dann zumindest offiziell existieren. Man kann ihnen ein Päckchen schicken, Anwälte können Kontakt aufnehmen. Von diesen berichten einige dann auch vor Gericht über die Haftbedingungen. Diese Anwälte sind eine der Quellen, um Kenntnisse über die gefangenen ukrainischen Zivilisten zu erhalten.
Kritik am Roten Kreuz
Das Rote Kreuz hat zu den Haftanstalten in Russland und insbesondere in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten nur sehr eingeschränkten Zugang. Immer wieder gibt es deshalb die Kritik am Roten Kreuz, dass die Hilfsorganisation sich von Russland als Feigenblatt benutzen lasse.
Es gibt aber auch die Vermutung, dass das Rote Kreuz die Kontakte, die es hat, nicht gefährden möchte, indem es in bestimmten Fällen nicht auf Auskunft oder Kontakt beharrt.
Verschleppte Kinder
Anfang Juni hat die Ukraine Russland eine Liste von Minderjährigen übergeben, die aus ihrer Sicht verschleppt wurden. „Es geht um Hunderte Kinder, die Russland gesetzwidrig deportierte, zwangsweise umsiedelte oder in den temporär besetzten Gebieten festhält“, schrieb der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, bei Telegram.
Nach früheren Angaben aus Kiew hatte Moskau mehr als 19.500 ukrainische Minderjährige aus den eroberten Gebieten zwangsverschleppt.
Russische Gefangene in der Ukraine
Bei einem Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine im Mai haben beide Seiten jeweils 390 Gefangene ausgetauscht, darunter neben Soldaten auch Zivilisten. Das russische Verteidigungsministerium gab dabei auch die Rückkehr von 120 russischen Zivilisten aus der von der ukrainischen Armee eroberten Region Kursk an. Im Gegenzug seien neben Soldaten auch 120 Zivilisten an die Ukraine übergeben worden.
Gesine Dornblüth, aha