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Ulrich Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich

Der Karikaturist Til Mette war es, der in der Zeitschrift Stern die angemessene Antwort auf eine hochgehende Mediendebatte gab. "Komm Schatz", ließ er eine gemütliche Schwarzafrikanerin zu ihrem ebenso dunkelhäutigen Mann sagen, der mit ihr vor dem Fernsehapparat saß, "sei ein braver Einwanderer und schalt um auf RTL II. Das ist die deutsche Lightkultur." Die Zeichnung war nicht nur komisch, sie traf ins Herz der Verhältnisse. Wer von einem islamisch geprägten Soziologen, der seinen Landsleuten eine Orientierung für das Leben in Deutschland geben wollte, das Wort Leitkultur ausleiht und mit parteipolitischem Nachdruck versieht, der wirft für sich selbst und alle anderen eine sehr ernste Frage auf: die nach dem Zustand der deutschen Kultur.

Hans Martin Lohmann |
    Der Karikaturist Til Mette war es, der in der Zeitschrift Stern die angemessene Antwort auf eine hochgehende Mediendebatte gab. "Komm Schatz", ließ er eine gemütliche Schwarzafrikanerin zu ihrem ebenso dunkelhäutigen Mann sagen, der mit ihr vor dem Fernsehapparat saß, "sei ein braver Einwanderer und schalt um auf RTL II. Das ist die deutsche Lightkultur." Die Zeichnung war nicht nur komisch, sie traf ins Herz der Verhältnisse. Wer von einem islamisch geprägten Soziologen, der seinen Landsleuten eine Orientierung für das Leben in Deutschland geben wollte, das Wort Leitkultur ausleiht und mit parteipolitischem Nachdruck versieht, der wirft für sich selbst und alle anderen eine sehr ernste Frage auf: die nach dem Zustand der deutschen Kultur.

    Der Publizist Friedrich Dieckmann beginnt so eine Problemskizze im Einleitungsaufsatz seiner in der Edition Suhrkamp erschienenen Nationalerkundung "Was ist deutsch?" Wie leicht und selbstverständlich pathetisch zelebrieren dagegen die Franzosen ihr kulturelles und nationales Selbstbewusstsein. Unterschiede, die alleine mit der Erfahrung des Nationalsozialismus nicht erklärt werden können. Ulrich Bielefeld hat in einer umfangreichen Studie nationale Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich untersucht. Das Werk ist unter dem Titel "Nation und Gesellschaft" in der Hamburger Edition erschienen.

    In seinen Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Diwan schreibt Goethe, er habe seine früheren Schriften ohne Vorwort in die Welt gesandt, und zwar "im Glauben an die Nation, dass sie [...] das Vorgelegte benutzen werde". Offenbar ging Goethe fraglos davon aus, dass es eine deutsche Nation gebe, an die er sich mit seinen Schriften wenden könne, was zu seiner Zeit keineswegs selbstverständlich war. Denn die Nation bzw. das, was wir heute darunter verstehen, gibt es erst seit rund 200 Jahren. Oder muss man umgekehrt sagen, dass der Dichter, als er seinen Glauben an die Nation formulierte, mit dieser Formulierung dazu beitrug, die Nation überhaupt erst zu erfinden?

    Freilich verweist Goethes Diktum auch auf etwas sehr Deutsches, nämlich darauf, dass bei der modernen Erfindung der deutschen Nation das Modell von Sprache und Literatur Pate stand, auf das sich der Dichter wie selbstverständlich berief. Während sich die moderne französische Nation um den Staat als politischen Körper herum bildete und sich auf das Modell der Staatsbürgerschaft bezog, erfanden die Deutschen ihre Nation als Sprach- und Kulturnation. Im Zentrum Europas entstanden so zwei ganz unterschiedlich begründete und definierte Nationen – hier die klassische Staatsnation Frankreich, die von den politischen Errungenschaften der Französischen Revolution zehrte, dort die klassische Kulturnation Deutschland, für deren Selbstbildungsprozess spezifisch kulturelle Leistungen maßgeblich waren. Fortan standen sich Republik und Reich, West und Ost, Zivilisation und Kultur, ius soli und ius sanguinis gegenüber, die aufgrund ihrer Unvereinbarkeit unablässig an der Herstellung und Verschärfung ihrer Differenzen arbeiteten. Man erkennt diese Unterschiede am besten, wenn man sich die jeweiligen nationalen Selbstvergewisserungsrituale im 19. Jahrhundert vor Augen führt: Die hochsymbolisch gestalteten Staatsbegräbnisse oder die Aufnahme der großen Geister ins Pantheon repräsentierten in Frankreich stets das Republikanische und Politische, während die pompös inszenierten Schiller-Zentenarfeiern vor allem dem Triumph der deutschen Kulturnation galten.

