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Umbruch im Zeichen der Ringe

Der Autobauer Fiat hat mehr als 100 Jahre das Schicksal der Stadt Turin geprägt. Doch die Epoche, als ganz Turin von Fiat lebte, ist vorbei. Der Autokonzern steckt in einer tiefen Krise. Die Stadt steht vor einem grundlegenden Wandel; die Olympischen Winterspiele sollen ihn beschleunigen.

Eine Sendung von Claudia Russo |
    Ein Produkt-Manager über die Gründe der Krise beim Turiner Fiat-Konzern:

    "Als Fiat Qualität und Technologie vernachlässigt hat, haben uns die Kunden den Rücken gekehrt und sind zur Konkurrenz gegangen. Denn sie hatten das Gefühl, dass Fiat nicht mehr in Technologie investiert."

    Und der Chef-Architekt des Olympischen Dorfes über die Wandlung Turins im Zeichen der Ringe:

    ""Turin ist eine Stadt, die sich gerade vollkommen verändert, auch wenn sie ihren genauen Weg noch nicht ganz gefunden hat. Die Olympischen Spiele sind ein Teil dieser Veränderung, ein Teil, den man sehr stark wahrnimmt."

    Mehr als 100 Jahre lang teilten sie das gleiche Schicksal: Der Autobauer Fiat, die Stadt Turin und die Menschen, die dort leben. Zu den altehrwürdigen Palazzi und den eleganten Bogengängen der früheren italienischen Hauptstadt am Fuße der Berge gehörten immer auch die Fabrikschlote und die Arbeitersilos der grauen Vorstädte. Doch die Zeit, als ganz Turin von Fiat lebte, ist vorbei – eine Epoche zu Ende. Der große italienische Autokonzern steckt schon seit Jahren in einer tiefen Krise, aus der es kein Zurück geben wird. Tausende von Fiat-Arbeitern haben in den vergangenen Jahren ihre Jobs verloren, während sich ihre Töchter und Söhne erstmals seit drei Generationen nach Arbeit außerhalb der Fiat - Fabrikmauern umschauen müssen.

    Die bevorstehenden Olympischen Winterspiele sollen den Wandel der einstigen Industriestadt beschleunigen: Neue, hochmoderne Sportanlagen, Medienzentren und Hotels sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Jahrelang wurde gebaut und renoviert, um die Stadt der Welt für dieses Sport-Großereignis in neuem Glanz zu präsentieren. Eines der imposantesten Projekte ist sicherlich das Olympische Dorf, das einem ganzen Stadtviertel Turins eine neue Identität verpassen soll. Chefarchitekt Benedetto Camerana leitet das elfköpfige Architektenteam, das das Dorf entworfen hat. Er sieht sich daher als Architekt der Zukunft Turins.

    Benedetto Cameran – Der Chefarchitekt des Olympischen Dorfes

    Benedetto Camerana hat sich in einen dicken Mantel gehüllt, trägt Wanderschuhe und einen gelben Plastik-Schutzhelm. Der 43-jährige Architekt macht sich auf den Weg zur Baustelle des "Villaggio Olimpico", des neu errichteten olympischen Dorfes.

    Der starke Schneefall und der eisige Wind, der an diesem früher Morgen durch Turins Straßen fegt, scheint Benedetto Camerana nichts aus zu machen. Den ganzen Tag verbringt er hier draußen auf der Baustelle, wo noch emsig gearbeitet wird, denn die Zeit drängt: In wenigen Tagen muss das Athletendorf bezugsfertig sein. Stolz zeigt Benedetto Camerana sein Werk.

    "Das ist das Olympische Dorf: 750 Wohnungen für über 2500 Athleten. Hier war früher der Markt für Obst und Gemüse der Stadt Turin. Wir haben an alles gedacht: ein Restaurant, eine Trainingshalle, einen Entspannungsraum, die Labors für die Doping-Analysen, die Arztpraxen für die Kontrollen. Es gibt sogar ein kleines Einkaufszentrum, eine Post, eine Bank und ein paar andere kleine Geschäfte. Und das hier ist für die Journalisten - das Pressezentrum mit Konferenzräumen."

    Noch wird gearbeitet. Bagger pflügen über das riesige Areal, Betonmischer drehen sich, Gärtner sind mit der Verschönerung der Außenanlage beschäftigt. Rund 600 Meter zieht sich das Olympische Dorf in die Länge, das neben einem alten Turiner Arbeiterviertel entstand. Triste Hochhäuser aus den 70er und 80er Jahren sind hier kilometerlang aneinander gereiht: Die Schnittstelle zwischen dem alten und dem neuen Turin – nirgendwo fällt sie so stark ins Auge wie hier.

    ""Das gesamte Areal ist 100.000 Quadratmeter groß. Es ist eine Stadt in der Stadt, die neu gebaut werden musste. Das war eine gewaltige Herausforderung für uns Architekten, aber auch für die Stadt Turin, die eine große industrielle Vergangenheit hat: Die alten Industrieanlagen mussten in das neue Turin integriert werden. Es ist wirklich eine reizvolle Aufgabe, dieser Stadt ein neues Gesicht zu geben."

