Schwerfällig rumpelt der überladene Zug aus einem Vorort-Bahnhof von Accra. In dichten Trauben drängen sich junge Männer auf den Trittbrettern, halten sich an den Türen fest.
Die Gleise sind abgenutzt, die Höchstgeschwindigkeit des Zuges erreicht die eines gemütlichen Radfahrers. Nach 18 Kilometern ist die Reise zu Ende. Die übrigen tausend Kilometer des ghanaischen Streckennetzes werden nicht mehr befahren. Ghanas Eisenbahn ist für ihren Eigentümer, den Staat, schon lange ein Sorgenkind.
Das ausgedehnte Gelände des Hauptbahnhofs haben mehrere tausend Händlerinnen und Händler regelrecht besetzt, ohne Mieten zu bezahlen. Dicht an dicht versperren Stände mit Textilien, Schuhen und Haushaltswaren den Zugang. Alle Versuche, die Händler zu vertreiben, sind fehl geschlagen. Die Bahn ist nicht mehr Herrin auf eigenem Grund und hat - resigniert.
Über solche Probleme mit einem schwachen Staat können die Menschen in anderen afrikanischen Staaten nur lachen. In manchen Regionen des Kontinents- etwa den von Bürgerkriegen zerrütteten Ländern Sierra Leone ,Liberia oder im Kongo - besteht der Staat nur noch auf dem Papier. Schulen und Krankenhäuser sind wegen Geldmangels geschlossen, Plünderer rauben die letzten Habseligkeiten, bewaffnete Banden erpressen Schutzgelder. Solche düsteren Szenen - Staatszerfall und Auflösung aller öffentlichen Ordnung - kennzeichnen für den Braunschweiger Politologen Ulrich Menzel die Schattenseiten der Globalisierung. Eine "neue Weltordnung" ist im Entstehen begriffen: Auf der einen Seite schafft der internationale Handel mit Waren, Dienstleistungen und Informationen eine wohlhabende, eng vernetzte globalisierte Welt - auf der anderen Seite werden bestimmte Regionen von Wachstum und Wohlstand regelrecht abgeschnitten. Dazu zählt in erster Linie die Mehrzahl der Staaten Afrikas südlich der Sahara. Für die Menschen dort ist ein "neues Mittelalter" angebrochen.
Mit dem Begriff "neues Mittelalter" meine ich, dass eine wesentliche Errungenschaft der frühen Moderne - und damit der Beendigung des alten Mittelalters - nämlich die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, dass diese in einem Teil der Welt verloren geht. Wir haben das nur nicht wahrgenommen, weil insbesondere in Afrika viele postkoloniale Staaten es zwar vermocht haben, die Symbole des Nationalstaates herzuzeigen - also die Flagge, die Hymne, den Präsidentenpalast, das Flughafenempfangsgebäude und den roten Teppich. Aber das, was in unserem Verständnis ein moderner Nationalstaat an integrierenden Leistungen für seine Gesellschaft erbringt - also Rechtsstaatlichkeit, Schutz des Eigentums, funktionierende Märkte, inneren Frieden und was auch immer, Infrastruktur, Bildungsleistungen - und jetzt sind nur mehr die Symbole, aber nicht dessen Substanz übrig geblieben.
In Afrika leben zwar 13 Prozent der Weltbevölkerung. Aber der Kontinent ist mit weniger als einem Prozent am Welthandel beteiligt. Das Bruttosozialprodukt aller Länder Afrikas südlich der Sahara schrumpft seit Mitte der achtziger Jahre alljährlich um ein Prozent, während Länder wie Thailand, China und Südkorea jährliche Wachstumsraten über sieben Prozent melden. Das Argument, Afrika sei eben bis in die 60er Jahre hinein kolonisiert gewesen und habe nie die Chance gehabt, eine an den eigenen Interessen ausgerichtete Volkswirtschaft aufzubauen können, lässt Menzel nicht gelten. Er vergleicht Afrika mit den bereits früh kolonisierten Staaten Ost- und Südostasiens.
