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Ulrich Völklein: Die Weizsäckers. Macht und Moral - Porträt einer deutschen Familie

Ernst von Weizsäcker machte unter den Nationalsozialisten Karriere im Auswärtigen Amt. Er gehörte der NSDAP und der SS an. Nach dem Krieg wurde er in Nürnberg wegen "Verschwörung gegen den Frieden" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verurteilt. Der älteste Sohn, Carl Friedrich von Weizsäcker, war am nationalsozialistischen Atomprogramm beteiligt. Nach dem Krieg machte sich der Physiker als Gegner der atomaren Aufrüstung, als Befürworter der Ostpolitik und als Friedensforscher einen Namen. Richard von Weizsäcker mahnte vor allem in seiner Zeit als Bundespräsident vor einer Machtausübung, die sich nicht mehr moralischen Kriterien verpflichtet fühlt, und er schockierte einen großen Teil seiner Parteifreunde, als er in seiner großen Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes den 8. Mai als Tag der Befreiung charakterisierte.

Von Tillmann Bendikowski | 31.01.2005
    Das ist eine Familienaufstellung, aus der sich Bücher machen lassen. Ulrich Völklein hat das versucht und im Droemer Verlag den Band "Die Weizsäckers, Macht und Moral – Porträt einer deutschen Familie" vorgelegt. Unser Rezensent ist Tillmann Bendikowski.

    Eine ganz normale deutsche Familie, möchte man meinen. Ganz normale Deutsche eben, die sich nach dem "Dritten Reich" nach nichts mehr sehnten als nach einem ordentlichen Schlussstrich. Carl Friedrich von Weizsäcker, der als Kernphysiker unter den Nazis Karriere gemacht hatte und der deswegen nach Kriegsende kurzzeitig interniert worden war, sprach noch Jahrzehnte später aus, was ihn persönlich in Sachen Vergangenheitsbewältigung umtrieb und was so ähnlich Millionen Deutsche dachten:

    Im Grunde wäre ich am allerzufriedensten gewesen, wenn man mich nach 1946 überhaupt nicht mehr gefragt hätte, was wir früher getan haben, sondern nur, was wir künftig tun wollen. Warum soll ich unablässig über die Vergangenheit reden? Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe.


    So wie Carl Friedrich von Weizsäcker hatten viele in der Familie Weizsäcker guten Grund, sich nicht ständig Fragen zu ihrer Rolle im NS-Staat auszusetzen. Als Teil der politischen und wissenschaftlichen Elite hatten sie – so jedenfalls sah es die Familie – Verantwortung für das Land übernommen; man könnte aber auch sagen, sie haben sich in die Machenschaften des Dritten Reiches verstrickt. Ernst von Weizsäcker, 1882 geboren, zunächst Soldat der kaiserlichen Marine, dann Diplomat der Weimarer Republik, reagierte 1933 auf die Machtergreifung mit einer fatalen Mischung aus deplaziertem Selbstbewusstsein und politischer Fehleinschätzung:

    Unsereiner muss die neue Ära stützen. Denn was käme nach ihr, wenn sie versagte! Natürlich muss man ihr auch mit Erfahrung, Auslandskenntnis und allgemeiner Lebensweisheit beiseite stehe. Hierzu bin ich entschlossen.

    Ernst von Weizsäcker lobte den vermeintlichen Sinn der Nazis für Haltung und Disziplin, für eine Anerkennung der Familienwerte, und hoffte auf den zu erwartenden "moralischen Aufschwung". Das auch noch, als er die neuen Führungsfiguren des Systems traf: Neben Hitler auch Hermann Göring, Alfred Rosenberg oder Reinhard Heydrich. Er lobte sie als frische und tatenfrohe Männer, deren geschulte Disziplin, so der Diplomat, man dereinst noch gut gebrauchen könne. Biograph Ulrich Völklein stellt klar:

    So mag jemand schreiben, der den Nationalsozialisten aus mancherlei Gründen skeptisch gegenübersteht, der sich ihnen intellektuell überlegen glaubt und mit ihrem zuweilen ungehobelten, oft genug brutalen Politikstil wenig anzufangen weiß. Ein politischer Gegner der NSDAP müsste sich anders ausdrücken, als Ernst von Weizsäcker dies im Sommer 1933 tat, als klar war, dass die Machtübernahme der Nazis keine Episode bleiben würde.

    Ernst von Weizsäcker machte Karriere: Ab 1933 fungierte er als deutscher Gesandter in der Schweiz, drei Jahre später wurde er zum Leiter der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt berufen, ehe er 1938 schließlich zum Staatssekretär aufstieg – und zugleich der NSDAP und der SS beitrat. Einsatzberichte über den Massenmord an Juden hat er paraphiert, nach dem Krieg behauptete er dann aber, sie nie gelesen zu haben. Allein die Karriere des Ernst von Weizsäcker bedeutete eine Verstrickung in die Verbrechen des NS-Staates. Der Mann wusste nur zu gut, woran er beteiligt war: Im Mai 1942, ein Jahr, bevor er schließlich deutscher Botschafter beim Vatikan wurde, schrieb er seiner Frau:

    Ich bin es auch der Familie schuldig, vor allem den Kindern und Enkeln, dass sie sich nicht zu genieren brauchen, wenn da und dort mein Name in Verbindung mit Ereignissen vorkommt, die sie kritischer ansehen werden, als unsere Zeit es tut.