    Unüberhörbar schwingt etwas Stolz in den Worten des jungen Architekten mit. Akribisch kontrolliert er in der Großküche die ausgeführten Arbeiten. Sogar die Türklinken, die gerade angeschraubt werden, entgehen nicht seinen kritischen Blicken. Alles muss stimmen, schließlich trägt er die Verantwortung für den architektonischen und gesellschaftlichen Wandel seiner Stadt.

    "Ja, ich bin stolz darauf, bei der Wandlung Turins mit zu machen. Turin ist eine Stadt, die sich gerade vollkommen verändert, auch wenn sie ihren genauen Weg noch nicht ganz gefunden hat. Und die Architektur ist ein wichtiger Teil dieser Wandlung. Ich finde daher, dass meine Arbeit eine wesentliche Rolle für die Zukunft Turins spielt. Die Olympischen Spielen sind nur ein Teil dieser Veränderung, aber ganz bestimmt ein Teil, den man sehr stark wahrnimmt. Schließlich präsentiert sich Turin durch dieses Sport-Großereignis der ganzen Welt."

    Camerana hat es eilig. Mit seinem gelben Schutzhelm unter dem Arm hastet er in das improvisierte Architektenbüro auf der anderen Seite der Straße zur täglichen Lagebesprechung. Was aus seinem Athletendorf wird, wenn die Spiele vorbei sind, weiß auch er noch nicht genau. Einige der Appartements sollen in Sozialwohnungen umgewandelt werden. Aus anderen sollen Büros entstehen. Vielleicht, sagt Camerana und zuckt dabei mit den Schultern, wird hier später sogar eine Hochschule für Design untergebracht werden. Doch noch ist alles Zukunftsmusik. Der junge Architekt weiß nur eines: Mit seinem olympischen Dorf hat er sich in Turin ein Denkmal gesetzt - so oder so.

    Musik

    Sicherlich war es nicht die Schönheit der Stadt Turin, weshalb in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen dort hin zogen, sondern eher die Aussicht auf einen Job, den die meisten bei Italiens größtem Autobauer Fiat fanden. Doch die alte Industriestadt hat auch ihre Reize. Das meinen zumindest die beiden Schriftsteller Carlo Fruttero und Franco Lucentini, die in ihrer Erzählung Pflichtwohnsitz ihre Liebe zur piemontesischen Hauptstadt bekunden.

    Musik

    Literatur:
    In Turin existieren keine Idealbedingungen. Zwar ist die Stadt wunderschön, aber nicht in dem Sinn, in dem man das zum Beispiel von Lucca, Siena, Bergamo oder Mantua behauptet; die wenigen Literaten, die hier arbeiten, begegnen sich selten und dann eher zufällig unter den Kolonnaden und verabschieden sich auch schleunigst wieder mit ebenso warmen wie falschen Versprechungen, einander anzurufen; und was die sozialen Kontakte anbelangt – es gibt in Turin keine alles vereinende und hätschelnde mondäne Gesellschaft, und das bisschen vorhandene Kultur steht allein mit dem Glas in der Hand herum und beobachtet Industrie, Politik, Aristokratie und Justiz, wie sie exakt dasselbe tun, ein jedes in seinem Eckchen.

    Eine "schwierige" Stadt, zweifellos. Schwieriger - trotz der gegebenen gleichen Unzulänglichkeiten und Dummheiten in Landes-, Regional- und Stadtverwaltungen – als jede andere Stadt Italiens. Nun lehrt das Leben aber, dass man immer Möglichkeiten findet, etwas als wirklich unerträglich Empfundenes (Ehegatten, Arbeitsplatz, die Stadt selbst oder was auch immer) zu verlassen. Insofern müssen wir wohl den Schluss ziehen, dass uns Turin, so wie es ist, gut passt.


    Musik

    Turin wird noch immer mit der Automarke Fiat identifiziert. Kein Wunder: In der piemontesischen Hauptstadt ist die italienische Autoindustrie seit 1899 die Industrie Turins. Tausende von Süditalienern zogen für Fiat in den 50er und 60er Jahren nach Piemont, um Motoren zu bauen und Autos zusammen zu schrauben. Die Stadt am Fuß der Alpen boomte.

    Doch das ist lange her. Seit Jahren versinkt Fiat immer tiefer in der Krise. Immer mehr Arbeiter wurden entlassen; viele sind zur Kurzarbeit verdammt und kommen mit ihrem Gehalt kaum noch über die Runden. Wie Antonio Ferrante. Seit drei Jahren sitzt er schon zu Hause. Ob er jemals wieder bei Fiat arbeiten wird, weiß er nicht.

    Antonio Ferrante – Ein Fiat-Arbeiter in Kurzarbeit

    Es ist Mittagszeit. In der Bar "Le Lido" direkt vor den Werkstatttoren der alten Turiner Fiat-Fabrik "Mirafiori" herrscht gähnende Leere. Nur zwei Kunden mit abgewetzten Jeans und Steppjacken stehen am Tresen, unterhalten sich und trinken dabei einen Espresso. Hinter der Theke träumt indes Antonio Cartolaro, der Wirt, von besseren Zeiten. Damals, vor 15 Jahren, als Antonio, seine Bar eröffnete, kam er mit dem Ausschenken und Brötchen schmieren manchmal gar
    nicht nach. "Le Lido" war damals der Treffpunkt für die Arbeiter der nahe liegenden Fiat-Fabrik. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Mit dem Niedergang des Autoherstellers ist auch Antonios Betrieb in die Krise geraten.

