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Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute.

Am 26. Juni 1950 gründete sich in West-Berlin mit einer fulminanten Eröffnungskonferenz der Kongress für kulturelle Freiheit , der bis weit in die 70er Jahre arbeitete. Ein außergewöhnliches Unternehmen von Intellektuellen, das sehr prägnant die geistige Verfassung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt. Faschismus und Nationalsozialismus waren besiegt; aber Stalin hatte mit der Neuaufteilung Europas seine Einflusssphäre in den entstehenden sogenannten Volksdemokratien ausweiten können. Der Berliner Kongress war dann auch eine indirekte Antwort auf die kommunistischen Kampagnen Willi Münzenbergs: auf jene internationalen Schriftstellerkongresse, wie sie von der unsichtbaren Hand der sowjetischen KP und der Komintern gelenkt wurden. Obwohl der Kongress für kulturelle Freiheit ein westliches Kind des Kalten Krieges war, hatten sich seine Initiatoren doch den Kampf gegen jeglichen Totalitarismus, gleich welcher politischen Couleur, auf ihre Fahnen geschrieben. Ein Band aus dem Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag dokumentiert jetzt die Arbeit des Kongresses, seine Erfolge und Krisen - und die Polarisierung, die er unter westlichen Intellektuellen auslöste. Günter Müchler rezensiert.

Günter Müchler |
    Ende Juni fand in Berlin eine bemerkenswerte Tagung vornehmlich europäischer Intellektueller statt. Die Gespräche kreisten um eine andere intellektuelle Großunternehmung, die vor fünfzig Jahren, ebenso in Berlin, Geschichte geschrieben hatte: den "Kongress für kulturelle Freiheit". Da es der Organisatorin der Tagung, der Frankfurter Publizistin Ulrike Ackermann, gelungen war, die letzten Veteranen des Kongresses zum Kommen zu gewinnen, sprach die FAZ amüsiert von einem "Klassentreffen". Dieser Kongress war zu Unrecht lange Zeit vergessen. Er war ein Leuchtturm, dessen Lichtsignale weit strahlten. Heute, da Intellektuelle sich, wenn es hochkommt, allenfalls zu Unterschriftenaktionen erkühnen, ist es der Erinnerung wert, dass diese sammlungsunwillige Spezies einmal durchaus machtvolle Manifestationen zustande brachte. An der Eröffnung im Berliner Titania-Palast nahmen ehemalige Kommunisten wie Arthur Koestler und Ignazio Silone teil, Menschen, die aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern entkommen waren wie David Rousset oder Eugen Kogon, Liberale wie Raymond Aron und europäische Föderalisten wie Denis de Rougemont. Golo Mann lauschte der Eröffnungsrede des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter ebenso wie Albert Camus, Margarete Buber-Neumann, Richard Loewenthal, Carlo Schmid und Alfred Weber. Generalsekretär des Kongresses war Melvin Lasky.

    Das war 1950, am Beginn des Korea-Krieges. Sechzehn Jahre später, 1966, enthüllte die New York Times, dass der Kongress und die vielfältigen Initiativen, die von ihm ausgingen, großenteils von der CIA finanziert waren, übrigens ohne Wissen der wichtigsten Organisatoren. Die Enthüllung genügte, die Arbeit des Kongresses als Undercover-Tätigkeit im Dienste des Kalten Krieges zu diskreditieren.

    Doch so simpel war die Angelegenheit keineswegs. Der Kongress wollte keine antikommunistische Kampffront sein und hätte es nach Herkunft und Zusammensetzung seiner Teilnehmer auch gar nicht sein können. Seine Stoßrichtung war eine antitotalitäre. Er wollte eine Brandmauer gegen eine mögliche Wiederkehr des Nazismus aufrichten, so wie er selbstverständlich den Kommunismus anprangerte, der gerade vor aller Augen sein freiheitsknebelndes Herrschaftssystem den meisten osteuropäischen Staaten aufgezwungen hatte und weitherhin Andersdenkende mit Terror verfolgte, Terror, der nach Hannah Ahrendt ein Wesenszug des Totalitarismus ist.

    Im Besonderen wandte sich der Kongress gegen Stalins westliche Fellow-travellors. Davon gab es im westlichen intellektuellen Milieu viele. Sie beugten vor dem Moskauer Diktator auch dann noch fromm die Knie, wenn sie über seine Untaten Bescheid wussten. Ihnen hielt in Berlin David Rousset vor:

    Als frühere Häftlinge haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, alle Konzentrationslager, wo immer sie sich befinden mögen, zu verdammen. Auf keinen Fall sollen irgendwelche Lager mit Schweigen übergangen werden, nur weil sie sich vielleicht in einem Lande befinden, mit dessen System die eine oder andere Gruppe unter uns sympathisiert.

