Zehn Jahre ist es nun her, dass Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik zu einem Staat wurden - nur wenige werden jedoch behaupten, dass daraus ein Land geworden ist. Ein wirkliches Zusammenwachsen hat es nicht gegeben. Das Wort "Wachsen" bezeichnet ja eine organische Entwicklung, etwas, das sich Schritt für Schritt verändert, etwas, das seine Zeit braucht. Und Zusammenwachsen beinhaltet, dass sich alle Beteiligten verändern. Nicht so nach der Wende in Deutschland. Während man im Westen einfach so weitermacht, so weitermachen kann wie bisher, sieht sich der Bürger im Osten einem Wandel ausgesetzt, der für den Einzelnen kaum steuerbar erscheint. Die Ostberliner Journalistin Jutta Voigt in einer ersten Bilanz von 1991:
Jutta Voigt: "Die im Osten stehen benommen vor ihrem ausgetauschten Alltag. Alles ist anders. Ob besser, ob schlechter, ob schöner, ob hässlicher - es ist anders... Ihre Umgebung verändert sich ohne ihr Zutun. Sie sind in einem anderen Land gelandet, ohne sich von der Stelle gerührt zu haben. Sie spüren Zugwind, obwohl sie nicht fahren. Was sie schmecken, schmeckt anders, was sie riechen, riecht anders, es fühlt und hört sich alles anders an. So glauben sie zuweilen, ihre fünf Sinne nicht mehr beieinander zu haben. War auf der gegenüber liegenden Straßenseite gestern noch ein Lebensmittel-Konsum, wo man zwanzig Jahre lang Milch gekauft hat, ist übermorgen an derselben Stelle eine McPaper-Filiale, frisch und neu, blau-gelb-rot. Wo vorige Woche noch ein unerschlossenes Souterrain vor sich hin dämmerte, kann in der nächsten schon ein eifriger Computerhändler eingezogen sein, der drei Monate später einen Räumungsverkauf annonciert. Es folgt Sarah Youngs Erotic-Markt. Ein Blitzkrieg gegen die Erinnerung."
Keine neun Jahre nach Jutta Voigts Bilanz kann man die Ergebnisse dieses Blitzkrieges studieren. Für die Ausstellung "Berliner Ring 2000. Bilder und Texte vom Wandel", in deren Rahmen auch Jutta Voigts Text zu lesen ist, hat die Fotographin Elke Nord einen Fotoessay zusammengestellt. Er kontrastiert Schwarzweißfotos aus den Wendejahren 1989/90 mit Farbaufnahmen aus den Jahren 1999/2000. Die Orte: Kleinstädte und Dörfer, vorgelagert der Metropole Berlin: Ahrensfelde, Paaren, Niederlehme und wie sie alle heißen. Nicht fahnenschwenkende Menschen stehen dabei im Mittelpunkt, nicht mauernstürmende Berliner oder protestierende Altlinke. Es sind alltägliche Bilder von Häusern und Hauseingängen, von Geschäften und Fabrikanlagen, zwischen deren Entstehung zehn Jahre liegen. Zehn Jahre und ein Ideologie- und Regimewechsel.
Musik (Barbara Thalheim): Im Osten geht die Freiheit auf) "Amerika setzt sich auf Mauern und Wände zuerst siegt die Werbung und das nicht zuletzt Das Erdgeschoß gehört wieder der Straße als Handel mit buntem verlockenden Müll Die Irren suchen sich Messer, Pistolen Das Hakenkreuz sucht sich enttäuschte Jungs Die Pornos erschrecken die weichen Herzen Die Bettler erschrecken die Bürger zutiefst Im Osten geht die Freiheit auf Im Westen geht sie schlafen im Osten kennt sie keine Nacht im Westen hat sie es vollbracht."
Der Tristesse des real existierenden Sozialismus steht die Uniformität der westlichen Fußgängerzonen-Gesellschaft gegenüber, farbig und geschniegelt, aber gleichzeitig leblos und vor allem meistens geschmacklos. Manchen mit Werbung beklebten Fassaden sieht man noch das Heruntergekommene an, das aus DDR-Zeiten Übriggebliebene. Man merkt, hier ist nichts Eigenständiges gewachsen, hier wird die Vergangenheit eingetauscht gegen etwas grundsätzlich Neues. Ob dieser Tausch, der eben nicht wie der der Währung eins zu eins erfolgt, auch für die Menschen gut ist, bleibt dahingestellt. Der Herausgeber des Bildbandes, Ulrich Eckhardt, schreibt in seinem Vorwort:
"Das Kopieren einer für fortschrittlich gehaltenen westlichen Ästhetik führt zu auffälligen Übertreibungen und Ungeschicklichkeiten. Überzogene Reklame und realitätsferne Werbung sind Anzeichen von Unsicherheit im Umgang mit veränderten Lebensbedürfnissen. Die Nachahmung geht mit dem Verlust traditionellenr Maßstäbe daher. Schreiende Farben und eklektizistische Formen, landschaftsfremd, auftrumpfend und maskenhaft, sind äußere Anzeichen eines geschichtlichen Bruchs und Traditionsverlusts."