    "Ich habe die Fiat-Krise stark zu spüren bekommen. Ich mache meine Bar um fünf Uhr morgens für die Arbeiter von der Frühschicht auf. Früher hat sich das richtig gelohnt. Und auch die verschiedenen Schichtwechsel bei Fiat waren für mich immer mit sehr viel Arbeit verbunden: um 13, um 15 und um 22 Uhr kamen viele Arbeiter vorbei und haben etwas gegessen und getrunken. Aber heute ist hier nichts mehr los. Es gibt nur noch wenige Arbeiter und die haben noch dazu wenig Geld zum Ausgeben."

    Heute hat Antonio, der Barbesitzer, viel Zeit ein Schwätzchen mit seinen wenigen Kunden, die ihm noch geblieben sind, zu halten. Mit Antonio Ferrante zu Beispiel, den er Tonino nennt. Er gehört seit vielen Jahren zu seinen Stammgästen. 30 Jahre arbeitete Antonio Ferrante bei Fiat. Anfang der 70er Jahre verließ er seine Heimatstadt in Apulien, um in Turin als Automechaniker sein Geld zu verdienen. Doch seit drei Jahren sitzt der kleine, grauhaarige Süditaliener nun schon zu Hause: Kurzarbeit ist sein Schicksal. Ein Schicksal, das Tonino mit seiner Frau teilt. Denn auch sie ist seit September vergangenen Jahres in Kurzarbeit.

    "Die Kurzarbeit zerstört Dich nicht nur finanziell. Denn man bekommt nur 650 anstatt 1100 Euro im Monat. Gleichzeitig macht sie Dich auch psychologisch kaputt. Denn Du sitzt den ganzen Tag zu Hause – ohne Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser werden könnte. Und es ist schwierig, den Kindern klar zu machen, dass sie auf gewisse Dinge verzichten müssen. Sie können nicht begreifen, dass beide Eltern von heute auf morgen zu Hause sitzen. So sagen sie schon mal zu mir: Kannst du das mal eben erledigen? Du hast ja eh nichts zu tun. All das ist für mich eine enorme Belastung, das kann ich Ihnen sagen."

    Einmal, manchmal zweimal in der Woche, geht Tonino zur Beratungsstelle der Automechaniker-Gewerkschaft Fiom. Hier in dem kleinen Haus direkt gegenüber der Fiat-Werkstatt Mirafiori im Turiner Süden, geht es ziemlich turbulent zu: Die meisten, stehen auf den Fluren, rauchen und diskutieren und warten auf einen Termin, um in Renten-, Abfindungs- und Kurzarbeitsfragen beraten zu werden. Tonio steht mitten drin und wirkt, wie auch die meisten seiner Kollegen, ziemlich hilflos:

    "Ich erinnere mich noch daran, als ich zum ersten Mal das Fiat-Werk Mirafiori in Turin betrat. Ich war überwältigt. Ich kam aus einem kleinen Betrieb und bei Fiat waren die Hallen und die Maschinen so riesig. Überall wimmelte es nur so von Arbeitern. Es war der Wahnsinn für mich."

    Zurück auf der Straße lässt Tonino den Blick über das Fiat-Werksgelände schweifen. Vieles hat sich verändert, sagt er, seit dem er hier anfing. Drei Millionen Quadratmeter ist das Fiat-Werk groß. Eine Stadt in der Stadt. Eine Industriestadt, die heute zum größten Teil jedoch wie ausgestorben wirkt. Früher, ja früher, sagt Tonio gingen hier täglich 60.000 Arbeiter ein- und aus; heute sind es nur noch knapp 12.000, die durch das Werkstor gehen. Was Tonino am meisten ärgert: Er fühlt sich von der Stadt Turin im Stich gelassen. Acht Prozent der Einwohner Turins sind zurzeit arbeitslos, Tendenz steigend. Bei den Jugendlichen liegt die Zahl sogar bei über 14 Prozent. Nur spektakuläre Aktionen, meint der 52-jährige Fiat-Arbeiter, würden die Aufmerksamkeit der Medien auf die dramatische Lage bei Fiat lenken. So kettete er sich vor ein paar Monaten mit einigen Kollegen an die Fiat-Tore, um Passanten und die Medien auf die missliche Lage der Fiat-Arbeiter aufmerksam zu machen.

    "Alles dreht sich doch in Turin nur noch um die Olympischen Winterspiele. Die Zeitungen, die Medien, die interessieren sich doch nur noch für dieses Spektakel. Deshalb wollen wir mit unseren Aktionen daran erinnern, dass diese Veranstaltung ja nur zwei Wochen lang dauert. Danach ist doch alles wieder vorbei und all diese Leute, vor allem Ausländer, die in den Baustellen der Stadt beschäftigt sind – was machen die danach? Also ich mache mir wirklich große Sorgen."