    Von dem Kongress gingen zahlreiche Impulse aus. In Westdeutschland wurde die Zeitschrift "Der Monat" gegründet, in Frankreich entstanden die "Preuves", in Großbritannien der "Encounter", alles Publikationen, die sich einem Ziel verschrieben, der Verteidigung der intellektuellen Freiheit. Teilnehmer des Kongresses knüpften später Netzwerke von Intellektuellen, junge osteuropäische Studenten erhielten Stipendien und Literatur.

    Ungeachtet seiner Bedeutung, die unbezweifelbar ist, und die allein an der gewaltigen kommunistischen Gegenpropaganda abgelesen werden kann, ist der "Kongress für kulturelle Freiheit" heute nahezu vergessen. Mehr noch: "Er unterliegt dem Verschweigen und der Verdrängung." Zu diesem Urteil gelangt Ulrike Ackermann in ihrem Buch: "Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute." Das Schweigen hat nach ihrer Ansicht ideologische Gründe:

    Sie liegen in einer latenten und bisweilen manifesten Abwehr totalitärer Optionen, die sich an Totalitarismustheorien orientierten und sie weiter entwickelten. Die Hauptkritik galt dem darin enthaltenen Antikommunismus. Es scheint, als wirkten die Denkfiguren eines Antifaschismus, der den Antikommunismus bis heute bekämpfen muss, zumindest unterschwellig fort. Deren Überwindung war nicht zuletzt das Anliegen des ‘Kongresses für kulturelle Freiheit’ gewesen.

    Die moralische Autorität des Kongresses als Manifestation liberalen Denkens wird für die Autorin durch die finanzielle Unterstützung aus dubioser Quelle nicht beeinträchtigt. Sein antitotalitäres, nicht von sektoraler Blindheit eingeschränktes Engagement sei glaubwürdig gewesen, stellt sie fest. In der moralischen Verwerfung jedweder totalitärer Herrschaft markiert er für sie gleichsam den Zustand vor dem Sündenfall, jedenfalls auf Westdeutschland bezogen. Der Anschauungsunterricht in kommunistischer Herrschaftspraxis, den man dort, unmittelbar am Eisernen Vorhang, fast täglich erlebte, führte beinahe von selbst zu dem antitotalitären Konsens, der für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik prägend war. Damals konnte Kurt Schumacher von den SED-Kommunisten als "rotlackierten Faschisten" sprechen. Dreißig Jahre später wäre er dafür mit einem Parteiordnungsverfahren überzogen worden.

    Ganz anders lagen die Dinge in Frankreich. Kommunistische Ideen waren nach dem Krieg in keinem anderen westlichen Land so verbreitet wie dort. Das lag nicht zuletzt daran, dass Gaullisten und Kommunisten ein gemeinsames Interesse daran hatten, den Mythos der Résistance, also der auch im Widerstand gegen Hitler angeblich einen, unteilbaren Nation, aufrechtzuerhalten. In der Praxis führte diese sonderbare Symbiose zu einer Dominanz der Gaullisten in der Politik und einer der Kommunisten auf dem Felde der Kultur, anders ausgedrückt zu einem "Jalta à la francaise", nach einem Wort von Jürg Altwegg, auf den sich Ulrike Ackermann in diesem Kapitel stark stützt.

    Als Leitfigur der geistig-kulturellen Dominanz der Kommunisten erscheint der Autorin Jean-Paul Sartre. Der in Deutschland lange Zeit selektiv wahrgenommene Philosoph schalt Antikommunisten "Hunde" und bezeichnete den Sowjet-Kommunismus malgré tout als historisches Vorbild für das Proletariat auch in Westeuropa. In seinen Kontroversen mit Albert Camus oder Raymond Aron hatte er zwar nicht Recht, aber den Beifall auf seiner Seite.

    Das änderte sich erst 1968 und dann, entschiedener noch, nach dem Erscheinen von Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag". Solschenizyns Werk wirkte auf die Linke Frankreichs verheerend. Der Schock bestand nach Auffassung Arons darin, dass Solschenizyn die Linke bei ihrem großen Selbstbetrug erwischte:

    Wenn Solschenizyn unbequem für uns ist und uns sogar empört, dann deshalb, weil er die westlichen Intellektuellen an ihrem schwächsten Punkt, bei ihren Lügen, trifft: ‘Wenn Ihr den großen Gulag akzeptiert’, so fragt er sie, ‘warum empört Ihr Euch dann in so tugendhafter Weise über die kleinen? Lager bleiben Lager, ganz gleich, ob sie braun oder rot sind.’ Seit über fünfzig Jahren weigern sich die Intellektuellen des Westens, diese Frage zu hören. Sie haben sich ein für allemal entschieden, dass es die ‘gute’ und die ‘böse’ Seite gibt, wobei die Konzentrationslager der einen durch die Heiligkeit der Sache verklärt werden, während die auf der anderen eben Konzentrationslager sind.

