Freitag, 29. März 2024

Archiv

Ulrich Raulff über Literatennachlässe
Eine Käfersammlung schreibt Literaturgeschichte

Das Herzstück des Deutschen Literaturarchivs sind die etwa 1.400 Nachlässe und Vorlässe von prominenten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Doch hier in Marbach könne man kein Wort so gut sagen wie "Nein", erklärte Direktor Ulrich Raulff im Dlf. Jeder Archivmeter koste schließlich Geld.

Ulrich Raulff im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 11.07.2018
    Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA)
    Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) (DLA Marbach)
    Maja Ellmenreich: In Umzugskartons und in Wäschekörben, in Mappen und in Kästen treffen die Erinnerungen in Marbach ein – auf der Schillerhöhe hoch oben über dem Neckar. Lesbare Erinnerungen sind es – mal leichter, mal schwerer zu entziffern –, die im Deutschen Literaturarchiv ihren Zielort erreichen, um für die Nachwelt erhalten zu bleiben, um sortiert und archiviert und um der Forschung zur Verfügung gestellt zu werden. Wenn wir in diesen Sommerwochen in "Kultur heute" über das Erinnern und das Vergessen sprechen, dann ist das "literarische Gedächtnis Deutschlands", wie das Literarchiv in Marbach mit seinen rund 1.400 Literaten-Nach- und -Vorlässen auch genannt wird, natürlich unser Thema. Briefe von Franz Kafka finden sich in Marbach ebenso wie die Archive solch bedeutender Verlage wie Suhrkamp oder Insel oder die Nachlässe von Gottfried Benn und Martin Heidegger, Notizbücher von Peter Handke und…und…und…
    Der Historiker und Publizist Ulrich Raulff ist seit 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und wird dieses Amt noch bis Ende des Jahres innehaben. Am 1. Oktober wird er als neuer Präsident die Leitung des Institutes für Auslandsbeziehungen übernehmen. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen.
    Herr Raulff, sind Sie nach vierzehn Jahren eigentlich geübt darin, das Gespräch mit erfolgreichen und nicht mehr ganz jungen Literaten auf das Thema Nachlass zu lenken? Sagen Sie da ganz unverhohlen: Wir schätzen Ihr Werk und würden uns eines Tages über Ihr Archiv freuen?
    Ulrich Raulff: Ja, das kann man zum Beispiel sagen. Das ist durchaus sehr formvollendet formuliert. Wir schleichen uns auch gerne mit dem Neologismus "Vorlass" hinweg. Das ist das, was Robert Musil den "Nachlass zu Lebzeiten" nannte.
    Ellmenreich: Da sind Sie etwas charmanter, weil Sie nicht den Tod ins Spiel bringen, sondern einfach das reiche Archiv, das jetzt schon irgendwo in Kästen und in Schubladen schlummert?
    Raulff: So ist es, und mancher hört diesen Unterton. Reinhart Koselleck etwa, der große Historiker, hörte das sofort, wie ich mich da rüberschleichen wollte, und sagte: "Reden Sie doch keinen Unfug! Ich weiß doch, was Sie meinen: meinen Nachlass."
    Ellmenreich: Dann war die Sache ausgesprochen und es ging seinen Lauf?
    Raulff: Ja, und zwar in einer häufig zu beobachtenden Weise. Die erste Reaktion war: "Das können Sie vergessen, bei mir gibt’s gar nichts." Einige Wochen später traf ich ihn wieder; da kam er schon auf mich zu und sagte: "Ich habe noch mal nachgedacht. Da ist vielleicht doch ein bisschen Briefwechsel mit Carl Schmitt und so. Etwas ist da." – Am Ende des Tages - er ist leider darüber verstorben; wir haben es dann mit der Familie gemacht, das Geschäft - war es einer der größten Nachlässe, die wir je übernommen haben.
    Ellmenreich: Sie haben das Wort "Geschäft" schon angesprochen. Es fließt auch Geld. Woran bemisst sich eigentlich der Wert? Sie kaufen ja doch in einer gewissen Weise auch die Katze im Sack. Sie sichten ja nicht vorher alles, was dort zur Disposition steht, oder?
    Raulff: Wir kaufen nicht immer. Das muss man vorab noch sagen. Wir bekommen vieles auch als Stiftung, als Geschenk. Aber in vielen Fällen ist es richtig, müssen wir kaufen, müssen wir Geld in die Hand nehmen, und da orientieren wir uns ganz klassischerweise an den Preisen des Autographenmarkts, weil das auch die Verkäufer tun.
    Der Markt ist ja auch keine üble Sache. Der Markt liefert tatsächlich Bewertungsmaßstäbe, die man sich sonst irgendwie aus den Fingern saugen müsste.
