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Umdenken bei den Eidgenossen

In der Schweiz stammen 40 Prozent des Stroms aus den fünf Atomkraftwerken des Landes. Nach der Fukushima-Katastrophe hat ein Umdenken eingesetzt: Der Bau neuer Kernkraftwerke wurde erst einmal auf Eis gelegt.

Von Thomas Wagner | 07.04.2011
    Leibstadt, eine 1200-Einwohnergemeinde am Schweizer Hochrheinufer: Neben der Kirche, in einem Fachwerkhaus das Strick-Stübli, in dem Wollsachen verkauft werden; schräg gegenüber ein Tante-Emma-Laden - ländliche Idylle pur, möchte man meinen. Nur eines stört: Die mehrere hundert Meter hohe Wasserdampfsäule, die gerade mal drei Kilometer vom Dorfzentrum entfernt aus dem Kühlturm des Kernkraftwerkes Leibstadt entweicht.

    "Ein bisschen mulmig ist mir zumute, ein bisschen. Wir leben mit dem Kraftwerk seit 25 Jahren oder so. Man hat keine andere Wahl. Man lebt hier. Man muss sich arrangieren, ob man es will oder nicht. Also die einzige Möglichkeit wäre: Wegziehen. Aber so lange man hier lebt, muss man es akzeptieren. Also ich hab das Gefühl auch. Das hat sich ziemlich stark verändert seit Japan, zum Schlechten natürlich. Ja, ich hoffe, dass jetzt ein Umdenken stattfindet und dass die alternativen Energien viel stärker gefördert werden."

    Draußen das Bild vom Kühlturm des nahe gelegenen Kernkraftwerkes vor Augen, drinnen, in den Wohnzimmern, die Katastrophenbilder aus Japan: Gerade die Bewohner von Leibstadt sind nachdenklich geworden, obwohl sie eigentlich vom Atomkraftwerk profitieren - wegen der sicheren Arbeitsplätze dort, auch wegen Steuervergünstigungen in der Gemeinde. Und der Stimmungswandel in Leibstadt ist ein Spiegelbild für den Stimmungswandel in der Schweiz insgesamt.

    "Wir leben in einer direkten Demokratie. Ich kann mir, ganz ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass auch in zehn Jahren, 15 Jahren, die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, wieder konfrontiert mit den Bildern von Japan, mehrheitlich für ein neues AKW stimmen würden."

    So der von 1995 bis 2010 amtierende schweizerische Energieminister Moritz Leuenberger im Schweizer Fernsehen. Die Aussage ist beachtlich, setzte die Schweizer Energiepolitik bislang doch voll auf die Kernkraft: 40 Prozent des eidgenössischen Strombedarfes stammt aus den fünf Atomkraftwerken im Land; 56 Prozent werden über Wasserkraft abgedeckt; gerade mal vier Prozent stammen aus erneuerbaren Energien außerhalb der Wasserkraft, beispielsweise aus der Photovoltaik. 2003 wurde die Initiative "Strom ohne Atom" in einer Volksabstimmung mit 65 Prozent abgelehnt; die breite Mehrheit der Schweizer stand hinter der Atomenergie. Mit seiner Einschätzung, dass die Mehrheitsverhältnisse nach der Reaktorkatastrophe von Japan ganz andere wären, dürfte Ex-Energieminister Moritz Leuenberger nicht falsch liegen. Seine Nachfolgerin Doris Leuthardt hat in einer ersten Reaktion eine Sicherheitsüberprüfung aller bestehenden Schweizer Atomkraftwerke angeordnet. Darüber hinaus hat sie das so genannte 'Rahmenbewilligungsverfahren' zum Bau drei neuer Atomkraftwerke der Schweiz erst einmal gestoppt oder, wie die Schweizer sagen, "sistiert".

    "Sistieren heißt, das Verfahren wurde gebremst, gestoppt für den Moment. Das heißt, dass dieses Verfahren auch wieder aufgenommen werden kann. Das ist keineswegs Entwarnung. Wir fordern, dass diese Gesuche endgültig zurückgezogen werden von den Betreibern. Und wir werden dafür sorgen, dass das geschieht."