Die meisten asiatischen Gesellschaften, die kolonisiert worden sind, haben zuvor auf eine lange Geschichte von eigener Staatlichkeit, von bürokratischer Tradition, von kultureller Identität zurückblicken können. Während dieses in Afrika, zumindest südlich der Sahara, nur sehr punktuell und nur sehr rudimentär der Fall war.
Für Afrika konstatiert Menzel, dass etliche der nachkolonialen Staatsgründungen - wie etwa Liberia, Somalia oder der Kongo - definitiv gescheitert sind. Das staatliche Gewaltmonopol ist zerbrochen, die wahren Machthaber sind Warlords, die bestimmte Regionen kontrollieren, ihren eigenen Clan mästen sowie ihre Söldner mit den Erlösen aus dem Verkauf von Diamanten, Gold oder Drogen bezahlen. Mancherorts sind so genannte "Gewaltökonomien" entstanden, deren Herrscher sich an humanitären Hilfslieferungen bereichern oder sich den Zutritt der internationalen Helfer zu den Katastrophengebieten bezahlen lassen. Viel zu wenig, so Ulrich Menzel, sei bisher in den Geberländern beherzigt worden, dass Entwicklungszusammenarbeit immer auch auf funktionierende staatliche Institutionen in den Empfängerländern angewiesen ist. Ohne staatliches Gewaltmonopol muss Entwicklungszusammenarbeit scheitern.
Erst wenn das gegeben ist, wenn es inneren Frieden gibt, wenn es Rechtssicherheit gibt, wenn es Schutz des Eigentums gibt, funktionierende Märkte, dann können überhaupt irgendwelche entwicklungspolitischen Strategien greifen.
Notfalls müsse das staatliche Gewaltmonopol auch durch Intervention von außen mit militärischen Mitteln gewaltsam hergestellt werden. Dazu ist in jedem Fall ein Mandat der Vereinten Nationen Voraussetzung. Solche Vorschläge freilich rütteln an der Vorstellung von der Souveränität eines jeden Staates und dem Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Aber die "neue Weltordnung" hat ohnehin die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geltenden Vorstellungen von nationaler Souveränität durcheinander gewirbelt. Menzel registriert eine "neue Dreiteilung" der Welt. Da gibt es erstens die postmodernen Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die freiwillig die staatliche Souveränität auf überstaatliche Institutionen wie Europäische Kommission oder Ministerrat übertragen. Dann sind da die klassischen Nationalstaaten wie die Hegemonialmacht USA, aber auch China, als Beispiele für die "neue zweite Welt".
Und dann haben wir die "neue dritte Welt", eine leider wachsende Zahl von Staaten, die auch Souveränität verlieren, aber nicht aufgrund eines freiwilligen Souveränitätsverzichts, sondern aufgrund des inneren staatlichen Zerfalls. Also den Souveränitätsverlust als Folge von staatlicher Auflösung, von Implosion.
Zu diesen Staaten gehören viele Länder Afrikas, aber auch etliche Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgegangen sind, wie etwa Georgien, Aserbeidschan oder Kirgisien. In Afrika beschleunigt sich der Staatszerfall auch deshalb, weil die meisten Grenzen von den ehemaligen Kolonialmächten willkürlich gezogen wurden und ethnische Gemeinsamkeiten und uralte Gegensätze ignoriert wurden. Es wird noch Generationen dauern, bis die "neue Weltordnung" zu einem friedlichen Gleichgewicht gefunden hat.
Ich prognostiziere einen weiteren Zerfall, der de facto ja schon in vielen großen Staaten wie etwa im Kongo geschehen ist, so dass wir am Ende dann 60, 70, 80, 90 vielleicht hundert Staaten in Afrika haben, wo die Grenzen den Ethnien entsprechen, was ich nicht für dramatisch halte.