    Nun bewertet der Markt nur das, was er auch als marktgängig empfindet. Das heißt: schöne Einzelbriefe, gelegentlich auch schon mal ein Manuskript. Aber wenn Sie zum Beispiel einen großen umfassenden Gelehrten-Nachlass haben, da sagt der Markt: Nein danke, das können wir nicht verkaufen.
    Ellmenreich: Und der kann aber gerade für Sie besonders von Interesse sein, weil Sie ja immer im Hinterkopf wahrscheinlich die Forschung haben, oder?
    Raulff: Ja, natürlich! Gelehrten-Nachlässe können eventuell keinen Autographenmarkt haben, können aber einen enormen Forschungswert haben. – Nun muss man sagen: Große Philosophen wie Martin Heidegger und Karl Jaspers haben genauso gut einen Autographenmarkt, wie das Autoren wie Gottfried Benn oder Rainer Maria Rilke haben. Aber viele der Leute – wir hatten gerade das Beispiel Reinhard Koselleck -, die uns nachhaltig beschäftigen und die die Forschung weltweit in Atem halten, notieren nicht am Autographenmarkt. Da muss man die Bewertung, auch die materielle Bewertung, finanzielle, monetäre Bewertung mit anderen Mitteln vornehmen.
    Vorlass aus der warmen Hand
    Ellmenreich: Nun ist das Interesse an Autoren, an Gegenwartsautoren ja in den vergangenen Jahren enorm in die Höhe geschnellt, wenn man sich die Lesungen, die zum Teil Popkonzerten ähnlich sind, von Bestseller-Autoren anschaut. Ist parallel dazu auch die Bedeutung von Nachlässen und das Interesse daran gewachsen, kann man das sagen - dieser Personenkult, der da zum Teil betrieben wird?
    Raulff: Ja, das kommt Gott sei Dank nicht ganz so ungebrochen eins zu eins im Archiv an. Im Archiv sind wir hier auch immer noch davor und filtern und beurteilen. Aber Tatsache ist, dass ich immer häufiger Gelegenheit habe, meinen dummen Spruch anzubringen: "Das Nachlass-Geschäft der Zukunft ist ein Vorlass-Geschäft." Das heißt, wir nehmen immer häufiger aus der noch warmen, aus der lebenden Hand. – Wir haben sehr viele Autoren in den letzten Jahren aufgenommen, ins Archiv aufgenommen, die sich bester Gesundheit erfreuen und bei diesen Lesungen, von denen Sie sprechen, eine große Rolle spielen, wie Durs Grünbein, Martin Mosebach, Sibylle Lewitscharoff, Michael Krüger. Sie hören schon, das sind durchaus Gegenwartsautoren.
    Ellmenreich: Was ist so attraktiv an dieser warmen Hand? Ich würde jetzt vermuten, eines Tages wird man ja noch mal eine Nachlieferung bekommen. Wenn man jetzt schon mal den ersten Teil des Archives nach Marbach geschickt bekommt, dann ist der ja noch nicht komplett.
    Raulff: So ist das. Das wird auch von Anfang an so ausgemacht. – Ich finde es ganz wunderbar, wenn man mit lebenden Autoren arbeiten kann, weil man sich mit ihnen dann auch schon über Bewertung, Interpretation verständigen kann. Man kann identifizieren, wer ist das, Ihr Briefpartner da oder Ihr Nachbar auf dem Foto. Und man kann ihn oder sie mit in Ausstellungen einbeziehen, was natürlich ganz fantastisch ist.
    Ellmenreich: Ein Teil der Arbeit würde Ihnen abgenommen, weil Sie den Primärpartner immer noch ansprechen können?
    Raulff: Ja, das spielt schon in bestimmten Punkten eine Rolle. Nehmen Sie zum Beispiel das mit den Fotos. Sie bekommen einen Karton mit 500 Fotos. Da sind 2000 Leute drauf. Von denen können Sie aber nur die Hälfte identifizieren, bestenfalls. Da Sie keine Gesichtserkennungs-Software haben, kann das der Autor natürlich am besten aufklären.
    Brille, Briefbeschwerer und Sanduhren
    Ellmenreich: Nun haben Sie den Karton schon aufgemacht, haben 2000 Fotos uns jetzt sozusagen vor Augen geführt. Was findet sich eigentlich in einem guten Nachlass? Ist da ein Stück Nippes zum Beispiel, nur weil es auf dem Schreibtisch eines berühmten Literaten gelegen hat, auch zwangsläufig ein wertvolles Erinnerungsstück? Oder trifft da auch manchmal das Hehre auf das Banale und Sie sagen, das können wir aussortieren?