    So Jürg Buri von der atomkraftkritischen Schweizerischen Energiestiftung in Zürich. Er sieht noch ein gutes Stück Arbeit vor sich, damit aus dem vorläufigen Stopp für den Neubau schweizerischer Kernkraftwerke eine grundsätzliche Wende in der Energiepolitik wird. Allerdings sah er die Zeit dafür schon vor der Reaktorkatastrophe von Japan gekommen: Denn kurz bevor die Reaktoren in Fukushima hochgingen, erbrachte eine Volksabstimmung im Kanton Bern über den Weiterbetrieb des Atomkraftwerkes Mühleberg mit 49 zu 51 Prozent nur eine hauchdünne Mehrheit für den Weiterbetrieb; die breite Zustimmung vergangener Jahre und Jahrzehnte - aus und vorbei, schon vor den Ereignissen in Japan. Dass danach Atomkraftwerke in der Schweiz mehrheitsfähig werden, glauben nicht einmal die Befürworter von einst. Die Schweizerische Freisinnige Partei, die einen glühenden Pro-Atomkraft-Kurs fuhr, regt nun Ausstiegsszenarien an. Und selbst die erzkonservative Schweizerische Volkspartei will, mit einer einigermaßen merkwürdig klingenden Begründung, weg von der Kernkraft. Jürg Buri:

    "Die SVP möchte die Einwanderung stoppen, damit der Stromverbrauch nicht steigt. Das ist natürlich ziemlich abstrus. Aber eben, es ist erfreulich, dass sich gewisse bürgerliche Parteien, die seit Anbeginn immer pro Atom waren, dass sich diese Parteien nun Gedanken machen wollen, mit uns über eine Zukunft ohne neue Atomkraftwerke zu reden."

    Doch Jürg Buri von der Schweizerischen Energiestiftung will langfristig mehr: Nämlich einen Ausstieg ganz generell aus der Kernkraft. Doch dabei bleibt er Realist. Bei einem Atomstromanteil von 40 Prozent ist das von heute auf morgen nicht zu machen. Deshalb machen sich Jürg Buri und die Experten der Schweizerischen Energiestiftung Gedanken darüber, wie der schweizerische Atomstrom ersetzt werden könnte

    "Nur alleine die Effizienzpotenziale liegen bei etwa 30 Prozent. Wir verschwenden jede dritte Kilowattstunde in nicht effizienten elektrischen Anwendungen. Also zum Beispiel könnten wir sämtliche Elektroheizungen in der Schweiz, es gibt 240 000 davon, durch Wärmepumpen ersetzen. Und das würde uns zum Beispiel die Strommenge des AKW-Mühlenbergs gleich einsparen."

    Immerhin hat das Schweizer Energie-Department ein Szenario vorgelegt, nachdem bis zum Jahr 2035 immerhin die Strommenge der drei ältesten Schweizer Atomkraftwerke problemlos ersetzt werden könnte. Mehr Stromeffizienz - das ist der eine Weg zum Ziel. Und der andere wäre demnach die verstärkte Förderung der Photovoltaik, die in der Schweiz bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde, so Jürg Buri von der Schweizerischen Energiestiftung.

    "Im Gegensatz zu Deutschland hat die Schweiz die letzten 20 Jahre verschlafen. Die Schweiz war mal führend in der Photovoltaikindustrie. Heute haben wir vor allem Firmen, die Exportmärkte außerhalb der Schweiz beliefern, und leider Gottes keine genügende Förderung in der Schweiz."

    Das änderte sich erst vor zwei Jahren, als auch die Schweizer Regierung ein Gesetz verabschiedete, wonach ins Stromnetz eingespeiste erneuerbare Energien zu einem verbindlichen Satz vergütet werden müssen. Allerdings ist diese Photovoltaikabgabe nach oben hin begrenzt. Ob sich die Schweiz von der Kernenergie langfristig verabschieden will oder nicht, darüber wird derzeit heftig über alle Parteigrenzen hinweg debattiert. Eine einheitliche Haltung der Schweizer Bundesregierung, in der alle großen Parteien vertreten sind, gibt es noch nicht. Möglicherweise wird diese Frage irgendwann in einer weiteren Volksabstimmung entschieden. Jürg Buri von der Schweizerischen Energiestiftung hofft erst einmal auf die Erreichung eines Etappenziels, nach der Sicherheitsüberprüfung der Schweizer Kernkraftwerke.

    "Das kann dazu führen, dass wir die drei Uralt-AKWs in Beznau und Mühleberg bereits in den nächsten Jahren abstellen werden."