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Umdenken nach 25 Jahren

Am 6. Januar war es soweit: China feierte die Geburt von Zhang Yichi. Der kleine Pekinger ist der 1,3 Milliardste Chinese, so hat es zumindest die Regierung errechnet. Die Fernsehnachrichten wiederholten Stunde um Stunde Bilder von dem Säugling und seinen glücklichen Eltern, wie sie die Gratulationen der Staatsführung entgegennahmen. In Shanghai wurden aus diesem Anlass eigens Festkonzerte veranstaltet. Immer wieder erklang das Lied "Heute ist Dein Geburtstag, mein China".

Von Kerstin Lohse | 22.02.2005
    Das eher symbolisch als statistisch zuverlässig gewählte Datum bot der chinesischen Führung Gelegenheit, die Erfolge ihrer Bevölkerungspolitik zu preisen. Ohne die staatlichen Vorgaben würden heute zwei- bis dreihundert Millionen Menschen mehr in China leben, hieß es. Tatsächlich ist China Beachtliches gelungen: Zwischen 1970 und 2002 sank die Geburtenrate von knapp 6 auf 1,8 Prozent.

    Mit 1,3 Milliarden Einwohnern ist die Volksrepublik das bevölkerungsreichste Land der Welt. Als die Ein-Kind-Politik vor 25 Jahren eingeführt wurde, stand die Sorge um Chinas Zukunft im Vordergrund. Würde die Regierung ihre Landsleute dauerhaft ernähren und mit Arbeit versorgen können? Würden Wohnraum und Ressourcen ausreichen?

    Diese Fragen veranlassten den Reformarchitekten Deng Xiaoping, sich erstmals für eine strikte Kontrolle des Bevölkerungswachstums zu entscheiden. Vor allem aber die Zahlen dürften ihm Angst gemacht haben. Innerhalb von nur 30 Jahren hatte sich die Bevölkerung fast verdoppelt. Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, lebten rund 500 Millionen Menschen in China. 1980, zu Beginn der Ein-Kind-Politik, waren es bereits knapp eine Milliarde.

    Der Traum von der Ehe ist für viele Männer unerfüllbar

    Eine Hochzeit in weiß, ganz im westlichen Stil, das ist inzwischen der Traum vieler chinesischer Paare.

    40 bis 60 Millionen heranwachsender Männer werden sich diesen Traum jedoch vermutlich nie erfüllen können. Rein statistisch gesehen können sie keine Frau finden. Dies wurde der chinesischen Führung mit einem Schlag klar, als 2001 eine erste Auswertung der landesweiten Volkszählung vorlag. Die Bevölkerungsplaner mussten feststellen, dass im Landesdurchschnitt auf 100 Mädchen 117 Jungen geboren werden.

    Nirgends ist das Missverhältnis krasser als in der südostchinesischen Provinz Jiangxi: Dort wurden 2003 auf 100 Mädchen 138 Jungen geboren. - Aus Sorge vor den sozialen Folgen dieser Entwicklung entschied die Staatliche Bevölkerungs- und Familienplanungskommission im Frühjahr 2003, so schnell wie möglich zu handeln. In elf Landkreisen der Provinz Jiangxi wurden Pilotprojekte zur Förderung von Mädchen und Frauen begonnen. Regierungsvertreter versuchen, mit Hilfe finanzieller Anreize und Überzeugungsarbeit zu erreichen, dass die Landbevölkerung Mädchen und Jungen als gleichwertig ansieht. Feng Hua leitet die Bevölkerungs- und Familienplanungskommission auf Provinzebene:

    Die Bauern machen sich um zwei Dinge große Sorgen: Erstens, dass sie verachtet werden, wenn sie keinen Sohn als Stammhalter vorweisen können. Und zweitens, dass sich im Alter niemand um sie kümmert, weil die Töchter verheiratet sind.

    Es komme darauf an, die traditionellen Vorstellungen zu zerschlagen, dass viele Kinder Reichtum bedeuteten und das Glück der ganzen Familie davon abhänge, einen männlichen Stammhalter vorzuweisen, sagt der 47jährige Feng. Ein schwieriges Unterfangen, galten doch seit jeher verheiratete Töchter als "ausgeschüttetes Wasser", so die wörtliche Übersetzung von "Pochuqu de shui". Denn nach ihrer Hochzeit wechseln sie zur Familie des Mannes.

