...kleine Geschichten von einer frommen Großmutter, einer deutschen Mennonitin, einer anderen, die orthodox war und noch in Sibirien lebt und die Bibel nicht lesen kann, weil sie Analphabetin ist. Von einem Vater, einem Kerl wie ein Kleiderschrank, der Kranführer war in einer Stadt, wo immer, wenn man eine Baugrube aushub, Knochen gefunden wurden, in der kasachischen Steppe in Karaganda. Von einer Mutter, die Schneiderin ist, eine sehr schöne, zarte Frau, eine Russin, die einen Buckel hat, weil sie als Kind aus der Wiege fiel. Und dass sie aus der Wiege fiel, hat damit zu tun, dass in Kriegszeiten die Frauen in Sibirien nicht auf ihre Kinder aufpassen konnten, sondern Tag und Nacht im Kolchos arbeiten mussten, ohne Pause und die Kinder eben unbeaufsichtigt waren.
Ulla Lachauer ist vielen Lesern durch ihre Bücher über Ostpreußen und das Memelland bekannt. Rita und ihre Familie jedoch kommen - wie die meisten heutigen Spätaussiedler - aus dem fernen, mittelasiatischen Kasachstan. Zwischen Ostpreußen und Kasachstan liegen Welten. Was also fasziniert die Autorin am Schicksal einer Spätaussiedlerfamilie?
Mir war natürlich bewusst, dass in Deutschland jetzt über zwei Millionen Menschen mit solchen Geschichten leben und sie eigentlich nicht beachtet werden und sich selbst wenig zu Wort melden. Und dann dachte ich: Warum nicht die Geschichte einer Familie aufschreiben und mal exemplarisch gucken, was da im 20. Jahrhundert geschehen ist.
Die Geschichte der Familie Pauls, einst aus Deutschland nach Russland ausgewandert, steht stellvertretend für die Schicksale der Russlanddeutschen. Im 17. und 18. Jahrhundert bauten sie im Russischen Reich freie Gemeindewesen auf. Hundert Jahre später, 1917 erleben sie die blutige Oktoberrevolution, die Zwangskollektivierung, zwei Hungersnöte. Dann - als Kollektivstrafe Stalins - die Verbannung nach Sibirien und Mittelasien.
Die Großeltern von Rita sind so genannte "Kulaken" - Großbauern. Deshalb werden sie 1931 enteignet und in die kasachische Steppe verschleppt. Die Pauls kommen nach Karaganda: Kohlenrevierstadt und "heimliche Hauptstadt" des berüchtigten KARLag, des sogenannten Karagandiner Lagerkomplexes. Nur die Frauen und einige Kinder der Familie überleben diese Zeit. Mehr schlecht als recht, vor allem aber rechtlos. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 80er Jahre verlassen die Pauls, im großen Strom der Russlanddeutschen, Kasachstan. Sie kommen nach Deutschland. Der Kreis schließt sich. Die Spätaussiedler und mit ihnen die Pauls sind endlich in der historischen Heimat angekommen, um dann erschrocken festzustellen, dass sie mit den einheimischen Deutschen nichts mehr verbindet, nicht einmal mehr die Sprache:
Wenn sie selbst etwas vorbrachten, waren sie sich nicht sicher, ob die Einheimischen sie verstanden. Schon beim Grüßen - da redet man jemand mit 'Guten Morgen!’ an, der antwortet oft 'Hallo!’ Mittags und Abends auch 'Hallo!’ Im Telefonverkehr verabschiedet man sich mit 'Auf Wiedersehen’, ein Hiesiger mit 'Auf Wiederhören’. Warum bloß, man will sich doch sehen, nicht alleweil zum Hörer greifen? 'Mir ist so weh ums Herz, Herr Doktor,’ klagt eine Russlanddeutsche, und der Arzt, bemüht, ihr eine Brücke zu bauen: 'Sie sind also nicht ganz fit’, bringt die Patientin zum verstummen. 'Nicht fit?’ Hält er mich vielleicht für nicht bei Trost?
Auf zwei Ebenen erzählt Ulla Lachauer die Familiensaga: Zunächst ist es die Geschichte der Pauls, ihrer russischen angeheirateten Verwandten und des kanadischen Zweigs der Familie, der in den 20er Jahren von Russland aus dorthin auswanderte. Die zweite Ebene ist die der Autorin. Sie erzählt über die Schwierigkeiten bei der Recherche, über ihre Annäherung an die Pauls und schlägt einen Bogen zur eigenen Familie, dem Vater ihres Mannes, der selbst als Kriegsgefangener in Karaganda war. "Da ist eine, wo wissen will" oder "Geschichtenschreiberin" wird sie unter Ritas Verwandten genannt. Wohl, weil die Familie selbst die eigene Vergangenheit verdrängt. Vor allem Ritas Vater Heinrich ist ein Beispiel dafür:
Ihm war und ist fremd, über seinen Lebenslauf nachzusinnen, und das, scheint mir, ist ein Wesensmerkmal von Biografien seiner Generation. Sie hatten wenig Bildungs- und Wahlmöglichkeiten, und nichts wurde ihr gründlicher ausgetrieben als die Frage nach ihrer gesellschaftlicher Herkunft. Auch der Gedanke, ein Trauma zu haben, das analysiert und bewältigt werden müsste, liegt den Kindern des Terrors meistens fern",...
... stellt Ulla Lachauer befremdet und betrübt fest. Aber am Ende der Suche nach den Wurzeln der Familie Pauls, die sie nach Kasachstan, Sibirien, an die Wolga, nach Westpreußen und bis nach Kanada führt, verbindet sie mit Ritas Vater ein Schlüsselerlebnis. Und zwar während einer Reise nach Westpreußen, der Ur-Heimat seiner Vorfahren, bevor sie diese im 18. Jahrhundert in Richtung Russland verließen:
Es ist ihm ein unglaubliches Licht, ein ganzer Kronleuchter aufgegangen, dass seine Vorfahren wahrscheinlich wohlhabende und sehr, sehr stolze Leute waren. Das es eine Dimension von Leben war, wo man sagen muss, also wenn man die Generation mal Revue passieren lässt, von seinem Ur-Ur-Großvater bis heute, was das ein Niedergang war in Sowjetzeiten. Das ist ihm klar geworden. Er stand in Westpreußen, da in Polen, im Weichseldelta vor so einem großen Vorlaubenhaus, das eines von seinen Leuten hätte gewesen sein können und ihm wird klar, wie sehr sind wir eigentlich auf den Hund gekommen.
Neben diesen sehr persönlichen Erkenntnissen und Erfahrungen der Mitglieder der Paulschen Sippe, ist es die unbekannte Welt der Russlanddeutschen, die Ulla Lachauer uns in ihrem Buch nahe bringt. Auch in der Hoffnung, dass in diesem deutsch-russischen Jahr, das von Bundeskanzler Schröder und dem russischen Präsidenten Putin feierlich eröffnet worden ist, den Russlanddeutschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. - Aber nicht nur dann, wenn der Öffentlichkeit Statistiken über Drogendelikte und nichtbestandene Sprachtests vorgestellt werden.
Katharina Heinrich besprach: Ulla Lachauer: "Ritas Leute - Eine deutsch-russische Familiengeschichte", 432 Seiten, erschienen im Rowohlt-Verlag Reinbek, zum Preis von 19 Euro 90.