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Ultravox-Sänger Midge Ure
"Wir saugen die Jugend aus"

Midge Ure, Sänger der Synthie-Pop-Band Ultravox - größter Hit: Dancing With Tears In My Eyes, 1984 – hat ein neues Album eingespielt. Im Corso-Gespräch verrät er, warum ihm die heutige Jugend Leid tut und was er mit seinen neuen Songs sagen will.

Midge Ure im Gespräch mit Knut Benzner | 08.11.2014
    Midge Ure tritt bei "Rock meets Classic 2014" in der Jahrhunderthalle in Frankfurt am Main auf.
    Midge Ure tritt bei "Rock meets Classic 2014" in der Jahrhunderthalle in Frankfurt am Main auf. (dpa / picture-alliance / Susannah V. Vergau)
    Knut Benzener: Mr. Ure, neulich laß ich einen Artikel über Sie. Sie sagten darin, dass Sie über drei Dinge nicht mehr sprechen wollen: Alkohol, Bob, somit Bob Geldoff... auf den dritten Punkt komme ich nicht.
    Midge Ure: Nun, es gibt diese Schlüsselfragen, die mich die Leute immer wieder fragen. Und dazu gehört, was kürzlich in Bob Geldoffs Leben passiert ist – mehr als dramatisch. Wenn ich über Musik reden möchte, fragen mich Boulevard-Journalisten nach Bob und seiner Tochter, den Tod seiner Tochter. Ich bin nicht in der Position, darüber zu reden.
    Die nächste Frage lautet dann: Sie hatten doch ein Alkohol-Problem. Wie gehen Sie jetzt damit um und haben Sie immer noch ein Problem mit Alkohol. Ich denke in dem Moment: o.k....
    Der dritte Punkt: Band Aid und Live-Aid. Das ist in Ordnung, dass die Leute danach fragen, es ist verständlich. Was mich allerdings ärgert: Das ist fauler Journalismus. Zu Bob können sie nicht gehen, also gehen sie zu jemandem, der ihn kennt. Und sie fragen die typischen Fragen: Was denken Sie über Bob, und ich antworte, dazu sage ich nichts. Die Schlagzeile lautet dennoch: Live Aid-Star hilft Freund durch Trauma - in der Art. Mit dieser Art Journalismus kann ich nicht gut umgehen, weil ich nicht darüber reden werde.
    Benzener Sie sind in Schottland geboren, in der Nähe von Glasgow, in eine, soweit ich weiß, in eine arme Familie. War die Musik die Möglichkeit, die Armut zu überwinden? Haben Sie daran gedacht, die Arbeiterklasse hinter sich zu lassen?
    Ure: Ich glaube nicht, dass ich versucht habe, mit der Musik die Arbeiterklasse zu verlassen. Es gibt Werte innerhalb der Erziehung der Mitglieder der Arbeiterklasse, die unglaublich wichtig sind.
    Meine Familie kam aus der Mittelklasse, Privatschule usw., aber dennoch gab und gibt es diese Arbeiterklasse–Werte: Richtig beziehungsweise nicht richtig, gut oder schlecht, das sind die Grundlagen; höflich sein, gute Manieren haben... Ich wollte nie fortlaufen vor meinem Arbeiterklasse-Hintergrund, und in der Tat – ich meine, das ist jetzt eine gewaltige Verallgemeinerung -, die beste Musik, die es gibt, kommt aus der Arbeiterklasse. Sie entsteht durch Unterdrückung, sie entsteht durch Armut, sie entsteht durch das Verlangen, ein besseres Leben zu haben als das, welches du gerade hast - aber nicht vor diesem Leben wegrennen, sondern es leichter zu machen.
    Rock-Musik kommt nicht aus der Oberklasse, eine handvoll vielleicht, Genesis, die haben solch einen Hintergrund, aber die Mehrzahl toller Musik... die Beatles... Arbeiter. Songs schreiben ist ein großartiger Weg, sich vorzustellen, was da sein könnte, Songs zeigen nicht nur, was du hast, sondern was du vielleicht haben könntest.
    "Man hatte Maschinen, mit denen man Schallplatten im Schlafzimmer machen konnte"
    Benzener: Die 80er und selbst die frühen 90er waren eine Dekade, eineinhalb Dekaden, mit Pop-Musik in den Charts von Bands ohne Gitarre. Ihre Band, Ultravox, Depeche Mode, Duran Duran, Japan und andere. Das Rock and Roll-Instrument, die Gitarre, war in die zweite Reihe gerückt. Das Instrument im Vordergrund, jenes, das man hörte, war das Keyboard beziehungsweise der Synthesizer mit all seinen Möglichkeiten. Synthie-Pop. Ihre Erklärung?
