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Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften

"anno 1735. den 22. [im] Christm[ond] bin ich auf diese sünden=volle welt gebohren worden, in der gemeind Watweil im Näbis ... alda ich auch durch die h[eilige] tauf in den gnaden bund gottes auf=genohmen worden."

Armin Huttenlocher | 07.06.1998
    Man kann nicht voraussetzen, daß der Mann ein Begriff ist, der hier im Alter von dreiunddreißig Jahren seinen Lebenslauf, oder, wie er es nennt, die "beschribung" seiner "leiblichen reiß und pilgerschaft in dieser armen welt" abzufassen beginnt. Friedrich Nicolai hat ihn als Verfasser von "Szenen aus der schlichten Natur" geschätzt; zumindest bei Wieland, Seume und Fichte stand er gelesen im Bücherregal; Hans Mayer, der Literaturhistoriker, hob, so wörtlich, die "einzigartige Stellung dieses wohl ersten plebejischen Schriftstellers in der Literatur des ausgehenden 18.Jahrhunderts" hervor. Dazwischen lagen Epochen. Und auch Hans Mayers einsame Würdigung liegt schon wieder Jahrzehnte zurück - kleiner Einspruch wider das fortschreitende Vergessen.

    "anno 1741. Sind meine elteren von [Watwil] weg gezogen, in die gemeind Krinau ins Dreischlat, alwo ich bin erzogen worden bey guter milchspeise, vilzeit ohne brot meine erste arbeit war speinen [spinnen], und geisen hüten ... da ich aber beim geisen hüten zu gottlosen mitgesellen kam, und mich zu ihnen geselete, wurde jch in meiner schwachen jugent jahren mit hingerisen und habe bey ihnen nichts gelehrnet."

    Ulrich Bräker heißt der noch sichtlich unbeholfene Schreiber, der hier zu harscher, gottesfürchtiger Selbstkritik anhebt. Seiner Mit- und Nachwelt hat er sich als "der arme Mann im Tockenburg" vorgestellt - mit einer auf frühen Tagebüchern beruhenden Autobiographie, die ihren Platz im Schatten der Lebensgeschichten der Großen und schulisch Gelehrten einnahm; die von diesen allerdings sehr viel und aufmerksam gelesen wurde seit ihrer ersten Veröffentlichung im Jahre 1788 - mit einer immer wieder ähnlichen Mischung aus Staunen und Bewunderung, Irritation und Herablassung; mal eher belächelt und abgethan, dann wieder vereinnahmt und hochstilisiert. Differenziert betrachtet, literarisch, kulturell und geschichtlich angemessen bewertet und eingeordnet wurden die Lebensgeschichte und natürlichen Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg kaum. Sicher, die Editionssituation trug einiges dazu bei. Einer wie Bräker hat keine Vorgaben gemacht. "Der arme Mann im Tockenburg" hat sich auch nach dem Erfolg seiner - eher zufällig und ohne sein Zutun zustande gekommenen - ersten Veröffentlichung nicht als Schriftsteller coram publico gesehen. So hat man seine Schreibhefte und Kladden zerfleddert, nach Gutdünken in Auswahlbänden zusammengestellt und oft nach ebenso subjektiven wie kuriosen Kriterien kommentiert. Mit unverhohlenem Spott referiert selbst sein erster Verleger Johann Heinrich Füßli gekürzte Passagen der von ihm herausgegebenen Auszüge aus Ulrich Bräkers Tagebuch:

    "...1775...fing Bräker...an, aus jedem Buch das er las kurze Auszüge von dem zu machen, was ihm aufhebenswerth schien, und meist auch seine unmaaßgeblichen Bemerkungen darüber niederzuschreiben ... Natürlich alles conterbunt unter einander, wie es dem lieben Manne in die Hände kam."

    Wer also war der Mann, der sein nächtliches und sonntägliches Schreiben - auf der Bank vor dem Haus, in der Kammer bei schwachem Licht - als "zusammengeflickte Kritzeleien", die Ergebnisse als "kuderwelsche Papiere" abtat, und dessen Werk erst jetzt, aus Anlaß seines 200. Todestages, in einer umfassenden, nach den Handschriften und Erstdrucken erstellten, kritischen Ausgabe zugänglich gemacht wird?