    Der Mann, der sich so um seinen guten Ruf bei den Nachgeborenen sorgte, fand sich nach dem Krieg auf der Anklagebank eines alliierten Kriegsverbrecherprozesses wieder. 1949 wurde er unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und "Verschwörung gegen den Frieden" zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, im Jahr drauf allerdings vorzeitig entlassen, ehe er 1951 starb. Ullrich Völklein versucht bei seiner Beurteilung Weizsäckers, das rechte Verhältnis an tatsächlicher Verstrickung und innerer Distanz zu den Nazis zu beschreiben:

    Ernst von Weizsäcker war fraglos kein Nationalsozialist im eigentlichen Sinne und schon gar kein "Parteigenosse". Er war dies von seinem Herkommen und Selbstverständnis nicht, aber er war eben auch kein Widerstandskämpfer. Wie viele andere Deutsche kämpfte er für sich: zunächst für seine Karriere, dann für seine Einsichten und Überzeugungen, am Ende für seinen guten Ruf.

    Das ist in hohem Maße verständnisvoll formuliert, wohlwollend nachsichtig. Denn was Völklein hier beschreibt, gilt uns heute als eben jenes Versagen der deutschen Funktionseliten, von Tausenden in Verwaltung und Wirtschaft, Militär oder Medien, die genau so wie Ernst von Weizsäcker durch ihre Zustimmung in den Anfangsjahren die Etablierung der NS-Herrschaft mit ermöglichten und aufgrund der Übernahme verantwortlicher Positionen letztlich ja auch deren Dauer garantierten. Und mit viel Sympathie für den Gegenstand setzt Ulrich Völklein seine Beschreibung der Familie fort. Nach Ernst von Weizsäcker – dessen Porträt etwa die Hälfte des Buches ausmacht – widmet er sich deutlich knapper den beiden Söhne Carl Friedrich und Richard. Beide haben auf ihre Weise die bundesrepublikanische Gesellschaft mitgeprägt. Carl Friedrich, während des "Dritten Reiches" am Kernforschungsprojekt des Heereswaffenamtes beteiligt, wurde nach dem Krieg zunehmend zu einem Grenzgänger zwischen Physik, Philosophie und Politik. Er engagierte sich bereits in den 50er Jahren unbequem zu Aspekten deutscher Sicherheitspolitik und Friedensfragen, später setzte er sich für Abrüstung und Ökologie ein.

    Die Politiker der Adenauer-Ära verunsicherte, dass sich mit ihm ein international hoch angesehener, von seiner Herkunft eher konservativer Wissenschaftler zu Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik erstens überhaupt und zweitens in einer für die damalige Zeit derart provokanten Weise äußerte, dass seine Stellungnahmen und öffentlichen Anfragen nicht stillschweigend übergangen werden konnten.

    Der Autor zielt darauf ab, die Entwicklung des Physikers zum philosophischen und politischen Kopf nachzuzeichnen, in die wissenschaftliche Welt Carl Friedrich von Weizsäckers dringt er kaum vor. Und die Fokussierung auf das Politische dominiert – das überrascht nicht – auch bei der Betrachtung des jüngeren Bruders: Richard von Weizsäcker, einst Offizier in der Wehrmacht, als Student nach dem Krieg Mitglied der Verteidigung seines Vaters, machte als Jurist zunächst in der Wirtschaft Karriere, zog für die CDU in den Bundestag ein, fungierte als Präsident des Evangelischen Kirchentages und wurde 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin. 1984 dann die Wahl zum Bundespräsidenten. Dass er in diesem Amt wie wohl kein anderer Anerkennung und Zuneigung erfuhr, war nicht vorauszusehen. Denn selten, so urteilt Ulrich Völklein, wurde ein Politiker so verkannt wie Richard von Weizsäcker:

    Sie hatten sich alle in ihm getäuscht: Helmut Schmidt, der als Kanzler frotzelte, Weizsäcker sei weder Fisch noch Fleisch, sondern eine Mischung aus beidem, eben Klops; Franz Joseph Strauß, der ihn als "ökumenischen Weltbischof" verspottete und für so abgehoben hielt, dass er seiner eigenen, äußerst bodennahen Politik nicht gefährlich werden könnte; und auch Helmut Kohl täuschte sich, der lange Jahre glaubte, den "Prediger" Weizsäcker als politische Potenz und Konkurrenz nicht ernst nehmen zu müssen.

    Trotz solcher vereinzelt pointierten Beschreibungen und eines insgesamt ansprechenden Erzählstils: Der Autor kann keine rechte Nähe zu seinem Gegenstand, zu Vater und Söhnen Weizsäcker, herstellen. Und mehr noch: Eigentlich verspricht der Untertitel ja das "Porträt einer Familie". Dazu hätte Völklein aber das Kommunikations- und Handlungsgeflecht zwischen einzelnen Familienmitgliedern nachzeichnen und private sowie politische Absprachen, Dissonanzen und eventuelle Konflikte ausleuchten müssen. Dann wäre auch das Spezifische an dem sozialen Kosmos der bürgerlichen Familie greifbar gewesen, deren Wertvorstellungen kompatibel waren mit beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung in der Diktatur. Und schließlich hätte man den Blick über diese drei Männer ausweiten müssen, auf die Frauen der Familie etwa oder beispielsweise auch auf Viktor von Weizsäcker, einen Bruder des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker, der als Neurologe im Dritten Reich Karriere machte. Doch so hinterlässt das Buch auf eigentümliche Weise den Eindruck, als fehlte etwas. Es könnte das Spezifische sein, auf das der Leser eigentlich gehofft hatte. Was machte eigentlich "die Weizsäckers" aus, wie hielten sie es tatsächlich mit Macht und Moral? Darauf gibt es so recht keine Antwort.

    Tillmann Bendikowski über Ulrich Völklein: "Die Weizsäckers. Macht und Moral - Porträt einer deutschen Familie" Der Band hat 448 Seiten, kostet 22,90 Euro und ist im Droemer Verlag in München erschienen.