    Bis vor kurzem tauchten in den Stammbäumen der Familien von Jiangxi keine Frauennamen auf. Fährt man über das karge Land der südostchinesischen Provinz, die halb so viele Einwohner wie die Bundesrepublik zählt, so fallen an zahlreichen Häuserwänden Slogans in großen roten Schriftzeichen auf: "Mädchen sind auch Nachfahren" oder "Weniger Kinder bedeuten schnelleren Wohlstand". Bevölkerungsexperte Feng hat sich eingehend mit den Ursachen des Missverhältnisses zwischen Jungen und Mädchen beschäftigt:

    Wir haben herausgefunden, dass beim ersten Kind das statistische Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen noch normal ist. Beim zweiten Kind aber gibt es schon mehr Jungen- als Mädchen-Geburten, und beim dritten Kind handelt es sich - rein statistisch - fast nur noch um Jungen. Viele Leute auf dem Land wollen ein zweites Kind, wenn das erste ein Mädchen ist. Früher haben viele per Ultraschall das Geschlecht feststellen lassen und dann heimlich abgetrieben, wenn sie wussten, dass es wieder ein Mädchen wird.

    Der 55-jährige Xiong Huansheng praktiziert seit 17 Jahren am Kreiskrankenhaus von Fuzhou. An der Tür zu seinem Behandlungszimmer hängt ein Schild, das Xiong und seine Kollegen vor Zuwiderhandlungen warnt: Wer bei Ultraschall-Untersuchungen das Geschlecht des Kindes verrät, muss mit einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 3.000 Euro rechnen und verliert seinen Job, heißt es da. Der Arzt berichtet:

    Es kommen Paare zu uns, die verzweifelt darum betteln, dass wir ihnen das Geschlecht ihres Kindes verraten. Das hat etwas mit der besonderen Situation auf dem Land zu tun. Wenn es in einer Familie keine Männer gibt - wer macht dann die schwere Feldarbeit? Das ist der eine Grund. Der andere hat etwas mit den tief verwurzelten traditionellen Familienwerten zu tun. Nur ein Sohn kann den Namen der Familie weiterführen. Deshalb gibt es immer wieder Leute, die versuchen, mich zu bestechen. Aber ich habe meine Prinzipien.

    Für Familien mit zwei Töchtern schließt die Provinzregierung neuerdings eine Krankenversicherung ab, die bis zum sechsten Lebensjahr alle Kosten abdeckt. Zudem erhalten beide Elternteile ab dem 60. Lebensjahr eine Zusatzrente von je 30 bis 35 Euro pro Jahr, damit sie nicht länger allein auf ihre Kinder als Altersvorsorge angewiesen sind.

    Viele Mädchen brechen die Schulausbildung ab

    Mathematikunterricht in der 1. Klasse. Mit bunten Holzstäbchen erklärt Lehrerin Wang den Kindern das Rechnen. Eifrig machen die Schüler ihr alles nach. "Zehn minus eins", ruft Frau Wang - und schon nehmen die Erstklässler ein Stäbchen von ihrem Stapel weg.

    In der Grundschule von Linchuan werden 480 Jungen unterrichtet - und nur 290 Mädchen. Trotz aller Bemühungen der Regierung kann das über Jahrzehnte geschaffene Missverhältnis nicht von einem Tag auf den anderen behoben werden. Doch erste Erfolge seien bereits sichtbar, sagt Direktor Chen stolz. Während früher viele Mädchen die Schule bereits nach der fünften oder spätestens der sechsten Klasse abgebrochen hätten, würden sie nun bis zum Mittelschulabschluss bleiben:

    Auf dem Land sind viele Bauern der Meinung, dass Mädchen früh heiraten sollten, statt etwas zu lernen. Weil sie ihre Töchter in erster Linie als Last ansehen, kümmern sie sich auch nicht um ihre Zukunft. Viele Mädchen verlassen deshalb die Schule frühzeitig, um auf ihre jüngeren Geschwister aufzupassen - und das, obwohl sie selbst begierig sind zu lernen.