    Wer war dieser Geist, der so viel Beachtung auf sich zog und der, wiewohl doch offenbar naiv und unbedarft, dergleichen Nachdenklichkeit, und angeregten Widerspruch hervorzurufen vermochte - unter Zeitgenossen und weit darüber hinaus?

    Ulrich Bräker war, zunächst und vor allem, Kind seiner Zeit und Spiegel der Not. Hirtenjunge, Tagelöhner, Söldner im fridericianischen Heer; Salpetersieder, Kleinbauer, Garnhausierer, Baumwollweber. Glück hat er keines gehabt in seinem Leben, außer vielleicht, daß ihm der Gott, an den er glaubte, von allen Formen menschlicher Verbitterung verschont zu haben scheint.

    Geboren 1735 im ostschweizer Näbis, gestorben 1798 in Wattwil bei St. Gallen. Das liegt für damalige Verhältnisse nur einen Fußmarsch auseinander. Bräkers weitester Ausflug darüber hinaus war schon am zweiten Tag kein freiwilliger mehr: Als Neunzehnjähriger hat er sich beschwatzen lassen "in die frömde zu gehen" um, wie er schreibt, "bey guten herren diener zu werden". Erst auf dem Schiff nach Schaffhausen bemerkt er, daß er Soldatenwerbern Friedrichs des Großen in die Hände gefallen ist. Betrogen von falschen Versprechungen, gezwungen unter Androhung brutaler Gewalt, findet er sich wieder in fremder Uniform und auf dem Weg in Preußens dritten Krieg um Schlesien. Bräker desertiert, kaum daß die Schlacht bei Lobositz am 1. Oktober 1756 begonnen hat. Der Mut der Verzweiflung und jene Gewitztheit, die später auch an manchen Stellen seines Schreibens durchschimmern wird, bringen den Bauerntölpel in seine Heimat zurück. Die Welt, die sich ihm bietet, ist klein. Ihre Enge indes wird er aus eigener Kraft überwinden. Wie er das schafft, macht den einen Teil seiner Bedeutung aus; was er dabei schafft den anderen.

    Ausnahmslos werden auf längere Sicht alle Versuche Bräkers scheitern, sich mittels wirtschaftlicher Eigeninitiative auch sozial etwas emporzuhangeln und festeren Boden unter die Füße zu bekommen für sich und seine Familie. Sei es, daß er sich mit geliehenem Geld und auf kleinster Stufe im Baumwollhandel oder als Garnhausierer versucht; sei es, daß er in seinem mit eigenen Händen und fast ohne Eigenkapital erbauten Häuschen eine kleine Weberei aufbaut und Tagelöhner in Anstellung nimmt; sei es, daß er sich nebenher, zur Grund- und Notversorgung eine bescheidene Landwirtschaft mit zwei, drei Kühen und einigen Ziege aufbaut - nach kurzen Aufschwüngen steht er wieder und wieder vor dem Nichts. Und das in einer Ehe, die wenig Wärme und Zuneigung gekannt zu haben scheint:

    "sonst aber sit ich im ehstand hab ich unter villem streit und kampf zugebracht aber wenig gesiget bald kame mißvergnügen bald sonst allerhand wünschende gedanken bald ansprünge des satans allerhand unreine einfähle bald unwillen und verdrießlichkeit, zorn und rachbegird ..."

    Nur einige Wochen lang hat Bräker die kleine Dorfschule besucht; Kinder aus seinen Verhältnissen werden zu jener Zeit auf dem Feld, im Stall, am Spinnrad oder am Webstuhl gebraucht. So wird er sich Lesen und Schreiben weitgehend selbst beibringen, mit Hilfe der Bibel und frommer Traktätchen. Der Pietismus hat es nicht schwer, die reformierten bäuerlichen Seelen um sich zu scharen. Wo das Leben sich nur von einem Tag zum nächsten hangelt und nicht aus sich heraus Ziele, Möglichkeiten und Sinn offenbart, da bieten die Rituale der Religion und das Vertrauen in Gottes gerechten Zorn doch wenigstens Orientierung und Halt. Im Jahre 1768 legt Ulrich Bräker ein Tagebuch an.

