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Ulrike Winkler (Hg): Stiften gehen - NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte

"Formen von Zwangsarbeit waren und sind dem Kapitalismus immanent."

Elke Suhr | 04.02.2002
    "Formen von Zwangsarbeit waren und sind dem Kapitalismus immanent."

    So monumental beginnt Dietrich Eichholtz' Studie über "Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft".

    "Sie gehören seit den Zeiten der 'ursprünglichen Akkumulation' und der kolonialen Epoche zu seiner Geschichte."

    Mit diesem ideologischen Rüstzeug aus dem vergangenen Jahrhundert steigt man in einen Sammelband über Zwangsarbeit ein, den Ulrike Winkler herausgegeben hat. Vor allem der Titel ist originell und doppeldeutig: "Stiften gehen..." Zwangsarbeit wird zum Aufhänger für die alte Mär vom "Grundwiderspruch" zwischen Kapital und Arbeit als Ursache allen Übels.

    Lenin kennzeichnete im Ersten Weltkrieg den imperialistischen Krieg zutreffend als "Militärzuchthaus für die Arbeiter" (und als "Profitparadies" für Kapitalisten).

    Der Wirtschaftshistoriker Eichholtz war einst ein Wortführer der eindimensionalen "Faschismustheorie", die den Holocaust von der industriellen Verarbeitung Auschwitzer Menschenknochen zu Seife bis zur Ausbeutung jüdischen Zahngoldes als Konsequenz monopolkapitalistischer Profitgier deutete. Und den Einzelnen damit die historisch-moralische Verantwortung abnahm.

    Hier soll nicht bestritten werden, dass die deutsche Großindustrie sich am Krieg bereichert und Millionen Zwangsarbeiter auf grausamste Weise ausgebeutet hat. Seit Ulrich Herberts Pionierstudie weiß man auch: Sie handelte nicht unter Zwang. Sie konnte die Lebensumstände in den Produktionsstätten und Massenunterkünften in hohem Maße unabhängig von den NS-Behörden gestalten. Und sie hat das meist auf furchtbare Weise getan: aus den Menschen rausgeholt, was rauszuholen war. Eichholtz fügt dem keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse hinzu, vielmehr versimpelt er Herberts empirische Studien zu Dogmen aus dem Stehsatz des "Wissenschaftlichen Sozialismus". Die Millionen ausgeplünderten Menschen erscheinen bei ihm merkwürdig anonym. Man wird das Gefühl nicht los, dass sie vor allem als Material für kalte Thesen und Theorien dienen.

    Differenzierende Untersuchungen müssten bei den Überlebenden anfangen, in bilateralen Projekten zwischen Ost und West, wie es sie auf lokaler Ebene schon gibt. Wer kollektives geschichtliches Erinnern einfordert, wie Ulrike Winkler im Vorwort zu ihrem Buch, sollte darüber nicht schweigen. Aber detaillierte Geschichten passen höchstens als Illustration in ein ökonomistisches Geschichtsbild, in dem Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge nurmehr als menschliche Opfermassen des Kapitalismus erscheinen.

    Die heutigen Aktionäre und Mitarbeiter von Industrieunternehmen beziehen Dividenden und Gehälter aus einem Kapitalstock, dessen Grundlagen in den letzten Kriegsjahren nur noch mit Hilfe von Zwangsarbeitern errichtet und ausgebaut werden konnte. (...) Der Kapitalstock der westdeutschen Industrie war 1948 trotz Luftkriegs und Demontage um 20 Prozent größer und deutlich jünger als vor dem Krieg.