    Sorgen macht sich Tonino vor allem auch darüber, wie er seine Familie, seine Frau und die zwei Kinder, ernähren soll. Mit dem wenigen Geld, das er im Portemonnaie hat, kauft er am Nachmittag auf dem Markt an der Porta Palazzo in der Altstadt von Turin, etwas Obst und Gemüse, Brot und ein paar Scheiben Salami. Wann er das letzte Mal mit seiner Familie in Urlaub gefahren ist, das weiß er schon gar nicht mehr. Die prekäre Situation führt auch in seinem Privatleben zu Spannungen - zu Hause wird die Stimmung immer mieser.

    "Ja, es stimmt, ich streite viel mehr mit meiner Frau als früher. Wir waren einfach nicht daran gewöhnt, so viel Zeit zu Hause zusammen zu verbringen. Man hockt sich auf der Pelle, und irgendwann geht man sich auf die Nerven. Ständig diskutieren wir über alles, vor allem seitdem wir weniger Geld haben. Wir müssen viel sparen. Früher sind wir samstags zum Supermarkt gefahren und haben wild eingekauft. Heute kaufen wir nur noch das Nötigste. Wir streiten uns sogar über Waschmittel. Meine Frau benutzt viel zu viel davon und das kostet."

    Am liebsten zieht Tonino durch sein Stadtviertel, um alte Freunde und Arbeitskollegen zu treffen. Meistens stehen sie an der Straßenecke herum, rauchen eine und schimpfen auf Fiat und die Regierung in Rom. Seit einigen Tagen gibt es für sie einen kleinen Hoffnungsschimmer. Denn es geht das Gerücht um, Fiat wolle eine Art Rotationsprinzip für die Kurzarbeiter einführen. Demnach sollen die Arbeiter, die nun zu Hause sitzen, für sechs Wochen wieder zur Arbeit zurückkehren dürfen, andere werden dafür nach Hause geschickt. Doch die Freude auf die Arbeit hält sich bei Tonino in Grenzen.

    "Natürlich freue ich mich, zur Arbeit zurück zu kehren. Gleichzeitig aber bin ich nervös, habe fast Angst, weil sich die Stimmung in der Werkstatt in diesen drei Jahren auch wegen der vielen Kurzarbeit stark verändert hat. Die Arbeitskollegen sind sehr egoistisch geworden. Jeder denkt nur noch an sich."

    Bevor Antonio wieder auf sein Moped steigt und zurück in seine Vorstadtwohnung fährt, geht der er noch schnell beim Tabakladen vorbei und spielt Lotto. Vielleicht, sagt er, kann er hier ja ein paar Euro dazu verdienen. Ob er schon mal gewonnen hat? Nein, sagt Tonino, nicht einmal im Lotto habe er Glück. Doch der Traum bleibt, denn schließlich sollen es seine Kinder später einmal besser haben als er.

    "Mein Sohn wollte sich bei Fiat bewerben. Ich habe ihn davon abgehalten. Ich will nicht, dass er so endet wie ich. Ich finde es viel besser, wenn er für eine kleine Firma arbeitet, bei der, einen direkten Draht zu seinem Chef hat. Bei großen Konzernen wie bei Fiat zählen die Arbeiter doch heute überhaupt nichts mehr."

    Musik

    Sicherlich hat die 900.000 Einwohner zählende alte Industriestadt
    Turin auch ihre Reize. Die Lage am Südrand der Alpen ist ideal für
    Kurzurlaube in den Bergen. Auch gibt es bedeutende Museen, zum
    Beispiel für ägyptische Kultur und für Zeitgenössische Kunst, die
    imposante Residenz der Savoyer und die einzigartige Pinakothek
    der Familie Agnelli. All das ist es jedoch nicht, was die beiden
    Schriftsteller Carlo Fruttero und Franco Lucentini dazu veranlasste
    dort hin zu ziehen. Vielmehr ist es die Widersprüchlichkeit dieser
    Stadt, was die beiden an Turin so schätzen.