    Die Politik zeigt erste Erfolge. Bei vielen Eltern beginnt ein Umdenkungsprozess. So auch bei der 30-jährigen Cai Longqiang. Die Mutter von zwei Töchtern wollte ursprünglich noch ein drittes Kind:

    Eigentlich wollten wir noch einen Sohn. Aber die neue Politik bietet für die Ausbildung der Mädchen besondere Förderprogramme und für die Familien einige Privilegien, zum Beispiel beim Hausbau. Das hat uns veranlasst, unsere Pläne zu ändern. Wir wollen nun kein drittes Kind mehr.

    Seit 1953 hatte es in China immer wieder Bemühungen gegeben, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren. Häufig waren sie mit Umsiedlungsmaßnahmen verbunden, die zum Ziel hatten, einen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu erzielen. Doch erst mit dem Gesetz zur Ein-Kind-Politik, das 1980 verabschiedet wurde, verschaffte die chinesische Führung sich gewissermaßen Zutritt in die Schlafzimmer ihrer Landsleute.

    Familien mussten unter scharfen Sanktionen leiden

    Auf oft grausame und menschenverachtende Weise setzte sie die staatliche Familienpolitik durch. Frauen, die mit dem zweiten oder dritten Kind schwanger waren, wurden manchmal bis zum achten Monat zur Abtreibung gezwungen. Nicht selten wachten Frauen nach einem Kaiserschnitt aus der Narkose auf und waren sterilisiert. In den Städten wiederum mussten Ehepaare, die ein Kind wollten, sich erst die Genehmigung erkämpfen, bevor sie gemeinsam ins Bett gehen durften. In Fabriken hingen Tafeln aus, an denen für jeden lesbar war, wer als nächste ein Kind bekommen durfte. Die 44-jährige Fabrikarbeiterin Tong Li aus Shanghai erinnert sich:

    In meiner Fabrik gab es eine Frau, deren Aufgabe es war, zu kontrollieren, dass jede Frau auch ihre Regel hatte. Jeden Monat stand uns ein Paket Damenbinden zu. Doch bevor wir sie erhielten, mussten wir der Aufseherin zeigen, dass wir auch wirklich Blutungen hatten. Als ich das 2. Mal schwanger wurde, verlor die Frau ihren Job, weil sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen war. Ich habe mich schuldig gefühlt, denn sie hatte mich stets weniger genau überprüft, weil wir befreundet waren.

    Tong Li, die ihr zweites Kind trotz mehrfacher Aufforderung ihrer Eltern und ihres Arbeitgebers nicht abtreiben ließ, bekam ebenso wie ihre Freundin die Härte des Systems zu spüren. Obwohl sie damals nur 58 Yuan im Monat verdiente, wurde ihr eine Strafe von 5.000 Yuan aufgebrummt. Monat für Monat wurde ihr Gehalt gepfändet.

    Doch damit nicht genug: Ihr Sohn war nicht - wie sonst üblich - über den Arbeitsplatz der Mutter krankenversichert. Für jeden Arztbesuch mussten die Eltern von Anfang selbst aufkommen. Als die Fabrik wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte, musste Tong Li als eine der ersten gehen. Dass sie wieder schwanger geworden war, obwohl man ihr nach der Geburt ihres ersten Kindes eine Spirale eingesetzt hatte, interessierte damals niemanden.

    Große Widerstände auf Seiten der Bevölkerung zwangen die Regierung jedoch schon bald zu Kompromissen. 1984 wurden erstmals Ausnahmeregelungen für Zweitgeburten erlassen, die in erster Linie für die ländlichen Gebiete gelten. Wer auf dem Land als erstes Kind ein Mädchen bekommt oder ein behindertes Kind, darf seitdem noch einen Versuch wagen. Und wer zu einer nationalen Minderheit gehört, darf sogar zwei bis drei Kinder haben - egal ob das Erstgeborene ein Junge oder ein Mädchen ist.