    Ure: Erinnern Sie sich daran, dass in den 80ern, dem Beginn der 80er, dem Ende der 70er, eine Revolution passierte. Nicht notwendigerweise eine Revolution der Gesinnung – Punk war ein paar Jahre vorher -, doch das Punk-Ethos, die Idee dieser Revolution veränderte.
    Technologie war auf einmal die Revolution. Man hatte Maschinen, mit denen man Schallplatten im Schlafzimmer machen konnte. Man konnte zu Hause aufnehmen, man hatte Schlagzeug-Maschinen, die das Erfordernis einer Band eliminierten, um Musik zu machen. Man hatte Synthesizer, die jeden Song kreieren konnten, den man sich vorstellte. Und Klänge, die man sich schon gar nicht vorstellte. Die Technologie änderte sich, und jeder war darüber erregt.
    Das, was sich nicht änderte, war die Qualität des Song-Schreibens. Die Songs waren überragend in den 80ern, von all den Bands, die Sie erwähnt haben: Japan und Duran Duran, Heaven 17 und Spandau Ballet und wer sonst noch. Ultravox, meine Band... es ist spaßig, wir wurden immer als Synthesizer-Band gesehen, der Keyboard-Spieler war ein klassisch Ausgebildeter Violinist, ich bin Gitarrist, wir hatten stets Gitarren benutzt – doch die Leute fokussierten sich auf den Synthesizer.
    Es war eine technologische Revolution, und alle sahen den Synthesizer als eine Neuigkeit, er kam auf die Schallplatte und machte die schnörkelig. Heute? Die gesamte Technologie wird genutzt. Computer, drum-machines, Synthesizer, alles, jeder. Egal, ob Du Klassik machst oder Pop oder Jazz oder Folk – jeder nutzt diese Technologie.
    Benzener: Ich möchte doch über Band Aid und Live Aid reden, jedoch in einem anderen Zusammenhang: Band Aid, Live Aid, der Song 'Do They Know It´s Christmas?' und zur gleichen Zeit der Thatcherismus. Konservativ bis auf die Knochen, nicht die 'Eiserne Lady', sondern die Lady aus Stahl, die die Gewerkschaften zerstörte, die staatliche Einrichtungen privatisierte, der Beginn von New Economy, mit Reagan und ihr. Da gibt es eine Gedankenkette zwischen Band Aid und ihr, Margret Thatcher?
    Ure: Eine schlimme, eine befremdliche Zeit, das muss ich sagen. Großbritannien zerbröckelte, die Gewerkschaften waren von ihr und den Konservativen zerschlagen, eine gotterbärmliche Zeit. Doch inmitten dieses Wahnsinns, dieses politischen Wahnsinns, in dem staatliche Energieunternehmen verkauft wurden, Versorgungsbetriebe, die Eisenbahn, öffentliche Verkehrsmittel – alles wurde verkauft. Als Menschen ermuntert wurden, die Häuser, die sie hatten und für die sie Miete zahlten, zu kaufen, weil es gut für sie wäre und sich danach sofort die Zinsen der Banken verdreifachten, die Menschen aber vorher ihre Lebensversicherungen verkaufen mussten, um das Haus zu halten - eine fürchterliche, eine grausame Zeit. Und wir fanden einen Weg, anderen zu helfen. Denen, die noch weniger als wir hatten. Als Band Aid über die Bühne ging, 1985, oder war es 1984, das war, als die Menschen in Großbritannien tatsächlich kämpften, um ihre Existenz. Doch sie steckten ihre Hand in die Hosentasche und holten ein Pfund heraus, also einen Euro – und kauften diese Schallplatte, um denen zu helfen, die 4.000 Meilen weg wohnten. Als die Menschen nicht mal genug Geld hatten, um Essen für sich zu kaufen, schickten sie Geld nach Afrika, um andere zu füttern. Das ist außerordentlich.
    Benzener: Und jetzt sind Sie eine hoch dekorierte Person: Mit dem OBE, dem Order of the British Empire, dem britischen Verdienstorden und Titel sowie zwei Ehrendoktorwürden. Die hat nicht jeder.
    Ure: Ich habe sie nicht erworben, meine Tochter, eine meiner Töchter ist zurzeit auf der Universität und arbeitet hart an ihrem Abschluss, und sie ist ein wenig neidisch, dass ich fünf habe, ohne etwas dafür zu tun. Vielleicht ist das der bessere Weg, sie zu bekommen, keine Ahnung.