    Musik

    Literatur
    "Wir geben es zu: Über den albernen Flughafen, das deklassierte
    Opernhaus und die seit Jahren geschlossene Galerie für Moderne
    Kunst können wir uns kaum empören; die funkelnagelneuen
    Bahnhöfe der Metropolitana Leggera (so lautet der phantasievolle
    Name, den man sich für die Straßenbahn ausgedacht hat) dagegen
    mit ihren ambitioniert ins Nichts gehängten Schildern "Ausgang" und
    "Eingang" amüsieren uns doch sehr. Dank solcher
    Widersprüchlichkeiten und Absurditäten ist die savoyische
    Hauptstadt nicht nur weniger ausgestorben und monoton, als sie zu
    sein scheint, sondern auf geheimnisvolle Weise im Einklang mit dem
    Wahn der Zeit. Das Stadion, in dem Italiens berühmteste
    Fußballmannschaft spielt, bröckelt vor sich hin, ist unbequem und
    buchstäblich jedem Unwetter weit aufgeschlossen; die elegante
    homogene Architektur des Stadtzentrums wird von der
    verschrobenen Imposanz der Mole Antonelliana durchkreuzt; auf der
    ganzen Welt erlaubt sich kein Autokonzern oder sonst eine Firma
    derart grauenhafte Bürogebäude wie Fiat auf dem Corso Marconi;
    Baum bestandene breite Verkehrsadern werden zu Parkplätzen
    umfunktioniert; der Kult um das Schweißtuch der Veronika
    koexistiert mit jeder Menge Schwarzer Messen und Teufelsriten, die
    von pensionierten grauen Bürokraten praktiziert werden; ein
    beklagenswertes Gefühl von Ausgegrenztheit und Abstieg
    koexistiert mit leicht verdecktem Technologie-, Stil- und
    Rassendünkel; jede Initiative wird augenblicklich gedämpft durch
    Skepsis, jeder Erfolg ironisiert, jede Leidenschaft gebremst durch
    eine unsichtbare Hand, die einen am Revers packt. Halbkalt,
    halbprovinziell, halbmodern und halbitalienisch ist Turin auf die ihm
    eigene, unerklärliche Weise eine essentielle Stadt, in der nichts
    passiert, aber alles anfängt, zutage tritt, durchsickert, in aller Stille
    geboren wird.
    Also – antworten wir – wie macht man es eigentlich, nicht in Turin zu
    leben. Für Schriftsteller ein Pflichtwohnsitz.


    Musik

    Der Turiner Fiat-Konzern machte in den letzten Jahren mehr als
    einmal Schlagzeilen in der internationalen Wirtschaftspresse. Dabei
    waren die Nachrichten alles andere als positiv. Vor allem die
    Autosparte sorgte für immer neue Negativ-Rekorde: Immer weniger
    Fiat-Autos wurden weltweit verkauft, der Schuldenberg wurde
    größer und größer. Nun will Fiat seine Kunden zurückerobern – vor
    allem die jüngere Generation soll wieder Fiat-Autos kaufen. Die
    Zukunft der Turiner Autoindustrie hängt daher einzig und allein von
    einem neuen Automodell ab: dem neuen Fiat Punto.

    Verkauft er sich gut, kann es Fiat schaffen. Verkauft er sich
    schlecht, könnte dies das Ende des großen italienischen
    Autobauers bedeuten. 400.000 Puntos will Fiat nun pro Jahr
    verkaufen, ein hehres Ziel. Kein Wunder, dass die Menschen, die
    an dem neuen Punto arbeiten, den immensen Druck der
    Verantwortung spüren. Wie zum Beispiel der Fiat-Produkt-Manager
    Fabio Galetto.

    Fabio Galetto – Ein Fiat-Manager über die Zukunft des Konzerns


    Fabio Galetto hat schon am frühen Morgen ziemlich Stress. In einem kleinen Konferenzsaal des im alt-faschistischen Stil erbauten Fiat-Verwaltungsgebäudes Mirafiori leitet der Fiat-Manager eine Schaltkonferenz mit vier Kollegen. Er hat noch nicht einmal Platz genommen: Im Stehen, an einen Konferenztisch gelehnt, spricht er mit einer Fiat-Vertreterin über die Vermarktungsprobleme des neuen Punto-Modells im Ausland. Es steht sehr viel auf dem Spiel, denn vom Erfolg des neuen Modells wird es abhängen, wie es mit Fiat in der Zukunft weiter gehen wird. Die Anspannung ist dem 39-jährigen Produkt-Manager des Konzerns sichtlich ins Gesicht geschrieben.

    "Natürlich spüre ich ganz stark, wie diese Verantwortung auf meinen Schultern lastet. Ich stehe morgens auf und merke schon diese enorme Belastung. Man verlangt von mir, dass Fiat demnächst 400.000 Punto-Modelle weltweit verkauft. Das ist nicht wenig. Er wird uns helfen, viele Auslandsmärkte zurück zu erobern. Deswegen ist der Punto eine wichtige strategische Waffe für uns."

    Fabio Galetto ist zum Erfolg verdammt: Punto, Punto, Punto – für ihn gibt es schon seit zwei Jahren nichts anderes mehr. Sogar die Wände seines Büros sind voll von Bildern, Skizzen und Modellen des neuen "Grande Punto".
    Vor allem bei der jüngeren Generation soll der Punto einschlagen. Denn gerade die hatte sich in den vergangenen Jahren von Fiat abgewandt. Für die meisten waren die Fiat-Autos einfach zu langweilig, sagt Fabio Galetto.

    "Wir müssen jetzt ein jüngeres Publikum ansprechen, dafür muss ich mich einsetzen. Mit dem vorigen Punto-Modell hatten wir ein Zielpublikum mit einem Durchschnittsalter von über 55 Jahren. Das funktioniert aber nicht mehr. Was wir jetzt brauchen, sind junge Leute, um Fiat in die Zukunft zu bringen."

