"Namenlos will ich sein und ohne Geschichte. Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Nur Haut und Augenblick." Stefans Existenz ist gescheitert. Nur ein angestrengt aufrechterhaltenes Netz aus Lügen gibt seinem Leben Halt. Auf lauter kleinen Lügen basiert auch seine Beziehung zu seinem Freund Uwe, dem er vorgaukelt, er sei ein gefragter Künstler. Doch für eine Nacht läßt Stefan das Geflecht von Unwahrheiten und Konventionen hinter sich. Er flieht aus seinem geregelten Alltag in ein düsteres Hotelzimmer und führt das Leben eines "Gestrandeten". Er läßt die Zimmertür einen Spalt offen und träumt von einer kurzen, aber wahrhaftigen Begegnung mit dem Nachtportier.
"Trost von Fremden" heißt die erste von zehn Erzählungen, die Mario Wirz unter dem Titel "Umarmungen am Ende der Nacht" vorgelegt hat. Im ersten und im letzten Text tritt Stefan als Ich-Erzähler in Erscheinung. Als heimliche Hauptfigur teilt er mit den anderen Protagonisten eine existentielle Erfahrung: Er kennt die Einsamkeit, die - so die Überzeugung von Mario Wirz - nicht zu besiegen ist. Im ihrem alltäglichen Kampf gegen das Alleinsein zahlen die Figuren einen hohen Preis. Sie sind nicht wahrhaftig: nicht zu anderen - und nicht zu sich selbst. Eine Mutter schweigt Jahr für Jahr zu den entsetzlichen Demütigungen, die ihr Mann dem einzigen Sohn beifügt, um ihren Mann und die sicher gewordenen Gewohnheiten nicht zu verlieren. Mit siebzehn verschwindet der Sohn dafür auf Nimmerwiedersehen. Eine andere Frau tut alles für den Mann, den sie begehrt, verleugnet sich in den Begegnungen mit ihm bis zur Selbstaufgabe, obwohl sie weiß, dass sie ihn nie bekommen wird. Robert, die Jugendliebe Stefans, hat entgegen seinen Gefühlen geheiratet, nur um normal zu erscheinen. Jan hat sich aus Liebe zu Mirko derart verbogen, dass er nicht einmal zu sich selbst zurückfindet, nachdem Mirko gestorben ist. Dazu Mario Wirz:
"Ein anderer Titel für dieses Buch eigentlich wäre gewesen: "Die Erfindung des anderen". Diese Texte handeln eigentlich davon, dass wir - wir umarmen jemanden, und wir haben für denjenigen, den wir umarmen, einen Namen, aber in der größeren und umfassenderen emotionalen und seelischen Wirklichkeit umarmen wir nicht die Gestalt, die dann Peter oder Martin oder Walter oder Otto heißt, sondern wir umarmen eine Gestalt, die wir erfunden haben, oft schon erfunden haben bevor es überhaupt diese Person gab. In einer Geschichte, in einer Beziehung, da beginnt das Drama, und das meine ich ganz nüchtern, da beginnt das Spiel zwischen den beiden in dem Augenblick, wo sie sich kennenlernen. Und endet nicht einmal mit dem Tod, wie die Geschichte zwischen Jan und Mirko."
Seit seinem Roman "Es ist spät ich kann nicht atmen" hat sich der heute 43jährige Autor in einer Mischung aus Larmoyanz und vitalem Trotz mit seinem nahen und gewissen Aids-Tod auseinandergesetzt. Indem das Schreiben ihm geholfen hat, sich ganz auf sich selbst zu besinnen, ist es ihm zur Therapie geworden. Seit gut zwei Jahren wirken neue Medikamente, ist der Tod noch einmal einen Schritt zurückgetreten und plötzlich steht der Autor, wie auch andere Hiv-Positive, vor der Situation, sich wieder auf das Leben einzustellen. Bilden diese Erfahrungen den Hintergrund für die neuen Erzählungen?
"Ich mutmaße, dass es so ist, dass das, was ein Dilemma für den Autor, für Mario Wirz ist, dass sich das widerspiegelt, und dass das hineingeströmt ist, auch wenn die Geschichten nicht diesen Punkt verhandeln konkret. Ich denke, dass die Figuren, dass sie lernen, Einsamkeit anzunehmen. Alles, was wir tun, ist ein Kampf gegen diese Tatsache und gegen diese Wahrnehmung, dass wir einsam sind und wir nicht einmal in der Liebe von dieser Einsamkeit befreit werden. Und daraus entsteht das Dilemma der meisten Liebesgeschichten und ich würde sogar sagen, fast aller Liebesgeschichten. Ich glaube aber, dass, wenn wir an den Punkt kommen, also dieser, ganz unspektakulären, unglamourösen stillen Annahme dieser Einsamkeit, dass dann etwas möglich ist mit einem anderen, wirklich möglich ist, dass dann etwas beginnt."