    In den neunziger Jahren wurde die Bevölkerungskontrolle weiter gelockert. So droht inzwischen beim zweiten Kind nicht mehr die Abtreibung, sondern lediglich eine Geldstrafe. Die allerdings ist saftig: In Shanghai müssen Eltern um die 10.000 Euro bezahlen. Doch viele betrachten es bereits als Erleichterung, dass jeder, der es sich leisten kann, ein zweites Kind bekommen darf.

    Die Politik wertet ihre Strategie als Erfolg

    40 bis 60 Millionen Männer ohne Frauen? Die drohenden sozialen Folgen der einst eingeschlagenen Politik seien enorm, betonte Staatspräsident Hu Jintao kürzlich in einer Rede. Offen bezeichnete der Staats- und Parteichef das krasse Missverhältnis zwischen Jungen und Mädchen als eine der größten Herausforderungen für die gesellschaftliche Stabilität. Experten aus dem In- und Ausland hatten von Beginn an vor den Folgen der chinesischen Bevölkerungspolitik gewarnt.

    Männer, die keine Chance auf eine eigene Familie haben, könnten langfristig kriminell werden und das gesellschaftliche Gleichgewicht gefährden. Schon heute ist in chinesischen Zeitungen von Schlepperbanden die Rede, die im Auftrag lediger Bauern durchs Land ziehen und Bräute anwerben. Nicht selten werden diese Frauen wenig später Opfer von Massenvergewaltigungen.

    "Kleine Kaiser" werden Einzelkinder in China häufig genannt, weil sie von Eltern und Großeltern mit Samthandschuhen behandelt werden. All ihre Liebe und Zuwendung richtet sich auf das eine Kind. Kein Wunder, dass viele von ihnen inzwischen als verwöhnt gelten. Der Umgang mit einer Generation von Einzelkindern stelle Kindergärtnerinnen und Lehrer vor eine besondere Aufgabe, sagt Zhou Ming, Leiterin des Changshu-Kindergartens in Shanghai:

    Die Einzelkinder müssen bei uns lernen, dass sich nicht alles um sie dreht. Das dauert eine Weile. Wir versuchen, ihnen einen Sinn für Gemeinschaft zu vermitteln, indem wir zusammen spielen, miteinander Probleme bereden und etwas zusammen erleben. Anfangs dachten wir, dass die Einzelkinder China vor ein großes Problem stellen. Aber inzwischen wissen wir, dass Selbstsucht durch entsprechende Erziehung ausgeglichen werden kann.

    In einem Land mit so vielen Menschen wie in China kommen nur die Besten weiter. Millionen Eltern sind deshalb bereit, große Summen in die Ausbildung ihrer Einzelkinder zu investieren - häufig mehr als ein Drittel des Familieneinkommens. Wie auch die Familie Lin.
    Trotz Schulferien sitzt die pummelige Lin Xingze ein wenig unwillig am Klavier. Die Zehnjährige hat eigentlich einige Tage frei, doch ihre Eltern sind da anderer Ansicht. Ferien, das bedeute Zeit, um mal richtig Klavier zu üben. Sie haben Xingze daher zum täglichen Vorspiel bei Lehrer Wang angemeldet. Anschließend geht sie zum Englisch-Kurs und zusätzlich zweimal die Woche zum Mal-Unterricht. Der Vater erzählt:

    Meine Frau und ich verdienen zusammen rund 3.000 Yuan im Monat. Aber der Wettbewerb zwischen den Kindern ist heutzutage unerbittlich geworden. Und ich gehe davon aus, dass es in Zukunft eher noch schlimmer wird. Deshalb wollten wir lieber von Anfang an in die Ausbildung unserer Tochter investieren. Dann ist es vielleicht für sie mal einfacher, eine gute Stelle zu finden.

    40 Prozent ihres Einkommens investieren Xingzes Eltern in die Ausbildung ihrer einzigen Tochter. Kaum hatte sie die zweite Klasse hinter sich, da beschlossen Lin und seine Frau, dass sie auf einer Privatschule besser aufgehoben sei. Doch das Bestehen der Eingangsprüfung allein reichte angesichts der Vielzahl von Bewerbern nicht mehr aus.