    Der Hamburger Sozialwissenschaftler Ulrich Bielefeld hat Deutschland und Frankreich als "Musterbeispiele der unterschiedlichen Thematisierung und Institutionalisierung des Nationalen" einer vergleichenden historisch-soziologischen Untersuchung unterzogen, um herauszufinden, was es mit dem Begriff der Nation und der Bildung existentieller politischer Kollektive auf sich hat. In diesem Programm klingt bereits an, was die Ausgangshypothese des Autors ist: Die moderne Nation kann nicht einfach als etwas Gegebenes und Homogenes vorausgesetzt werden; vielmehr entsteht sie erst im Zuge und vermittels dessen, was eine Gesellschaft sich über sich selbst vorstellt und wie sie sich darstellt. Es sind, mit anderen Worten, die jeweiligen Selbstbilder, die darüber entscheiden, was als "das Nationale" oder "die Nation" gilt. Bielefeld schreibt:

    Unter Moderne will ich die strukturelle Tatsache verstehen, dass Gesellschaften sich aus sich selbst begründen und erklären müssen. Moderne Gesellschaft ist nicht nur Industrie- und Territorialgesellschaft, sie ist nicht nur durch soziale und gesellschaftliche Differenzierung gekennzeichnet, sondern sie ist auch Selbstthematisierungsgesellschaft.

    Der besondere Reiz von Bielefelds Studie liegt darin, dass sie drei deutsch-französische Paare vorstellt, an denen sie die Thematisierung des Nationalen exemplarisch herausarbeitet: Johann Gottlieb Fichte und Maurice Barrès, Max Weber und Émile Durkheim, Ernst von Salomon und Louis Ferdinand Céline. Allen diesen Namen gemeinsam ist, dass sie als Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller öffentliche Personen, sogar, wie Barrès und Salomon, politische Aktivisten waren, die einen mehr oder minder starken Einfluss auf ihre Gesellschaft und Zeit ausübten.

    Unter dem Eindruck der Französischen Revolution, der napoleonischen Eroberungskriege und der preußischen Niederlage entdeckt Fichte im Ich das große Wir, welches auf der Grundlage einer gemeinsamen Ursprache und der "Auserwähltheit" des deutschen Volkes zu einer deutschen Nation zusammenwächst, die sich selbstbewusst von der revolutionären Nation Frankreichs absetzt und den eigenen ethnischen Nationalismus als verbindlich und vorbildlich empfiehlt. Sechzig Jahre später, unter dem Eindruck der Niederlage im Deutsch-französischen Krieg, liest der junge Barrès Fichtes Schriften und übernimmt dessen Verschmelzung von Ich und Wir. Aber im Gegensatz zum Konzept der Nation, wie es etwa Ernest Renan in seiner Schrift "Was ist eine Nation?" klassisch formuliert hatte, in dem die Nation als Organisation des Politischen verstanden wird und das sich von Rasse, Sippe und Familie emanzipiert hat, postuliert Barrès die Existenz einer vor- oder außerpolitischen Nation. Die Beschwörung äußerer und innerer Feinde – der Deutschen und der Juden –, die die Einheit Frankreichs bedrohen, ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass die Nation für Barrès wiederum zu einer Bestimmung der Rasse wird.