    "meine absicht ist, nicht etwaß zum schein, oder aus hochmuth hier zu schreiben, sonderen auß liebe, zu meinen kinder, und den meinigen. daß wann ich von ihnen, in die ewigkeit muß, sey einne schrifftliche vermahnnung, von mir haben."

    Dreißig Jahre lang, bis an sein Lebensende wird er es führen, Abend für Abend, mit protestantischer Disziplin und einer erstaunlichen Erweiterung seines geistigen Horizonts wie seiner schriftstellerischen Ausdruckskraft. Zunächst freilich gleichen seine Alltagsreflexionen noch einer selbstauferlegten, streng ritualisierten Lebensbeichte. Der arme Mann im Tockenburg glaubt noch fest an Gottes strafende Gerechtigkeit als Grund für jede Unbill und das ganze irdische Purgatorium.

    "der mißbrauch der gaaben gottes, allerhand üppigkeit, hofart und pracht, hat sehr überhand genohmen, in den wolfeillen und gesegneten zeiten. Daher ist gott genöthiget worden, uns zu zeigen, von wem, und woher wir alle gute gaben haben. wan es nur nicht noch immer hiese, herr du schlagest sey. aber es thut ihnen nicht weh ... daher wol zu förchten ist der herr wer[de] noch stärker müsen drinschlagen."

    Ulrich Bräkers Gott ist keiner, der in großer Güte verzeiht. Dieser Gott ist eine richtende Instanz. Ein Heiland, bei dem der Mensch nicht viel zu lachen hat; vor den man als Sünder im Bußgewand tritt, als Nichtswürdiger, der sich zum Zeichen seiner Scham und Niedrigkeit in einer Litanei von Selbstanklagen und Geißelungen ergeht.

    "hüte muß ich klagen u. trauren, und über niemand als mich selbst ... über meine faulheit und trägheit, das ich die mir anerbottene krafft meines treüen heylands nicht brauche, sonder mich als ein fauller schlingel, von disem höllen geist übereillen lase; pfuy das ich mich nicht schäm vor gott, und allen h.[eiligen] englen, ja vor allen leblosen geschöpfen gottes, das ich dem hollengeist der meiner spottet, dergleichen lapalien zulieb thue. Nun in deiner krafft o heyland, sol es das letzste mal sein ..."

    Bräkers Tagebücher sind sein eigentliches schriftstellerisches Werk. In nuce zeichnen sie seine persönliche Entwicklung und eine geistige Befreiung nach, die alles andere als unproblematisch war. Denn wie und mit welchen Folgen der ‘arme Mann im Tockenburg’ die pietistischen Frömmeleien und seine angeborenen Standesgrenzen schließlich doch überwindet, kann kaum anders denn als besonders zynische Form einer Ironie des Schicksals verstanden werden. Acht Jahre schon schreibt er allabendlich seine Erlebnisse und Beobachtungen, Verfehlungen, Sünden, Fürbitten und Besserungsschwüre nieder, als im Jahre 1776, die "Reformierte Tockenburgische Moralische Gesellschaft" zu Lichtensteig, dem Hauptort im Tockenburg, für ihre, wie es in der Ausschreibung heißt, "philanthropischen" Mitglieder einen Aufsatzwettbewerb ausschreibt. Vier Preisfragen werden formuliert, von denen eine in einer ausführlicheren Abhandlung erörtert werden soll. Ulrich Bräker ist zwar kein Mitglied, reicht aber, ermuntert von einem befreundeten Schulmeister, eine Denkschrift ein - und erhält den Preis: einen Dukaten, verbunden mit dem Angebot zur Mitgliedschaft, die ihn vier Dukaten je Mitgliedsjahr kosten wird.

    So ist es nicht seine alltägliche Plackerei, sondern der allenthalben in seinem privaten Umfeld eher mit Unmut quittierte Hang zur Literatur, sein ständiges Bücherlesen und Tagebuchschreiben, das ihn von einem Tag auf den anderen heraushebt aus seiner sorgengeprägten und kleinmütigen Alltagswelt - freilich ohne auch nur ein Quentchen an seiner Situation zu ändern, geschweige die Not zu lindern, die ihm und seiner sechsköpfigen Familie selbst in dieser Zeit im Nacken sitzt, da sich nach längerer Wirtschaftskrise ein Aufschwung abzeichnet und er selbst als kleiner Garn- und Tuchfabrikant Fuß zu fassen scheint.