Günter Beyer besprach Ulrich Menzel "Paradoxien der neuen Weltordnung", edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 272 Seiten, 11, 00 Euro
Die Gleise sind abgenutzt, die Höchstgeschwindigkeit des Zuges erreicht die eines gemütlichen Radfahrers. Nach 18 Kilometern ist die Reise zu Ende. Die übrigen tausend Kilometer des ghanaischen Streckennetzes werden nicht mehr befahren. Ghanas Eisenbahn ist für ihren Eigentümer, den Staat, schon lange ein Sorgenkind.
Das ausgedehnte Gelände des Hauptbahnhofs haben mehrere tausend Händlerinnen und Händler regelrecht besetzt, ohne Mieten zu bezahlen. Dicht an dicht versperren Stände mit Textilien, Schuhen und Haushaltswaren den Zugang. Alle Versuche, die Händler zu vertreiben, sind fehl geschlagen. Die Bahn ist nicht mehr Herrin auf eigenem Grund und hat - resigniert.
Über solche Probleme mit einem schwachen Staat können die Menschen in anderen afrikanischen Staaten nur lachen. In manchen Regionen des Kontinents- etwa den von Bürgerkriegen zerrütteten Ländern Sierra Leone ,Liberia oder im Kongo - besteht der Staat nur noch auf dem Papier. Schulen und Krankenhäuser sind wegen Geldmangels geschlossen, Plünderer rauben die letzten Habseligkeiten, bewaffnete Banden erpressen Schutzgelder. Solche düsteren Szenen - Staatszerfall und Auflösung aller öffentlichen Ordnung - kennzeichnen für den Braunschweiger Politologen Ulrich Menzel die Schattenseiten der Globalisierung. Eine "neue Weltordnung" ist im Entstehen begriffen: Auf der einen Seite schafft der internationale Handel mit Waren, Dienstleistungen und Informationen eine wohlhabende, eng vernetzte globalisierte Welt - auf der anderen Seite werden bestimmte Regionen von Wachstum und Wohlstand regelrecht abgeschnitten. Dazu zählt in erster Linie die Mehrzahl der Staaten Afrikas südlich der Sahara. Für die Menschen dort ist ein "neues Mittelalter" angebrochen.
Mit dem Begriff "neues Mittelalter" meine ich, dass eine wesentliche Errungenschaft der frühen Moderne - und damit der Beendigung des alten Mittelalters - nämlich die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, dass diese in einem Teil der Welt verloren geht. Wir haben das nur nicht wahrgenommen, weil insbesondere in Afrika viele postkoloniale Staaten es zwar vermocht haben, die Symbole des Nationalstaates herzuzeigen - also die Flagge, die Hymne, den Präsidentenpalast, das Flughafenempfangsgebäude und den roten Teppich. Aber das, was in unserem Verständnis ein moderner Nationalstaat an integrierenden Leistungen für seine Gesellschaft erbringt - also Rechtsstaatlichkeit, Schutz des Eigentums, funktionierende Märkte, inneren Frieden und was auch immer, Infrastruktur, Bildungsleistungen - und jetzt sind nur mehr die Symbole, aber nicht dessen Substanz übrig geblieben.
In Afrika leben zwar 13 Prozent der Weltbevölkerung. Aber der Kontinent ist mit weniger als einem Prozent am Welthandel beteiligt. Das Bruttosozialprodukt aller Länder Afrikas südlich der Sahara schrumpft seit Mitte der achtziger Jahre alljährlich um ein Prozent, während Länder wie Thailand, China und Südkorea jährliche Wachstumsraten über sieben Prozent melden. Das Argument, Afrika sei eben bis in die 60er Jahre hinein kolonisiert gewesen und habe nie die Chance gehabt, eine an den eigenen Interessen ausgerichtete Volkswirtschaft aufzubauen können, lässt Menzel nicht gelten. Er vergleicht Afrika mit den bereits früh kolonisierten Staaten Ost- und Südostasiens.