    Auch die Gründerväter der Soziologie, Weber und Durkheim, waren, legt man ihre jeweiligen Biographien zugrunde, Nationalisten. Aber sie waren es, wie Bielefeld darlegt, noch viel mehr in dem Sinne, dass in ihre wissenschaftlichen Arbeiten Bestimmungen und Begriffe des Nationalen dezidiert Eingang fanden. Interessant ist, jedenfalls im deutschen Kontext, dass für Weber Nation weder ethnisch noch kulturell-sprachlich begründet ist, sondern allein in Herrschaft und Pathos ruht. Für Weber ist die Nation ein vorausgesetzter Wert und ein Herrschaftszusammenhang. Durkheim wiederum, besorgt wegen jener Desintegrations- und Auflösungspotentiale, durch die moderne Gesellschaften bedroht werden, konstruiert die Gesellschaft als Nation der moralischen Individuen, die durch eine gemeinsam geteilte "Idee" und verbindliche Symbole zusammengehalten wird. Es war notabene Durkheim, der den Deutschen im Ersten Weltkrieg vorwarf, es mangele ihnen an einer "Idee".

    Beim dritten deutsch-französischen Paar, das Bielefeld vorstellt, explodiert das Paradox, dass in dem Moment, da der Begriff der Nation zum äußersten Nationalismus überdehnt wird, die Nation selber verschwindet, sofern man unter Nation etwas notwendig Begrenztes und Begrenzendes, ein Inkludierendes und Exkludierendes versteht. In den Schriften des heute kaum noch bekannten rechtsnationalen Politaktivisten Ernst von Salomon, der als Beteiligter am Rathenau-Attentat in die Geschichtsbücher eingegangen ist und im Umfeld des Nationalsozialismus eine nicht unbedeutende ideologische Rolle spielte, artikuliert sich ein radikaler Nationalismus, der den Begriff der Nation ins "Geheimnis", in die "Tat" und damit ins Ungreifbare auflöst: Nation ist da, wo sich, einem Topos der zwanziger Jahre gemäß, das "geheime Deutschland" zusammenfindet, ein elitärer Zirkel kriegerischer Männer, die von einem Wort angerufen werden:

    Das Wort aber hieß Deutschland. Deutschland brannte dunkel in verwegenen Gehirnen. Deutschland war dort, wo um es gerungen wurde, es zeigte sich, wo bewährte Hände nach seinem Bestande griffen, es strahlte grell, wo die Besessenen seines Geistes um Deutschland willen den letzten Einsatz wagten.

    So Ernst von Salomon. Nicht minder schrill aber die Stimme seines französischen Pendants Louis Ferdinand Céline, Schriftsteller von Rang und hemmungsloser Antisemit, der in den dreißiger Jahren zum Wortführer einer Strömung wird, die den älteren französischen Antigermanismus durch eine unbedingte geistige Kollaboration mit dem Nationalsozialismus im Zeichen von Antibolschewismus und Antisemitismus ersetzt. Der absolute Feind verkörpert sich jetzt in dem Linken und Juden Léon Blum, dem Führer der Volksfront. Der Begriff der Nation, konkret: der französischen Nation, wird von Céline und den mit ihm verbündeten Intellektuellen aufgegeben zugunsten eines Pakts der Antisemiten über alle nationalen Grenzen hinweg. Möglicherweise war es diese innere Aufweichung des Begriffs der Nation, die zu jener katastrophalen französischen Niederlage im Mai 194o führte, die der Historiker Marc Bloch später als L’étrange défaite bezeichnete.

    Ulrich Bielefeld lässt 150 Jahre deutsch-französischer Geistes- und Sozialgeschichte Revue passieren, um die Wege und Abwege zu rekonstruieren, die Deutschland und Frankreich bei der Erfindung ihrer je eigenen nationalen Identität beschritten haben. Das Verdienstvolle dieses Unternehmens liegt unmittelbar auf der Hand, ist es doch auch heute noch die Form der wie immer definierten Nation, die im wesentlichen für die Integration der Gesellschaft nach innen und außen sorgt. Für die Lesbarkeit des Buches wäre es freilich nützlich gewesen, wenn der Autor auf manchen weitschweifigen Exkurs, auf manche akademische Umständlichkeit und auf manche überflüssige Fußnote verzichtet hätte. Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

    Ulrich Bielefeld: "Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich" Die Studie ist in der Hamburger Edition erschienen. 416 Seiten für 30.- EUR