    Im Gegenteil - die "Moralische Gesellschaft" ist eine exklusive, bürgerliche Vereinigung, eine Honoratiorengesellschaft von Pfarrern, höheren Beamten, Ärzten, von erfolgreichen Kaufleuten, Fabrikanten und Lehrern. Ulrich Bräker wird der erste sein, der nicht durch ein einstimmiges Votum aufgenommen wird. Es ist eine Mesalliance. Sein Leben verwandelt sich in einen permanenten Widerspruch. Die Mitgliedschaft in der "Moralischen Gesellschaft" eröffnet ihm den Zugang zu einer immensen Bibliothek. Er lernt Persönlichkeiten wie Lavater und seinen späteren Verleger Füßli kennen. Unversehens sind ihm Gespräche ermöglicht über die Bücher, die er liest und die Gedanken, die ihn bewegen. Wahrnehmung, Ausdruckskraft und Reflexionsvermögen werden, wie seine Tagebücher belegen, aufs Faszinierendste geschärft. Sein fromme Nabelschau, sein dilettierendes Erlebnisschreiben weitet sich und nimmt Konturen an, wird zu einer Erörterung von gesellschaftlichen Erscheinungen, passagenweise durchsetzt mit veritablen, treffsicheren Ansätzen von Sozialkritik.

    Der arme Mann ist reich belohnt und zahlt doch einen hohen Preis. Abends bürgerlich reüssierender Kleinphilosoph, tagsüber nach wie vor - und eigentlich immer schlimmer - der armselige Baumwollspinner, das darbende Bäuerlein. Bräker lebt im Spagat zwischen geistiger und realer Lebenswelt. Er findet zu sich und schafft sein Werk in unablässiger Grenzüberschreitung, wobei so mancher Gang nach Tockenburg, zu dem ihm nun erschlossenen, bürgerlich-elitären und gebildeten Kreis, aus familiärer Sicht doch eher einem Absturz gleicht. Einfach kann’s nicht gewesen sein mit ihm.

    "wurde von fr[eund] g. v. zu mitagessen geladen, dachte aber nicht das ich den gantzen tag wollte versaumen, aber eittele geselschafft hat mir schon manche gnaden stunde geraubet. auch hütte, da mich der wein noch mehr unachtsam u. lichtsinnig machte, gienge dieser schöne tag hin, ohne etwas für meine unsterbliche seele zuwürken. ach das ich doch einmal möchte klug werden ... ...eben jetzo fallen mir ein die worte, der faule stirbt über seinen wünschen. Bald besine ich mich, und sehe das es vergebliche wünsche sind, das ich noch in meinem alten stand."

    Es ist - zumal in Zeiten, da auch bei kulturell ambitionierten Verlagen die Mischkalkulation nicht mehr so ohne weiteres funktioniert - ein wahrlich tapferer und höchst achtenswerter Entschluß, wenn sich jetzt die Häuser von C.H. Beck in München und Paul Haupt in Bern zusammentun, um gemeinsam Ulrich Bräkers Werk, das bislang nur in Bruchstücken transkribiert und veröffentlicht war, in einer fünfbändigen, mehrere tausend Seiten umfassenden Ausgabe zu edieren. Schon die ersten drei Bände, enthalten Ulrich Bräkers Tagebücher 1770 - 1798, von denen der eine in diesem Frühjahr erschienen ist, die beiden übrigen im Spätsommer folgen werden, machen deutlich, daß es sich beileibe nicht nur um ein Unterfangen handelt von ausschließlich wissenschaftlichem Ehrgeiz oder rein philologischem Belang.

    Bräkers Schriften geben aus einzigartiger Perspektive Einblick in eine Zeit und in eine Welt, die uns ansonsten nur von gelehrter, distanziert reflektierender Warte zugänglich sind. Der hier sich selbst und seine Umgebung beschreibt gehört zur sozialen Unterschicht, und die hat - wie auch im 18. Jahrhundert, wo sie kaum Lesen und Schreiben kann? - ansonsten keine unmittelbare, authentische Stimme im großen historischen Bericht.