    Galetto hat all das, was man von einem Autoverkäufer erwartet: Nach außen hin wirkt er jung und dynamisch. Seinen Arbeitsstress versucht er hinter einem Dauerlächeln zu verstecken. Gerne wirbt er auch schon mal selbst für sein Produkt. In der riesigen Eingangshalle des Werks stehen mehrere Punto-Modelle zur Schau. Kommen wichtige Gäste, steigt Galetto persönlich ins Auto und präsentiert das Modell. Dabei lächelt er und zeigt seine strahlend weißen Zähne. Dann spricht er viel über bunte Farben, sportliches Design, und darüber, wie gut angeblich die Qualität der Fiat-Autos ist.

    "Als Fiat Qualität und Technologie vernachlässigt hat, haben uns die Kunden den Rücken gekehrt und sind zur Konkurrenz gegangen. Denn sie hatten das Gefühl, dass Fiat nicht mehr in Technologie investiert."

    Seit Monaten schon arbeitet Fabio Galetto fast rund um die Uhr. Die ersten Verkaufszahlen aus Italien, Deutschland, Spanien, Frankreich und Großbritannien geben ihm Mut, sagt er: rund 50.000 Bestellungen seien seit Ende September bei Fiat eingegangen, das stimme ihn zuversichtlich. Denn je mehr Puntos verkauft werden, desto mehr Arbeitsplätze könne seine Firma erhalten. Aber auch ihm ist nicht entgangen, dass die Autostadt Turin im Umbruch ist, dass die piemontesische Hauptstadt sich neu orientiert.

    "Man kann überall deutlich sehen, dass die Stadt eine Alternative zur Autoindustrie sucht. Und sie hat zwei neue Wege gefunden: die moderne Kunst und das Kino. Turin will sich als italienische Hauptstadt der zeitgenössischen Kunst etablieren. Gleichzeitig boomt hier das Filmgeschäft. Das zeigt, dass die Turiner Unternehmer, die als träge und fantasielos gelten, doch in der Lage sind, etwas Neues zu machen."

    Dann lächelt der bekennende Kunstliebhaber und zieht dabei Achseln und Augenbrauen hoch. Turin ohne Fiat ist für ihn undenkbar. Denn weder Kunstgalerien noch Turins kleine aber feine Kinobranche werden jemals ausreichen, sagt er, um für ausreichend Arbeitsplätze zu sorgen. - Galetto ist zum Erfolg verdammt.

    Musik
    Schon seit neun Jahren beschäftigt sich Vanda Bonardo mit den
    Winterspielen in Turin. Denn die Regional-Präsidentin des
    italienischen Umweltverbandes Legambiente ist von der ersten
    Stunde der Organisation der Olympischen Spiele an mit dabei. Ihre
    kritische Haltung gegenüber den massiven baulichen
    Veränderungen in Turin und den umliegenden Bergen wurde jedoch
    immer wieder ignoriert oder gar von der Presse zensiert.
    Und obwohl sie seit Jahren einen Kampf gegen Windmühlen führt,
    lässt sich die Piemonteserin in ihrer Arbeit nicht einschüchtern. Ihr
    Blick geht dabei in die Zukunft. Und so stellt sie auch immer wieder
    die Frage, was mit den riesigen Neubauten in Turin geschieht, wenn
    die Winterspiele nach zwei Wochen dann wieder vorbei sind?

    Vanda Bonardo – Die Umweltschützerin von Legambiente

    Vanda Bonardo hat es heute besonders eilig: Die attraktive Mitvierzigerin hat sich ihre Tasche fest unter den Arm geklemmt und ist auf dem Weg zu ihrem Büro. Vanda Bonardo ist Präsidentin des Umweltverbandes Legambiente, verantwortlich für den Regionalbezirk Piemont und Aostatal. Bevor sie sich mit ihren Mitarbeitern trifft, will sie noch schnell die in ihrem Computer eingegangenen E-Mails lesen.

    "Im Moment beschäftigen wir uns damit, was mit all den Neubauten, die für die Olympischen Winterspiele errichtet wurden, nach dieser Zeit geschehen soll. Schließlich kostet es den Steuerzahler auch eine Menge, diese Infrastrukturen zu erhalten. Also verlangen wir von den Turiner Behörden, dass sie uns sagen, wie die Neubauten wiederverwertet werden, damit sie den Bürgern etwas nutzen."

    Schon seit 1997 beschäftigt das Thema "Winterspiele in Turin" die gesamte Mannschaft von Vanda Bonardo. Beinahe täglich aktualisieren die Mitarbeiter die Legambiente-Hompage mit frischen Nachrichten über die großen Bauarbeiten in Turin und Umgebung. Immer wieder im Mittelpunkt: Die Folgen der olympischen Spiele für Umwelt und Gesellschaft. Auch mehrere Tagungen organisierte die unermüdliche Vanda Bonardo in all den Jahren, um mit Experten, Behörden und Bürgern offen darüber zu reden. Meistens vergeblich. Mehr als einmal versprachen die zuständigen Regionalbehörden, keine neuen Hotel- und Sportanlagen in der Region bauen zu wollen, um das Gebiet nicht zu zubetonieren. Doch es kam anders.

    ""Hier in der Stadt sind nicht nur große Wohnanlagen für Sportler und Journalisten entstanden. Man hat von dieser Bauwut ordentlich profitiert. In den Turiner Industrie-Vororten wurden auf die Schnelle auch riesige Wohnhäuser hochgezogen. Und die sind so hässlich, dass man wirklich obdachlos sein muss, um dorthin ziehen zu wollen."