Das Leben seiner Helden ist, wie es in einer der Erzählungen heißt, "aus dem Rahmen gefallen". Aus dem Rahmen der Konventionen und Arrangements, in den es sich danach nicht wieder hineinzwängen lässt. Bei einigen, wie bei Rolf, Robert und Jan, reicht die Kraft gerade aus, um mit der gewonnen Erkenntnis weiterleben zu können, ohne sie zu verdrängen. Andere, wie Stefan und die Mutter, wachsen über sich hinaus und öffnen ihr Leben wenigstens für Augenblicke. So ändert Stefan zwar nichts in seiner für ihn wichtigen Beziehung zu seinem Freund, doch sucht er wenigstens im Hotelzimmer eine Situation, in der aus der Einsamkeit heraus eine Begegnung ohne Lüge möglich wäre. Fünfzehn Jahre nach der Flucht ihres Sohnes greift die Mutter in die Ladenkasse ihres Mannes, stiehlt ein paar Hundertmark-Scheine und fährt nach Berlin: in der Hoffnung, ihn dort wiederzufinden. Die bestürzende Radikalität der zunächst düster wirkenden Erzählungen liegt in der Wahrhaftigkeit, mit der Mario Wirz seine Figuren an den Punkt heran führt, von dem aus es keine Rückkehr mehr gibt, mit der zeigt, wie sie sich in unterschiedlichen Graden darauf einlassen, sich ihr sogar hingeben. Dazu Wirz:
"In dem Zusammenhang zitiere ich Genet, der mir einfällt. Der hat einmal gesagt, um den Unglück zu entkommen, mußt du dich ganz hinein versenken. Und ich denke, das ist einer der wahrsten Sätze. Für die, die nicht damit umgegangen sind, hört sich das masochistisch an oder moribund oder sonstwie seltsam und merkwürdig - doch dieses sich Hineinversenken und darauf sich Einlassen bedeutet ja, dass du in den Zustand einer Lebendigkeit kommst, die eben nicht mehr konstruiert ist in jenem Konzept der Pflichten, der Gewohnheiten, der Lügen, der Normen und all das, was wir als unbedingtes Muß begreifen, sondern es ist eine Überwindung. Eine Überwindung dieses gesellschaftlichen Raumes und auch eine Überwindung des subjektiven, eine Überwindung der Lebenslüge. Der Versuch der Überwindung zumindest. Und während sie das versuchen, sind sie, und selbst wenn sie sich furchtbar unglücklich fühlen, wahrhaftiger, lebendiger und somit eigentlich auch glücklicher als die große Schar der vermeintlich zufriedenen, die aus ihrer Zufriedenheit ein großes buntes Programm gemacht haben."
"Trost von Fremden" heißt die erste von zehn Erzählungen, die Mario Wirz unter dem Titel "Umarmungen am Ende der Nacht" vorgelegt hat. Im ersten und im letzten Text tritt Stefan als Ich-Erzähler in Erscheinung. Als heimliche Hauptfigur teilt er mit den anderen Protagonisten eine existentielle Erfahrung: Er kennt die Einsamkeit, die - so die Überzeugung von Mario Wirz - nicht zu besiegen ist. Im ihrem alltäglichen Kampf gegen das Alleinsein zahlen die Figuren einen hohen Preis. Sie sind nicht wahrhaftig: nicht zu anderen - und nicht zu sich selbst. Eine Mutter schweigt Jahr für Jahr zu den entsetzlichen Demütigungen, die ihr Mann dem einzigen Sohn beifügt, um ihren Mann und die sicher gewordenen Gewohnheiten nicht zu verlieren. Mit siebzehn verschwindet der Sohn dafür auf Nimmerwiedersehen. Eine andere Frau tut alles für den Mann, den sie begehrt, verleugnet sich in den Begegnungen mit ihm bis zur Selbstaufgabe, obwohl sie weiß, dass sie ihn nie bekommen wird. Robert, die Jugendliebe Stefans, hat entgegen seinen Gefühlen geheiratet, nur um normal zu erscheinen. Jan hat sich aus Liebe zu Mirko derart verbogen, dass er nicht einmal zu sich selbst zurückfindet, nachdem Mirko gestorben ist. Dazu Mario Wirz:
"Ein anderer Titel für dieses Buch eigentlich wäre gewesen: "Die Erfindung des anderen". Diese Texte handeln eigentlich davon, dass wir - wir umarmen jemanden, und wir haben für denjenigen, den wir umarmen, einen Namen, aber in der größeren und umfassenderen emotionalen und seelischen Wirklichkeit umarmen wir nicht die Gestalt, die dann Peter oder Martin oder Walter oder Otto heißt, sondern wir umarmen eine Gestalt, die wir erfunden haben, oft schon erfunden haben bevor es überhaupt diese Person gab. In einer Geschichte, in einer Beziehung, da beginnt das Drama, und das meine ich ganz nüchtern, da beginnt das Spiel zwischen den beiden in dem Augenblick, wo sie sich kennenlernen. Und endet nicht einmal mit dem Tod, wie die Geschichte zwischen Jan und Mirko."