    Während in Frankreich der Solschenizyn-Schock der Linken einen Schlag versetzte, von dem sie sich nie mehr erholte, wurde der "Archipel Gulag" in Westdeutschland viel gleichgültiger aufgenommen. Zutreffend weist Ulrike Ackermann darauf hin, dass Heinrich Böll beinahe der einzige im intellektuellen Milieu blieb, der sich um den Nobelpreisträger nach dessen Abschiebung kümmerte. Der Mehrheit der Linken war Solschenizyn peinlich, ein großer Autor, unbestreitbar, aber doch irgendwie ein Renegat, jemand, der die soeben begonnene politische Entspannung störte.

    In der Bundesrepublik war schon das Jahr 1968 anderes verarbeitet worden als in Frankreich. Hier besaß das chaotisch-antiautoritäre Moment auch eine Spitze gegen die dogmatische KPF, die anfing, unmodern zu werden. Hingegen kam 1968 diesseits des Rheins marxistisches Gedankengut in Mode - eine unzeitgemäße und bis heute rätselhafte Entwicklung, war 1968 doch auch das Jahr, in dem die Reformunfähigkeit des kommunistischen Systems durch die Niederschlagung des Prager Frühlings ihren letzten Beweis erfuhr.

    Mit dem Jahre 1968 verlosch der antitotalitäre Konsens in der Bundesrepublik. Das tonangebende linksliberale Milieu entschied sich, so schildert es die Autorin, für vage Dritte-Weg-Konzepte, für die Ablehnung der Totalitarismus-Theorie und deren Ersetzung durch einen teils romantischen, teils kämpferischen Antifaschismus, dem selbst Menschenrechte untergeordnet wurden:

    Die einseitige Kapitalismuskritik auf westlicher Seite, gepaart mit jenem spezifischen ‘Anti-anti-Kommunismus’, produzierte gleichsam diesen Blinden Fleck in der Wahrnehmung der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Er machte große Teile der linksliberalen Intellektuellen bis in die achtziger Jahre hinein unfähig, ihre antifaschistische Haltung mit einer umfassenden Verteidigung der Menschenrechte zu verbinden, für demokratische Rechte und Freiheiten und gegen ‘jegliche’ totalitäre Herrschaft einzutreten.

    Die Folgen sind bekannt. Im Unterschied zu Frankreich wurden von westdeutschen Intellektuellen Dissidenzbewegungen in der Tschechoslowakei und in Polen verspätet wahrgenommen oder mit Misstrauen belegt. Das widerfuhr auch den Bürgerrechtlern in der DDR, die vielen Intellektuellen in den behaglichen Studierzimmern der Bundesrepublik als lästige Störenfriede des Status quo galten. Ulrike Ackermann zitiert den französischen Historiker Jacques Julliard: "Hätte man auf die deutschen Intellektuellen gehört, würde man heute noch mit der DDR-Führung verhandeln."

    Das Buch ist gut lesbar und materialreich. Die Autorin argumentiert von einem liberalen Standpunkt aus. Tabus geht sie nicht aus dem Weg. Sie beschreibt den Historikerstreit, die Nolte-Kontroverse und verschweigt auch nicht die schäbige Instrumentalisierung des Holocaust gerade durch jene, die zu Recht auf dessen Einzigartigkeit pochen. Nicht der Anspruch, aber die Fließrichtung stellt das Buch in einem Zusammenhang mit Furets "Ende der Illusion" und dem "Schwarzbuch des Kommunismus" und so wie diese wird es diejenigen auf den Plan rufen, die törichterweise meinen, es nütze den Braunen, wenn man die Wahrheit über die Roten sage. Als glücklich erweist sich der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich, denn er ist geeignet, ideologische Verspannungen der alten Bundesrepublik sichtbar zu machen.

    Das Buch ist stark in der Beschreibung der Phänomene; darauf liegt das Hauptaugenmerk der Autorin, weniger auf der Analyse. So wäre es reizvoll gewesen, genauer herauszuarbeiten, in welcher Weise sich in der alten Bundesrepublik neo-marxistisches Denken und die zu einer fruchtlosen Bejahung des Status quo erstarrte Entspannungspolitik der SPD in den späten siebziger und achtziger Jahren berührten und ergänzten. Doch das ist nur ein kleines Manko eines Werkes, das viel zur Erhellung eines wichtiges und keineswegs abgeschlossenen geistesgeschichtlichen Kapitels beiträgt. Nicht nur bezogen auf den "Kongress für kulturelle Freiheit" ist es, wie Francois Bondy im Vorwort schreibt, ein Buch der "tätigen Erinnerung, ein Buch gegen das Vergessen."

    Günter Müchler über: Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute. Erschienen im Klett-Cotta Verlag Stuttgart , 269 Seiten, Preis: DM 38,-.