    Damit Xingze schließlich einen Platz bekam, mussten ihre Eltern eine so genannte "Spende" in Höhe von 10.000 Yuan, umgerechnet rund 1.000 Euro, leisten, ganz zu schweigen von dem monatlichen Schulgeld. Xingzes Mutter hätte gern noch ein zweites Kind gehabt. Doch neben der offiziellen Familienpolitik hielt sie vor allem die Angst vor den zusätzlichen Kosten ab.

    Ein zweites Kind würde viel Geld kosten. Die Belastung wäre einfach zu hoch für uns. Selbst wenn ich noch mal schwanger würde, ich würde mich gegen das Kind entscheiden,

    sagt Xingzes Mutter. All ihre Erwartungen projizieren Xingzes Eltern nun auf die einzige Tochter. Wie viele der Gleichaltrigen ist die Zehnjährige einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt. In der Schulzeit geht sie morgens bereits um sieben aus dem Haus und kommt nicht vor fünf zurück. Dann erwarten ihre Eltern, dass sie noch drei bis vier Stunden Hausaufgaben macht oder Klavier übt. Nur Sport fehlt auf dem Lehrplan. Aus Sicht ihrer Eltern reine Zeitverschwendung bei der Vorbereitung auf die chinesische Ellenbogen-Gesellschaft.

    Einzelkinder werden verwöhnt - viele sind fettleibig

    Der 24-jährige Huang Chi schafft die Treppenstufen zum Behandlungszimmer nur mit Mühe. Wenn er oben ankommt, ist er jedes Mal völlig außer Atem und schwitzt. Huang wiegt knapp 160 Kilo und ist einer von 24.000 Patienten pro Jahr, die in der Shanghaier Spezialklinik für Fettleibige behandelt werden. Er sagt:

    Als ich das erste Mal in diese Klinik kam, habe ich 209 Kilo gewogen. Schon im Kindergarten habe ich mehr als ein Erwachsener gegessen. Meine Eltern haben sich keine Sorgen gemacht, weil es mir ja alles in allem gut ging.

    Schon bald begannen jedoch die Probleme. Huang Chi litt an Herz-Kreislaufstörungen, seine Nieren funktionierten nicht mehr richtig. Und schließlich stellten die Ärzte sogar einen Gehirntumor fest. Vor einigen Monaten brachte ihn seine Mutter dann unter Tränen in die Klinik, damit er endlich abnimmt. Besonders in den Großstädten kämpfen viele Kinder mit Fettleibigkeit. In Shanghai, Peking oder Kanton seien 15 Prozent aller Kinder übergewichtig, so der Mediziner Jiao Donghai:

    Viele Eltern sehen dick als gut an. In ihren Augen ist ein dickes Kind auch ein glückliches Kind. Da die meisten Familien nur noch ein Kind haben, geben sie ihnen zuviel zu essen und drängen nicht auf genügend Bewegung. Die Hauptursache für die Krankheit ist schlicht, dass die Kinder sich überfressen.

    Die Ein-Kind-Politik führt bisweilen zu grausamen Entwicklungen. Ungewollt kinderlose Paare oder Familien, die bereits ein Mädchen haben, aber sich noch einen männlichen Stammhalter wünschen, haben einen Markt geschaffen für skrupellose Menschenhändler. Sie entführen Kinder, meist Jungen, und verkaufen sie in andere Landesteile.

    Das Ehepaar Li sucht seit fast zwei Jahren nach seinem Sohn. Im März 2003 war der kleine Li Yangyang plötzlich verschwunden. In Baoshan, am Rande Shanghais, hatte der Vierjährige vor der Tür seiner Eltern gespielt, einer bescheidenen Holzhütte, in der alles steht, was die Lis besitzen: ein Doppelbett, eine Kochgelegenheit und ein Tisch mit zwei Stühlen. Li Zhaoqiang und seine Frau sind Wanderarbeiter aus Anhui, die ihr Geld mit Müllsammeln verdienen.