    Nahezu täglich kann sich Vanda Bonardo ein Bild von den baulichen Veränderungen in der Stadt machen. Denn auf dem Weg zu ihren zahlreichen Terminen benutzt sie fast ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel. Vom Straßenbahnfenster aus beobachtet die Naturwissenschaftlerin, wie sich Turin immer mehr verändert. Sie sieht die großen, bunten Beton-Molochs, die überall aus dem Boden schießen. So wie die Hochhäuser am nördlichen Stadtrand, die den futuristischen Namen "Media Village Spina 3" tragen. Sie bilden eines der vier Medienzentren, die die Stadt für den Journalisten aus aller Welt für die Olympischen Spiele eingerichtet hat. Dazu kommt das Athletendorf und vier nagelneue Eislaufstadien. All das hat die Stadt in den vergangenen Monaten in eine gigantische Baustelle verwandelt.

    "Man kann seit Jahren kaum noch in Turin leben. Die Lage ist nicht auszuhalten. Ich wohne außerhalb der Stadt, fahre jedoch jeden Tag nach Turin und ich komme kaum noch durch: Überall sind Baustellen, Straßen aufgeschlagen, Bahnlinien unterbrochen und umgeleitet. Kurzum: ein Chaos. Und diese Bauwut hat die Turiner jahrelang belastet und ihre Lebensqualität schwer beeinträchtigt."

    Fast dreieinhalb Milliarden Euro wurden insgesamt in die Vorbereitung der olympischen Spiele investiert. Eine riesige Summe, mit der man viel mehr für die Bürger und die Zukunft der Stadt hätte machen können, kritisiert die Legambiente-Präsidentin. Stattdessen wurden die Winterspiele als die Chance der Stadt verkauft, sich ein neues internationales Image zu verpassen. Als einmalige Möglichkeit, die Depression der Fiat-Krise und die Arbeitslosigkeit hinter sich zu lassen. Doch Vanda Bonardos Fazit ist alles andere als positiv. Denn nicht einmal die boomende Baubranche habe den Turinern nachhaltige Arbeitsplätze gebracht:

    "Schauen Sie doch mal, wer auf den Baustellen hier arbeitet: Das sind fast nur Ausländer. Vor allem viele Rumänen wurden dafür nach Turin geholt. Doch nun kommt die Frage: Diese Ausländer, die nun nach Turin gekommen sind, zwei Jahre hier gelebt haben und zum Teil auch ihre Familie mitgenommen haben, was machen die dann, wenn alles fertig ist?"

    Zurück in der bescheidenen Legambiente-Zentrale: Vanda gönnt sich zusammen mit ihren Mitarbeitern eine Kaffeepause. Die meisten von ihnen sind Studenten, Zivildienstleistende und Freiwillige, denen eine gesunde Umwelt am Herzen liegt. Menschen die noch Ideale haben, sagt Vanda. Doch vieles sei aus dem Ruder gelaufen. Die Stadt habe eine gute Chance verpasst.

    "Turin ist eine Stadt des technologischen Wissens. Aber dieses Kapital geht verloren. Keiner unternimmt etwas, um unsere gut ausgebildeten Fachkräfte an die Stadt zu binden. Ich habe die Olivetti-Krise in Ivrea vor ein paar Jahren mitbekommen und jetzt erlebe ich gerade die Fiat-Krise. Das ist ein großer Schlag für die Informatiker und Ingenieure aus Turin. Das ist wirklich schade. Wenn man sieht, wie unsere Städte unter den starken Verkehrs- und Smogproblemen leiden, dann sollte ein Unternehmen wie Fiat eigentlich viel mehr in die Entwicklung umweltfreundlicherer Autos und öffentlicher Verkehrsmitteln investieren. Bei solchen Projekten könnte man viele Arbeitsplätze hier in Turin schaffen. Aber natürlich müsste auch der Staat ein solches neues Verkehrssystem finanziell unterstützen."

    Enttäuscht ist Vanda auch über die Berichterstattung in den italienischen Medien. Kaum jemand habe ihre Einwände ernst genommen, geschweige denn darüber berichtet. Sie sei in den vergangenen Monaten völlig ignoriert worden, so, als sei es inzwischen verboten, in Turin öffentlich kritisch über das Olympia-Projekt zu sprechen. Für viele Bürger Turins sei sie inzwischen zur Spielverderberin geworden. Dabei hat die Legambiente-Präsidentin einfach nur Angst. Angst, dass es mit der Olympia-Euphorie schneller zu Ende gehen könnte als geplant. Und dass Turin dann in eine Depression fallen könnte, aus der es kaum noch ein Zurück gibt.

    Musik
    Die schwere Fiat-Krise der vergangenen Jahre hat auch etwas
    Positives bewirkt: Man hat sich auf die Suche gemacht nach
    Alternativen zum Autobauer. Mit Erfolg. So entwickelte sich Turin
    seit einigen Jahren zu einem der wichtigsten italienischen High-
    Tech-Zentren. Vor allem die Technische Hochschule "Politecnico"
    genießt einen hervorragenden Ruf als Schmiede für Ingenieure
    und Computerexperten.