    "Ich hatte mich zu überprüfen"
    Benzener: Die neue CD: Fragile. Das Leben ist fragil, zerbrechlich, brüchig, spröde. Und einer der zehn Songs heißt I survived, ich habe überlebt.
    Ure: Diese CD... nun, es ist 12 Jahre her, dass meine letzte CD erschien. Das ist eine verdammt lächerlich lange Zeit für jeden, um eine CD zu machen. Länger als Kate Bush für all ihre Alben brauchte. Ein paar Jahre hing ich durch: Ich trank zu viel, ich hatte Ärger dadurch, ich musste mich selbst aus dieser Lage bringen – was ich schaffte mit der Hilfe meiner Freunde und Familie, ich verlor den Fokus, was ich tat, ich war mir nicht mehr sicher, ob ich noch Teil der Musikindustrie sein wollte wie ich sie kannte, ich war mir, als ich aufhörte, zu trinken, ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch fähig war, Musik zu machen. Ohne die Hilfe des Alkohols.
    Ich hatte mich neu zu etablieren – für mich. Nicht für andere, nur für mich. Ich hatte mich zu prüfen, ob ich noch interessante Songs schreiben kann. Ich habe natürlich nicht 12 Jahre gebraucht, um diese CD zu machen. Die Ideen zu der CD, die entstanden nicht in den letzten 12 Jahren, nein, die kamen in den letzten drei Monaten. Bäng. Gemacht. Fertig. Wenn Sie eine CD machen, bei der sie alles selber tun, braucht das sehr, sehr, sehr viel Zeit, um alle Puzzle zusammen zu setzen zu einem großen Bild. Das braucht Zeit. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, um zu beurteilen, ob das gut oder schlecht war, war meine Vergangenheit zu verlassen. Zeit gibt dir Unterscheidung. Und die braucht viel Zeit.
    Benzener: Letztes Jahr wurden Sie 60.
    Ure: Wurde ich.
    Benzener: Sie werden sich an ihre Kindheit, an diese Band, an jene Band erinnern, an den großen, großen Erfolg – und nun sind Sie 60. 50... o.k. Aber 60?
    Ure: Nun, 60, ich glaube, heutzutage 60 zu sein ist ziemlich anders als zu der Zeit, in der unsere Eltern 60 waren. Ich bin gewissermaßen bekümmert um unsere Kinder, um die Generation, die nach uns kommt. Denn wir haben deren Leben quasi gekidnappt, wir sind eine Generation, die nie erwachsen geworden ist, wir sind eine Generation, die die gleiche Kleidung wie unsere Kinder trägt, wir sind eine Generation, die zu den selben Festivals wie unsere Kinder geht. Es scheint mir, als hätten wir deren Jugend gestohlen, wie Vampire, wir saugen deren Jugend aus, weil wir unsere nicht verlassen wollen.
    Das tut mir etwas leid für die Generation nach uns, denn die hat nichts, gegen das sie rebellieren kann – wir rebellieren mit ihr. Wir haben nie aufgehört, zu rebellieren. Das erste mal, dass das passiert ist, in der Sozialgeschichte. JA!
    Vermisse ich die Jahre des Erfolgs? Doch, um ehrlich zu sein, es wäre wunderbar, wenn jede Schallplatte, jede CD, die ich gemacht habe, von Millionen Menschen konsumiert würde. Doch die Realität ist: Ich bin ein arbeitender Musiker, ein Musiker in Betrieb, das wollte ich immer sein. Der Erfolg, das Geld, der Beifall waren die Sahne auf dem Kuchen. Etwas, das ich nie angestrebt habe, ich habe das gemacht, weil ich nichts anderes konnte, ich war getrieben, ich wollte diese Gitarre, als ich klein war – ich bekam sie, da war ich zehn, ich habe sie immer noch. Ich habe die beste Arbeit der Welt, weil es keine Arbeit ist. Ich habe mir das ausgesucht, und wenn ich jungen Leuten einen Rat geben kann: Macht, was ihr wollt! Wenn ihr Bildhauer werden wollt oder Graffiti-Künstler – tut es. Und ob es euch bezahlt?... Macht es für euch, denn dann habt ihr die beste Arbeit der Welt. Ihr wacht morgens auf und wollt weiter machen. Ihr wacht nicht morgens auf und hasst eure Arbeit, weil ihr nur mehr Geld machen wollt.