Vor der Wende umfasste das Umland Westberlin wie ein undurchdringlicher Gürtel, heute erobert der Westteil der Stadt mit seiner Lebensweise und seinen Bedürfnissen Groß Glienicke, Teltow und Ludwigsfelde neu. Brandenburg wird wieder der Vorgarten von Berlin, auch wenn das den Brandenburgern eigentlich nicht recht ist. Golfplätze, Einkaufszentren und Gewerbegebiete möblieren die Landschaft neu. Aus so manchem Konsumladen wurde ein Küchenstudio, aus der Kreissparkasse ein Reisebüro, aus dem Bahnübergang, an dem man 1989 noch ein Pferdefuhrwerk warten sieht, wurde eine gepflasterte Unterführung, wie sie zum Inventar jeder beliebigen westdeutschen Stadt gehört. Und der falsche besitzanzeigende Apostroph, den es in der deutschen Sprache eigentlich gar nicht gibt, suggeriert für Mahlow´s Fruchtoase eine Weltläufigkeit, die sie gar nicht besitzt. Doch wer wie die Organisatoren der Ausstellung unterstellt, dass diese Entwicklung eine spezifisch ostdeutsche sei, der täuscht sich. Ein kurzer Besuch in Städte des Rheinlandes oder des Ruhrgebiets z.B. genügt, um zu entdecken, dass auch im Westen Tradition im Städtebau nicht unbedingt groß geschrieben wird. Auch hier wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vielerorts einfach das Neue gegen das Alte getauscht ohne Rücksicht auf jedwede Ästhetik. Die Konfrontation mit den Aufnahmen aus den Jahren 1990 und 2000 macht dem Westbesucher deutlich, in welch traditionsloser und austauschbarer Umwelt er selber lebt. Wenn ein neues Fahrradgeschäft in Glindow mit "full service" "rund ums Bike" wirbt, dann ist das weniger ostdeutsche Unbeholfenheit oder Ausdruck gewollter Professionalität, sondern macht klar, wie sehr wir alle uns daran gewöhnt haben, dass Geschäft eben "business" ist.
Musik: "Im Osten geht die Freiheit los so dumm wie junge Pferde im Westen ist sie klug und alt und senkt sich in die Erde."
Eine Entwicklung, die im Westen vierzig Jahre Zeit hatte, hat sich im Osten in weniger als einer Dekade vollzogen, mit all den Unzulänglichkeiten und Unbedarftheiten, die das mit sich bringt. Und doch geht von den Bildern und den Texten in dem Band "Berliner Ring 2000" mehr als nur ein Hauch "Ostalgie" aus. Sei es, weil das Schwarz-Weiß der alten Aufnahmen bei all der Schäbigkeit ihres Gegenstandes eben romantischer und verklärender wirkt als die brutale Farbigkeit der Fotos neueren Datums. Sei es, weil alles, was vergeht, Wehmut hervorruft, denn nie war eben immer alles schlecht, auch wenn es jetzt, wie die Lenin-Inschrift in Glindow, einfach ausradiert wird. Vergessen wird dabei allerdings, dass die Veränderung auch gewollt war, vielleicht nicht so wie sie dann eingetroffen ist, aber doch gewollt und durch Wahlen bestätigt. Das heißt noch nicht, das diese Gesellschaft mit sich ins Reine gekommen ist,. Ein Beweis dafür sind diese Fotos, die das Klischee bestätigen, das da heißt: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Musik: "Nichts ist unendlich so sieh das doch ein ich weiß Du willst unendlich sein schwach und klein Nichts ist von Dauer was keiner recht will auch die Trauer wird da sein schwach und klein"
Brigitte Baetz über "Berliner Ring 2000. Bilder und Texte vom Wandel". Der Ausstellungskatalog ist herausgegeben von Ulrich Eckhardt, umfasst 191 Seiten und kostet 38 Mark. Zu beziehen beim Verlag Bostelmann&Siebenhaar Berlin - und natürlich direkt in der Ausstellung, im Berliner Willy-Brandt-Haus noch bis zum 18.Oktober.