Ulrich K. Preuß wartet nicht mit steilen Thesen auf. Dafür hat er einen anregenden, kenntnisreichen Essay geschrieben. Das gilt jedenfalls für den ersten, den Hauptteil seines Buches, der dem Verhältnis von Krieg und Völkerrecht, von Politik und Verbrechen gewidmet ist. Der zweite Teil hingegen, in dem Preuß unter dem Stichwort "Blasphemie" die ausgebliebene Modernisierung in den islamischen Länder schildert, die fehlende Trennung von Staat und Religion kritisiert, auf die metaphysische Figur des Bösen zu sprechen kommt und die Attentäter des 11. September als Gotteslästerer entlarvt, die exkommuniziert gehörten - dieser Teil wirkt angehängt, wie ein unausgegorenes zweites Buch und ist vergleichsweise unergiebig. Der Schwerpunkt der Analyse liegt bei den sogenannten "neuen Kriegen". Preuß fragt, welche Konsequenzen der Formwandel bewaffneter Gewalt für die internationalen Beziehungen hat. Denn das "Völker"-Recht, das ja genauer gesagt ein Recht souveräner Staaten ist, zielt darauf ab, die Gewalt zwischen ihnen einzuhegen: durch Regeln für Krieg und Frieden, für die Schonung von Kriegsgefangenen und Zivilisten. Doch Kriege herkömmlicher Art bestimmen schon seit längerem nicht mehr das Bild: Die Statistik weist für die 50 Jahre bis 1995 nicht weniger als 164 bewaffnete Konflikte aus. Die Zahl der Bürgerkriege steigt. In den "neuen Kriegen" der Gegenwart bilden ethnische Konflikte und Bandengewalt, Flucht und Hunger eine kaum zu unterscheidende Gemengelage. Fachleute sprechen von "komplexen humanitären Katastrophen", wenn sie die vor allem nach 1989 zu beobachtende "Entgrenzung des Krieges" umschreiben, konstatiert Preuß:
Die amorphen Gewalttätigkeiten in zerfallenen Staaten und deren Zerfließen mit dem organisierten Verbrechen in den "neuen Kriegen" haben den klassischen, von Clausewitz vorausgesetzten Begriff des Krieges (zwischen Staaten) weitgehend zur Auflösung gebracht. Doch nun scheint sogar diesem Zustand gegenüber noch eine Steigerung des Verfalls möglich zu sein: Der Terrorismus "strategischer Selbstmordattentäter"
Diesen Befund haben in letzter Zeit andere Autoren vielfach variiert. Das Originelle der Analyse von Preuß liegt darin, dass er die Widersprüche, die ein solcher Wandel für das überkommene Völkerrecht mit sich bringt, klar aufzeigt. Im Kern geht es darum, dass das traditionelle Verständnis der UN-Charta der neuen Lage nicht gerecht wird. Die Charta, 1945, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensordnung zwischen Staaten höchst unterschiedlicher politischer Systeme beschlossen, ächtete nicht nur den Angriffskrieg, sondern statuierte ein striktes Interventionsverbot. "Humanitäre Katastrophen", ethnische Säuberungen oder die Beherbergung von Terroristen sind daher nach der alten Souveränitätslehre innere Angelegenheiten.
Dagegen geht Preuß von der an Boden gewinnenden Einsicht aus, dass die Zeit der ungeteilten staatlichen Souveränität zu Ende geht. Das im Entstehen begriffene neue Völkerrecht möge sich, hofft er, "vom Koordinationsrecht souveräner Staaten zum Recht der internationalen Gemeinschaft" entwickeln - zu einer "Ordnung der Welt", in der staatliche Herrschaftsgewalt im Namen der Menschenrechte gezügelt wird.
Preuß, der angesichts Himmel schreienden Unrechts dem "bewaffneten Kampf für die Menschenrechte" das Wort redet, warnt allerdings davor, Artikel 51 der UN-Charta, der einzig den Verteidigungskrieg für legal erklärt, um einen neuen Tatbestand zu ergänzen. Statt dessen setzt er, so wie viele in Europa, vor allem auf den Sicherheitsrat, der nach Art. 39 und 42 der UN-Charta bewaffnete Interventionen autorisieren kann, die der Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit dienen. Allerdings müssten die Begriffe "Frieden" und "internationale Sicherheit" so weit interpretiert werden, dass ihre Anwendung den "heutigen Bedingungen der Weltzivilisation" einigermaßen gerecht wird. Für das notorische Problem, dass der Sicherheitsrat durch das Vetorecht eines ständigen Mitglieds jederzeit gelähmt werden kann, hat freilich auch Preuß keine Lösung.
Das Gleiche gilt für die in den Anfängen steckende internationale Strafverfolgung: Der Autor feiert die Einrichtung des internationalen Strafgerichtshofs als großen Fortschritt. Angesichts des Boykotts gerade durch die USA muss er freilich einräumen, dass eine effektive Strafverfolgung der Vereinten Nationen noch in weiter Ferne liegt. Unter den gegebenen Umständen begrüßt er die Intervention der USA und ihrer Alliierten in Afghanistan, mag sie auch völkerrechtlich "nicht über jeden Zweifel erhaben" sein: Diese Intervention, formuliert Preuß, sei
so etwas wie ein Hybrid zwischen legitimer Selbstverteidigung, Zwangsvollstreckung eines hypothetischen Haftbefehls gegen Bin Laden und humanitärer Intervention zur Befreiung des Landes.
Dem naheliegenden Einwand, in der Grauzone von "humanitärer Selbstlosigkeit und imperialer Machtlogik" diene der gegen den Terrorismus ausgerufene Krieg der ideologischen Bemäntelung US-amerikanischer Hegemonialinteressen, der schnöden Sicherung von Öl- und Gasreserven, diesem Einwand begegnet Preuß mit dem Argument, dass "die Moral in der Regel ohnehin nur als Parasit des Interesses überleben" könne. Selektive Hilfe sei besser als gar keine:
Manchmal bedarf es des geostrategischen oder wirtschaftlichen Interesses eines mächtigen Staates, um eine Intervention auszulösen. In einem solchen Fall verbindet sich das Interesse des Hegemons mit den Menschenrechten... Als ein notwendiger "Kollateralnutzen" tritt im Fall des Gelingens der Import eines Mindestmaßes an ziviler Staatlichkeit (hinzu) einschließlich großer Mengen von Versorgungsgütern für die Bevölkerung. Wer an diesem durch strategische Interessen kontaminierten Humanitarismus Anstoß nimmt, mag in der ruhigen Gewissheit leben, dass er seine moralische Reinheit bewahrt. Ebenso gewiss aber ist, dass er die Welt um keinen Deut erträglicher gemacht hat.
Ulrich K. Preuß: Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Zum Wandel bewaffneter Gewalt erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Das Buch hat 153 Seiten und kostet 17.50 Euro.