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Ultranationalist Šešelj hofft auf Freispruch

Vojislav Šešelj war einmal einer der einflussreichsten Politiker Serbiens. Ein ideologischer Wegbereiter der serbischen Eroberungskriege auf dem Balkan. Das UN-Kriegsverbrechertribunal muss nun über seine Freilassung entscheiden.

Von Jörg Paas | 04.05.2011
    Als Vojislav Šešelj sich im Februar 2003 freiwillig dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stellte, war seine Anhängerschaft groß. Zehntausende feierten ihn in der Belgrader Innenstadt mit Sprechchören. Er selbst gefiel sich in der Rolle des Helden und Märtyrers:

    "Ich gehe, um zu trotzen und zu sagen, dass das serbische Volk niemals die Befreiung des serbischen Dubrovnik, des serbischen Dalmatien, des serbischen Slawonien, des serbischen Bosnien und des serbischen Kosovo aufgeben wird."

    Wie kein anderer Politiker in Belgrad rührte der Ultranationalist Vojislav Šešelj schon in den 80er-Jahren die Trommel für ein großserbisches Reich, das Bosnien, Montenegro, Mazedonien und weite Teile Kroatiens umfassen sollte. Sein Auftreten war radikal wie der Name seiner Partei: Bosniens Muslime wollte Šešelj bis Anatolien vertreiben, jedem Kroaten mit einem rostigen Löffel die Augen auskratzen und die Kosovo-Albaner absichtlich mit dem AIDS-Virus infizieren.

    Um seine Gewaltfantasien in die Tat umzusetzen, warb er Freischärler an. Die Anklageschrift in Den Haag macht ihn verantwortlich für Mord, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Folter und die Verwüstung ganzer Landstriche.

    Šešelj stellte sich zwar dem Gericht, bezeichnet es jedoch bis heute als illegal und sämtliche Vorwürfe als haltlos und unbegründet. Deshalb hat er einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens und auf Zahlung einer Entschädigung für die inzwischen mehr als achtjährige Haft gestellt. Zehn Millionen Euro will er vom Gericht dafür haben. Sein Verteidiger Zoran Krasic spricht von politischer Rachejustiz:

    "Die Kläger in Den Haag haben auch früher schon manches Fiasko mit ihren Zeugen erlebt. Jetzt versuchen sie, Vojislav Šešelj irgendetwas in die Schuhe zu schieben. Aber das ist unmöglich. Hätte er sie nicht während der Verhandlung ungebührlich beschimpft, dann hätten sie gar nichts gegen ihn in der Hand."

    Zwei Anklagen wegen Missachtung des Gerichts, außerdem eine Verurteilung wegen der widerrechtlichen Enthüllung der Identität von geschützten Zeugen addieren sich zu den Vorwürfen gegen Šešelj. Trotzdem: Nach Ansicht seiner Anhänger in Belgrad ist das noch lange kein Grund, ihrem Idol weiterhin den Prozess zu machen:

    "Das ist doch alles eine politische Angelegenheit. Gut, er hat eine scharfe Zunge, aber was die konkreten Taten betrifft, hat er nichts von dem gemacht, was ihm vorgeworfen wird. Wenn die Ankläger es bis jetzt nicht geschafft haben, irgendwelche Beweise zu finden, wäre es nur gerecht, ihn freizulassen, damit er nach Hause zurückkehren kann."

    Genau darauf hoffen auch die Funktionäre der von Šešelj gegründeten Radikalen Partei. Noch vor acht Jahren stärkste politische Kraft in Serbien, ist sie inzwischen fast zur Bedeutungslosigkeit verkümmert. Tomislav Nikolic, einst Šešeljs Statthalter in Belgrad, hat sich von ihm losgesagt, die meisten Anhänger mitgenommen zur neu gegründeten "Serbischen Fortschrittspartei" und plötzlich – aus Überzeugung oder politischem Kalkül – einen Kurswechsel in Richtung Europa vollzogen.

    Dennoch: Sollte Vojislav Šešelj tatsächlich auf die politische Bühne in Serbien zurückkehren, dann würden die Karten möglicherweise völlig neu gemischt, meint der Belgrader Soziologe Jovo Bakic:

    "Das ohnehin schon niedrige Niveau der politischen Kultur in Serbien würde sicherlich noch einmal sinken. Und es ist nicht auszuschließen, dass zumindest ein Teil der Wähler, die früher aufseiten der Radikalen waren, wieder zu Seselj zurückkehren könnte."

    Für sehr viel wahrscheinlicher halten es allerdings fast alle Beobachter und Kommentatoren in Belgrad, dass das Verfahren vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen Vojislav Seselj weitergehen wird. Bis jetzt wurde jedenfalls noch nie eine ganze Anklage dort wegen Mangels an Beweisen fallen gelassen.