Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ukrainischer Lyriker Serhij Zhadan
Flucht, Gewalt und Tod hinterlassen Spuren

Serhij Zhadan studierte Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik, und promovierte über den ukrainischen Futurismus. Seit 1991 gehört der Autor zahlreicher Lyrikbände zu den prägenden Figuren der jungen Schreiber-Szene in der Ukraine. Er führt uns mit seinen Büchern tief in das Kriegsgeschehen.

Von Mirko Schwanitz | 30.09.2014
    Der ukrainische Autor Serhij Zhadan
    Der ukrainische Autor Serhij Zhadan (Deutschlandradio / Bettina Straub)
    Unter den literarischen Stimmen der Ukraine zählt die des 40 Jahre alten Serhij Zhadan zu den bekanntesten. Sieben seiner Bücher sind bisher ins Deutsche übersetzt, darunter die Romane „Anarchy in the UKR" und "Die Erfindung des Jazz im Donbass". Beide führen uns tief in die Seelenlandschaften jener Gebiete im Osten der Ukraine, um die in den letzten Monaten so heftig Krieg geführt wird. Zhadans Geburtsstadt Starobilsk gehörte bis vor kurzem zu den am heftigsten umkämpften Städten des Landes. Heute sagt er, sei sie nicht wiederzuerkennen.
    "Vor dem Krieg war Starobilsk eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern. Sie befindet sich direkt an der Grenze zu Russland. Während des Krieges kamen so viele Flüchtlinge, dass die Einwohnerzahl auf 100.000 explodierte. Das führt zu großen Spannungen, die Menschen dort sind einander völlig fremd geworden, keiner weiß mehr, wer wer ist."
    Das ganze Land ist im Krieg
    Zwei Kämpfer der Bevölkerungsmiliz des Donbass stehen an einem Checkpoint in der Nähe des Dorfes Peski in der Ost-Ukraine, im Hintergrund steht ein Panzer.
    Die Situation im Osten der Ukraine bleibt angespannt. (dpa picture alliance / Natalia Seliverstova)
    Starobilsk, meint Zhadan, steht symbolisch dafür, wie der Krieg das Gefüge der Städte im Osten der Ukraine durcheinanderschüttelt. Flucht, Gewalt und Tod würden ihre Spuren aber nicht nur im Osten des Landes hinterlassen.
    "Das ganze Land ist im Krieg. Das gilt für alle Menschen. Auch für die, die nicht in den Kriegsgebieten leben. Und das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Kulturlandschaft meines Landes. Nicht nur, dass der Krieg Einzug gehalten in unsere Literatur, die Kulturszene hat Verluste zu beklagen, denn etliche Künstler, auch Autoren, sind an die Front gegangen."
    Es wird schwer, das zu reparieren
    Mit Sorge beobachtet Serhij Zhadan die Entwicklung der kulturellen Beziehungen zu Russland. Lange habe er geglaubt, dass diese vom Krieg unberührt bleiben. Doch die öffentliche Unterstützung der aggressiven Politik Putins durch viele russische Künstler und das Schweigen vieler anderer zeigten etwas ganz anderes.
    "Wenn wir über das Verhältnis zwischen den russischen und den ukrainischen Intellektuellen sprechen, so denke ich, dass die bisher sehr engen Beziehungen durch den Krieg fast komplett zerstört wurden. Es wird sehr schwer werden, das zu reparieren."
    Kulturelle Bruchstellen in der Gesellschaft
    Andererseits vollziehe sich in der Ukraine zurzeit ein interessanter Prozess. Der Krieg habe die Mehrheit der Ukrainer endlich begreifen lassen, dass die kulturellen Bruchstellen in der Gesellschaft entgegen der russischen Propaganda eben nicht entlang der sprachlichen Grenzen verlaufen.
    "Ich bin überzeugt, dass in der Ukraine zurzeit ein Prozess des Umdenkens stattfindet, der für die Zukunft unserer Kultur von entscheidender Bedeutung ist. Denn dieser Krieg führt dazu, dass viele nun wirklich begreifen, dass für die kulturelle Identität nicht entscheidend ist, ob du russisch oder ukrainisch schreibst oder sprichst, sondern ob du dich als Bürger dieses Staates fühlst. Auf diese Weise beschleunigt der Krieg die Herauslösung vieler Ukrainer aus den letzten Resten einer gemeinsamen postkommunistischen mentalen Vergangenheit. Er zwingt die Menschen dazu, sich von Russland abzugrenzen, sich als Ukrainer zu sehen und sich mit der Frage zu beschäftigen, wie stehe ich zu diesem Land."
    Wie es weitergehen wird in der Ukraine, weiß auch Serhij Zhadan nicht. Dem Amnestieangebot für die Separatisten jedoch steht er mehr als skeptisch gegenüber.
    "Es ist utopisch zu glauben, dass die Menschen im Donbass wieder gemeinsam zusammen leben könnten. Viele meiner Bekannten sind von dort geflohen und sagen, dass es für sie ausgeschlossen ist, je wieder mit den Separatisten als Nachbarn zu leben. Dieser Krieg hat in einem kleinen Teil der Bevölkerung sehr tief sitzende postkommunistische Ressentiments und alle damit verbundenen negativen Charaktereigenschaften freigelegt und was noch schlimmer ist: Viele von ihnen haben diese dann mit russischer Unterstützung ausgelebt Es wird ein sehr schwieriger Weg zum Frieden. Dazu braucht es verdammt viel guten Willen und das Vergessen. Und für all das braucht es vor allem eines - sehr viel Zeit."