Seit seinem Roman "Es ist spät ich kann nicht atmen" hat sich der heute 43jährige Autor in einer Mischung aus Larmoyanz und vitalem Trotz mit seinem nahen und gewissen Aids-Tod auseinandergesetzt. Indem das Schreiben ihm geholfen hat, sich ganz auf sich selbst zu besinnen, ist es ihm zur Therapie geworden. Seit gut zwei Jahren wirken neue Medikamente, ist der Tod noch einmal einen Schritt zurückgetreten und plötzlich steht der Autor, wie auch andere Hiv-Positive, vor der Situation, sich wieder auf das Leben einzustellen. Bilden diese Erfahrungen den Hintergrund für die neuen Erzählungen?
"Ich mutmaße, dass es so ist, dass das, was ein Dilemma für den Autor, für Mario Wirz ist, dass sich das widerspiegelt, und dass das hineingeströmt ist, auch wenn die Geschichten nicht diesen Punkt verhandeln konkret. Ich denke, dass die Figuren, dass sie lernen, Einsamkeit anzunehmen. Alles, was wir tun, ist ein Kampf gegen diese Tatsache und gegen diese Wahrnehmung, dass wir einsam sind und wir nicht einmal in der Liebe von dieser Einsamkeit befreit werden. Und daraus entsteht das Dilemma der meisten Liebesgeschichten und ich würde sogar sagen, fast aller Liebesgeschichten. Ich glaube aber, dass, wenn wir an den Punkt kommen, also dieser, ganz unspektakulären, unglamourösen stillen Annahme dieser Einsamkeit, dass dann etwas möglich ist mit einem anderen, wirklich möglich ist, dass dann etwas beginnt."
Das Leben seiner Helden ist, wie es in einer der Erzählungen heißt, "aus dem Rahmen gefallen". Aus dem Rahmen der Konventionen und Arrangements, in den es sich danach nicht wieder hineinzwängen lässt. Bei einigen, wie bei Rolf, Robert und Jan, reicht die Kraft gerade aus, um mit der gewonnen Erkenntnis weiterleben zu können, ohne sie zu verdrängen. Andere, wie Stefan und die Mutter, wachsen über sich hinaus und öffnen ihr Leben wenigstens für Augenblicke. So ändert Stefan zwar nichts in seiner für ihn wichtigen Beziehung zu seinem Freund, doch sucht er wenigstens im Hotelzimmer eine Situation, in der aus der Einsamkeit heraus eine Begegnung ohne Lüge möglich wäre. Fünfzehn Jahre nach der Flucht ihres Sohnes greift die Mutter in die Ladenkasse ihres Mannes, stiehlt ein paar Hundertmark-Scheine und fährt nach Berlin: in der Hoffnung, ihn dort wiederzufinden. Die bestürzende Radikalität der zunächst düster wirkenden Erzählungen liegt in der Wahrhaftigkeit, mit der Mario Wirz seine Figuren an den Punkt heran führt, von dem aus es keine Rückkehr mehr gibt, mit der zeigt, wie sie sich in unterschiedlichen Graden darauf einlassen, sich ihr sogar hingeben. Dazu Wirz:
"In dem Zusammenhang zitiere ich Genet, der mir einfällt. Der hat einmal gesagt, um den Unglück zu entkommen, mußt du dich ganz hinein versenken. Und ich denke, das ist einer der wahrsten Sätze. Für die, die nicht damit umgegangen sind, hört sich das masochistisch an oder moribund oder sonstwie seltsam und merkwürdig - doch dieses sich Hineinversenken und darauf sich Einlassen bedeutet ja, dass du in den Zustand einer Lebendigkeit kommst, die eben nicht mehr konstruiert ist in jenem Konzept der Pflichten, der Gewohnheiten, der Lügen, der Normen und all das, was wir als unbedingtes Muß begreifen, sondern es ist eine Überwindung. Eine Überwindung dieses gesellschaftlichen Raumes und auch eine Überwindung des subjektiven, eine Überwindung der Lebenslüge. Der Versuch der Überwindung zumindest. Und während sie das versuchen, sind sie, und selbst wenn sie sich furchtbar unglücklich fühlen, wahrhaftiger, lebendiger und somit eigentlich auch glücklicher als die große Schar der vermeintlich zufriedenen, die aus ihrer Zufriedenheit ein großes buntes Programm gemacht haben."