    Noch immer werden, wo es um Einschätzung oder Vermittlung von Ulrich Bräker und seinem autobiographisch verhafteten Schreiben geht, vermeintliche Parallelen bemüht und vorschnelle Vergleiche gezogen zu anderen Selbstbiographen des 18. Jahrhunderts wie insbesondere Johann Gottfried Seume oder Johann Gottlieb Fichte. Indes, die beiden mögen wie Bräker der sozialen Unterschicht entstammen, sie hatten doch - wie schon Hans Mayer in seinem Plädoyer für eine ernsthaftere Beschäftigung mit Bräker betont - die ungleich günstigeren Voraussetzungen. Seumes Vater war freier Bauer, Böttcher und Innungsmeister, ja, schaffte es später sogar bis zum Gastwirt empor. Und Seume hatte, zumal er obrigkeitliche Unterstützung erhielt, die Chance an die Universität zu gehen. Ähnlich Fichte, der zwar aus sehr bescheidenen, dörflichen Verhältnissen kam, aber auf menschlichen Zuspruch und, wenn auch in bescheidenem Rahmen, auf finanzielle Mittel rechnen durfte, wenn es um seine geistige Bildung ging.

    Ulrich Bräker hingegen stand nicht nur allein, er mußte sich vielmehr zeitlebens in seinem Schaffen behaupten: gegen die Widrigkeiten und Widerstände, gegen das Unverständnis seiner unmittelbaren Lebenswelt. Er sah durchaus die Fortschritte in seiner Entwicklung und bezog ein wachsendes Selbstbewußtsein daraus. Genauso jedoch erkannte er schon früh die Grenzen seiner geistigen und gesellschaftlichen Emanzipation und verfiel darüber regelmäßig in tiefe Niedergeschlagenheit. Entsprechend kraß auch sitzt er über sich selbst und seine literarische Produktion zu Gericht. In einem 1789, also nachträglich verfaßten, "Vorbericht" zu seinen ersten Tagebuch-Heften aus den Jahren 1768 - 1778 (die den ersten Band der jetzt erscheinenden Werkausgabe bilden) schreibt Ulrich Bräker:

    "hier das aller erste, gehefftete bändchen, welches ich vor 21 jahren zusamen stopelte ... ich schriebs ... in dennen jahren da alle salomonischen herlichkeiten bey mir ein ende haten und zu lauter eitelkeiten wurden ... mit unsäglicher mühe und anstrengung wollte ich recht zierlich schreiben lehrnen - und laß immer wieder mit verdruß - denn ich dachte kein buchstabe köne so schön und zierlich genug sein ... meinen wichtigen hirngeburthen einen destho grösseren eindruk zu verschaffen."

    Unüberhörbar hat Bräker zu diesem Zeitpunkt die wohl bemerkenswerteste und weitreichendste Zäsur bereits vollzogen, die er seinem autodidaktischen Erziehungsprozeß verdankt: Er hat sich freigemacht von einem Pietismus in strengster asketischer Form, der umso skurriler und verquälter, ja: tragikomischer wirkt, als unser armer Mann im Tockenburg in seinem tiefsten Inneren durchaus ein sinnenfroher, lustvoller Zeitgenosse gewesen sein muß.

    "der wein und die weiber bethören die weisen, warum sollten sey mich einfältigen nicht bethören. Deiß laster hat mich lang nicht nicht [sic! Doppelte Verneinung!] bemeisteret: ach wär es auch dißmal nicht geschehen; auch nun und nimmermehr sol es geschehen. O herr hilff.

    Ulrich Bräkers Tagebücher sind ein kulturgeschichtliches Zeugnis von außergewöhnlichem Rang. Daneben aber bieten sie dem, der sich einläßt auf sie, ein Lektüreerlebnis von seltener Nähe und Unmittelbarkeit. Die sechsköpfige Herausgebergruppe hat gut daran getan, die Wiedergabe des Textes freizuhalten von Fußnoten und eingearbeiteten Anmerkungen, statt dessen den textkritischen Apparat im Anhang unterzubringen. So sind auch äußerlich die Umstände dafür geschaffen, einen fast schon Vergessenen doch noch zu entdecken.