Die meisten asiatischen Gesellschaften, die kolonisiert worden sind, haben zuvor auf eine lange Geschichte von eigener Staatlichkeit, von bürokratischer Tradition, von kultureller Identität zurückblicken können. Während dieses in Afrika, zumindest südlich der Sahara, nur sehr punktuell und nur sehr rudimentär der Fall war.
Für Afrika konstatiert Menzel, dass etliche der nachkolonialen Staatsgründungen - wie etwa Liberia, Somalia oder der Kongo - definitiv gescheitert sind. Das staatliche Gewaltmonopol ist zerbrochen, die wahren Machthaber sind Warlords, die bestimmte Regionen kontrollieren, ihren eigenen Clan mästen sowie ihre Söldner mit den Erlösen aus dem Verkauf von Diamanten, Gold oder Drogen bezahlen. Mancherorts sind so genannte "Gewaltökonomien" entstanden, deren Herrscher sich an humanitären Hilfslieferungen bereichern oder sich den Zutritt der internationalen Helfer zu den Katastrophengebieten bezahlen lassen. Viel zu wenig, so Ulrich Menzel, sei bisher in den Geberländern beherzigt worden, dass Entwicklungszusammenarbeit immer auch auf funktionierende staatliche Institutionen in den Empfängerländern angewiesen ist. Ohne staatliches Gewaltmonopol muss Entwicklungszusammenarbeit scheitern.
Erst wenn das gegeben ist, wenn es inneren Frieden gibt, wenn es Rechtssicherheit gibt, wenn es Schutz des Eigentums gibt, funktionierende Märkte, dann können überhaupt irgendwelche entwicklungspolitischen Strategien greifen.
Notfalls müsse das staatliche Gewaltmonopol auch durch Intervention von außen mit militärischen Mitteln gewaltsam hergestellt werden. Dazu ist in jedem Fall ein Mandat der Vereinten Nationen Voraussetzung. Solche Vorschläge freilich rütteln an der Vorstellung von der Souveränität eines jeden Staates und dem Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Aber die "neue Weltordnung" hat ohnehin die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geltenden Vorstellungen von nationaler Souveränität durcheinander gewirbelt. Menzel registriert eine "neue Dreiteilung" der Welt. Da gibt es erstens die postmodernen Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die freiwillig die staatliche Souveränität auf überstaatliche Institutionen wie Europäische Kommission oder Ministerrat übertragen. Dann sind da die klassischen Nationalstaaten wie die Hegemonialmacht USA, aber auch China, als Beispiele für die "neue zweite Welt".
Und dann haben wir die "neue dritte Welt", eine leider wachsende Zahl von Staaten, die auch Souveränität verlieren, aber nicht aufgrund eines freiwilligen Souveränitätsverzichts, sondern aufgrund des inneren staatlichen Zerfalls. Also den Souveränitätsverlust als Folge von staatlicher Auflösung, von Implosion.
Zu diesen Staaten gehören viele Länder Afrikas, aber auch etliche Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgegangen sind, wie etwa Georgien, Aserbeidschan oder Kirgisien. In Afrika beschleunigt sich der Staatszerfall auch deshalb, weil die meisten Grenzen von den ehemaligen Kolonialmächten willkürlich gezogen wurden und ethnische Gemeinsamkeiten und uralte Gegensätze ignoriert wurden. Es wird noch Generationen dauern, bis die "neue Weltordnung" zu einem friedlichen Gleichgewicht gefunden hat.
Ich prognostiziere einen weiteren Zerfall, der de facto ja schon in vielen großen Staaten wie etwa im Kongo geschehen ist, so dass wir am Ende dann 60, 70, 80, 90 vielleicht hundert Staaten in Afrika haben, wo die Grenzen den Ethnien entsprechen, was ich nicht für dramatisch halte.
Günter Beyer besprach Ulrich Menzel "Paradoxien der neuen Weltordnung", edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 272 Seiten, 11, 00 Euro