    Am 9. März haben wir unseren Sohn zuletzt gesehen. Es passierte hier in unserem Hof. Nach dem Essen war er auf die Toilette gegangen, anschließend wollte er noch ein wenig draußen spielen. Als ich nach zehn Minuten hinausschaute, war er nicht mehr da. Stundenlang haben wir gemeinsam mit meinen beiden Brüdern überall nach ihm gesucht, dann gingen wir zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Seitdem ist er vermisst,

    erzählt Li.

    Die Armut unter Kindern ist auch weit verbreitet

    Die größte Sorge des Ehepaars Li ist, dass ihr Sohn seine Tage damit verbringen muss zu betteln, so wie dieses kleine Mädchen auf der Dongping Road inmitten Shanghais. Im Dienste von organisierten Bettlerbanden würden kleine Kinder nicht selten verkrüppelt oder mit Brandwunden gezeichnet, um bei Ausländern Mitleid zu erregen, sagt Vater Li.

    Ich habe mir inzwischen so viele Möglichkeiten überlegt, was aus meinem Sohn geworden sein könnte. Ich denke nicht, dass die Entführer ihn umgebracht haben, eher haben sie ihn verkauft oder aus ihm einen Bettler gemacht, wahrscheinlich einen verkrüppelten Bettler.

    In einer Zeitschrift fand sich schließlich ein Hinweis auf den Verbleib des Jungen. Eine Verwandte entdeckte das Foto von dem kleinen Yangyang, wie er an der Hand einer alten Frau auf der Shanghaier Uferpromenade bettelt. Vater Li machte den Fotografen ausfindig und bekam heraus, dass das Foto bereits im August des vorletzten Jahres entstanden war. Möglicherweise lebt der mittlerweile fünfjährige Yangyang inzwischen in einem ganz anderen Teil des Landes.

    In den Metropolen steigt die Sorge um die Überalterung

    "Ren tai duo le" ist ein in China häufig zu hörender Ausruf: "Es gibt zu viele Menschen". Man hört diesen Satz nicht nur in überfüllten Bussen, sondern auch wenn Eltern um einen Studienplatz für ihr Kind bangen oder wenn von den Problemen auf dem Arbeitsmarkt die Rede ist.

    Die 20-Millionen-Metropole Shanghai ist nach Peking die einzige Stadt, die aus der starren Ein-Kind-Politik ausbricht. Seit dem 15. April letzten Jahres dürfen Paare ein zweites Kind haben, vorausgesetzt beide Ehepartner sind Einzelkinder. Grund für die Lockerung der Bevölkerungspolitik ist die Sorge vor einer Überalterung der Stadt.

    Zwar ziehen immer mehr Wanderarbeiter nach Shanghai. Die eigentliche Stadtbevölkerung jedoch schrumpft seit mehr als zehn Jahren. Viele Paare in Chinas Großstädten bleiben inzwischen bewusst kinderlos, weil sie sich auf Beruf und Karriere konzentrieren wollen. Der wachsende Wohlstand habe die jahrhundertealten Traditionen mehr verändert als jede Regierungspolitik, sagt Zuo Xuejin von der Shanghaier Akademie der Wissenschaften:

    Je weiter sich unsere Gesellschaft entwickelt, umso mehr attraktive Arbeitsmöglichkeiten gibt es für Frauen und umso mehr steigen die Gehälter. Wenn es dann eines Tages darum geht, den Job für einige Zeit aufzugeben, um ein Kind zu bekommen, befürchten die Frauen, dafür einen hohen Preis zahlen zu müssen. Dies ist eine Erklärung, warum die Geburtenrate in den Städten so niedrig ist.

    Sollte der derzeitige Trend sich fortsetzen, d.h. kämen wie bisher jedes Jahr rund 21 Millionen Chinesen auf die Welt, so wird die Bevölkerung in den nächsten Jahren zunächst weiter wachsen. Bis zum Jahr 2040 allerdings stabilisiert sich die Einwohnerzahl vermutlich bei 1,4 bis 1,5 Milliarden Menschen. Bis dahin wird Indien China vermutlich als bevölkerungsreichste Nation überholt haben.