    Raulff: Sie haben zunächst mal alles Schriftliche: Manuskripte, Exzerpte, Tagebücher, Kalender. Aber neben dem Kalender meinetwegen lag ein schöner Briefbeschwerer oder lag die Brille oder lag das Schreibwerkzeug des Autors. Früher hat man im Wesentlichen sich auf Brillen und Schreibwerkzeug beschränkt, neben dem papiernen Nachlass oder Vorlass, als bestünde der ganze Autor eigentlich nur aus Blick und Licht. Das ist eine Art Künstler-Metaphysik gewesen; über die sind wir im Laufe der Zeit hinweggekommen. Jetzt interessieren wir uns auch für die Dinge, die er berührt hat, die er angefasst hat, die Sammlungen zum Beispiel, die er selbst angelegt hat – denken Sie an Ernst Jünger, seine Käfersammlung oder seine Sanduhrensammlung. Das ist alles hoch interessant und das sagt auch wieder was über den Autor, über seine Themen, seine Obsessionen. Das ist schon durchaus Teil der Werkgenese.
    Ellmenreich: Aber liefert eine Sammlung von Käfern Aufschluss für ein literarisches Werk?
    Raulff: Oh ja, wenn sich das verbindet, wenn sich die Biologie und die Botanik unmittelbar mit den geschichtsphilosophischen Themen verbindet oder mit den Erzählungen eines Autors. Dann ist das plötzlich Teil der Literaturgeschichte.
    Ellmenreich: Literaturgeschichte wird ja inzwischen auf Computern geschrieben, wird in Tastaturen getippt und gar nicht mehr unbedingt mit dem Füllfederhalter per Hand geschrieben. Welche Auswirkungen auf das Nachlass-Business, nenne ich das jetzt mal, hat die digitale Revolution, die auch in den Arbeitszimmern von Schriftstellerinnen und Schriftstellern stattgefunden hat?
    Raulff: Die hat zur Folge, dass wir neben dem üblichen Papiermaterial zunehmend auch digitale Bestandteile mit aufnehmen. Das beginnt mit alten Floppy-Disks und geht bis in die heutige Zeit, bis zu Sticks und Festplatten. Natürlich archivieren wir die auch und konservieren die, mit anderen Mitteln wieder, als man früher Papier konserviert hat.
    Ellmenreich: Und Sie hoffen trotzdem darauf, dass eine Brille noch dabei ist, damit es wirklich was Griffiges, was Greifbares und vielleicht auch Begreifbares gibt?
    Raulff: Ja, Sie treffen da einen Punkt. In dem Maße, wie wir digital und virtuell werden, umso mehr halten wir uns an den letzten Resten der analogen Welt fest, und die werden besonders kostbar und besonders interessant.
    Überraschungsfunde
    Ellmenreich: Kommen wir noch mal auf das Besondere zu sprechen. Stichwort: Überraschende Funde. Etwa im Nachlass von Siegfried Lenz hatte sich ja ein unveröffentlichtes Manuskript versteckt. Wie häufig entpuppen sich so Nachlässe auch als Überraschungseier?
    Raulff: Das ist toll. Das sind natürlich die ganz großen Augenblicke, auf die man wartet als Archivar. Da ruft uns plötzlich eine uns unbekannte ältere Dame aus Ludwigsburg an und sagt, sie hat von ihrem verstorbenen Mann eine Briefsammlung geerbt. Da sind ein paar Autoren drin, die uns vielleicht interessieren. - Dann nennt sie Namen wie Stefan Zweig, Albert Einstein, und schon sind wir hellwach und ein Kollege fährt hin und besucht sie und findet tatsächlich einen Brief von Stefan Zweig, einen Autographen von Albert Einstein, als nächstes einen Brief von Thomas Mann, und er wird immer kribbeliger und wühlt den Stapel durch und findet am Boden des Stapels einen vierseitigen Brief von Franz Kafka, von dessen Existenz man wusste, aber der seit 32 Jahren verschollen ist. Das ist natürlich der Augenblick, da ist der Archivar König.
    Ellmenreich: Das ist der Sechser im Lotto sozusagen.
    Raulff: Ja, absolut! Das sind die Goldkörner.
    Ellmenreich: Auf der anderen Seite ist vielleicht auch viel Graubrot, um jetzt mal in eine andere Bildsprache zu wechseln, dabei. Wie vermeiden Sie als Archiv das Horten um des bloßen Hortens willen, dass eines Tages meilenweit Kartons in Ihrem Archiv stehen, aber mit denen eigentlich gar nicht wirklich jemand was anfangen kann? Sagen Sie auch mal: "Nein, danke"?
    Raulff: Oh ja! Kein Wort können wir so gut sagen wie "Nein!" Jeder junge Archivar muss das lernen, immer nein, nein, nein sagen, weil sie genau wissen, was ein Archivmeter kostet – in der Herstellung, in der Bereithaltung, in der Endabrechnung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.