    Immer öfter gründen die Hochschulabsolventen dann ein eigenes
    Unternehmen oder finden einen interessanten Arbeitsplatz in einer
    der 1600 Firmen der Region, die sich mit den neusten
    Technologien befassen. Wie bei "Regola", einem kleinen,
    hochmodernen Betrieb in der Altstadt Turins.

    Bruno Belliero –Gründer des High-Tech-Unternehmens "Regola"

    In seinem Turiner Altbaubüro steht Bruno Belliero vor einem Computer mit bunten Grafikelementen und bespricht ein neues Projekt. Belliero, Anfang Fünfzig, modischer Anzug und Krawatte, hat Karriere gemacht. Vor zehn Jahren gründete er zusammen mit einem Kollegen das High-Tech-Unternehmen Regola. Ihr erster Auftrag damals war die Verwaltung des Fuhrparks einer Turiner Großbank. Kurze Zeit später folgte dann durch Zufall der Sprung in die Medizin.

    "Ich saß mit einem Neurochirurgen in einem Turiner Restaurant, als plötzlich dessen Handy klingelte. Ein Mann aus einem Bergdorf war in seine Klinik gekommen. Er hatte einen Unfall und jetzt mussten seine Röntgenaufnahmen überprüft werden, ob er sich etwas gebrochen hatte. Da sagte der Arzt zu mir: "Wir müssten ein Übertragungssystem entwickeln, um zu vermeiden, dass Patienten bis nach Turin transportiert werden, nur um eine Röntgenaufnahme überprüfen zu lassen". Und so haben wir ein System entwickelt, mit dem wir die Röntgenbilder statt die Patienten bewegen können."

    Das war der Anfang einer neuen Geschäftsidee. Zusammen mit seinen Mitarbeitern entwickelte der Informatikspezialist in kurzer Zeit ein Netzsystem für die 48 Krankenhäuser der Region Piemont, bei dem Röntgenaufnahmen, Kernspinntomographien und Ultraschalbilder mittels Computer von Krankenhaus zu Krankenhaus verschickt werden konnten. Seine Firma expandierte. Aus dem einstigen Zwei-Mann-Betrieb wurde ein Unternehmen mit heute 35 Mitarbeitern. Sein junges, aufgewecktes Fachpersonal, Informatiker, Wirtschaftsexperten und Grafik-Designer, rekrutierte er direkt vom Turiner-Akademikermarkt.

    "Von der technischen Hochschule und der Universität in Turin kommen sehr gut ausgebildete Fachkräfte. Leider gehen viele Studienabsolventen in kleinen Betrieben verloren. Denn die Universität fördert die Gründung neuer Firmen. Ich weiß aber nicht, wie viele dann tatsächlich überleben. Das zweite Problem ist, dass sich die großen Unternehmen die besten Akademiker sofort unter den Nagel reißen – schon bevor sie überhaupt ihr Studium abgeschlossen haben. Deshalb haben wir oft Probleme, gutes Personal zu finden."

    Bruno Belliero steht ständig unter Termindruck: So beschäftigt er sich nicht nur mit der Forschung und Entwicklung neuer Projekte in seiner Firma, er arbeitet außerdem mit der Turiner Handelskammer eng zusammen, pflegt Kontakte zu anderen Unternehmen aus der Computerbranche und hält Vorträge und Referate in ganz Italien. Auf seine Heimatstadt Turin ist er indes nicht gut zu sprechen, denn viel zu lange hätten sich die Turiner auf nur einen einzigen Auftraggeber verlassen: Fiat. Doch allmählich hätten nun auch Politik, Wirtschaft und Industrie, den Lauf der Zeit erkannt.
    "Die Stadt Turin ist heute bemüht, aus der Wirtschaftsdepression nach der Fiat-Krise heraus zu kommen. Das war lange Zeit nicht so. Da wurde nach alternativen Absatzmärkten erst gar nicht gesucht. Man hatte ja Fiat, und das reichte ihrer Meinung nach aus. Das war eine gefährliche Einstellung, denn da Fiat mehr oder weniger das Industriemonopol in der Stadt hatte, konnte der Konzern auch die Preise bestimmen. Erst mit der immer größer werdenden Krise des Fiat-Konzerns wurden einige Firmen wach, und sie begannen, sich auch auf anderen Märkten um zu schauen. Aber es ist ein langsamer Prozess, denn die Leute hier sind oft sehr provinziell."

    Trotz seines prall gefüllten Terminkalenders nimmt sich Belliero Zeit für seine Mitarbeiter. Denn eine Tasse Kaffee und ein Schwätzchen mit seinen Angestellten ist wichtig für das Arbeitsklima, sagt er, und diene auch der Motivation. Gerade in Zeiten wie diesen brauche Turin gute Leute.

    Literatur: Carlo Fruttero&Franco Lucentini, Pflichtwohnsitz, aus: Ein Hoch auf die Dummheit, Piper Verlag München 1997; übersetzt von Ute Stempel