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Umfragen
Der Boom zweifelhafter Online-Votings

Nutzer können heute in Online-Medien zu Vielem ihre Meinung abgeben: schnell geklickt und mal sehen, was die Anderen denken. Besonders aussagekräftig sind die Ergebnisse selten - den Redaktionen geht es um etwas anderes.

Von Stefan Fries | 06.08.2018
    Unter der Fragestellung "Was meinen Sie? Sollen Wochenend-Feiertage nachgeholt werden?" können Nutzer eine Tachonadel zwischen zwei Positionen bewegen: "Ja, ich bin schon oft genug bei der Arbeit." und "Nein, ich habe schon genug Freizeit."
    Auf diesem Umfrage-Tool von Opinary können Nutzer die Tachonadel bewegen, hier in einer Umfrage bei Spiegel online. (Screenshot: Deutschlandradio)
    "Rundfunkbeitrag: Welche Höhe wäre angemessen?"
    "Kann man in dieser Zeit Flüchtlinge nach Afghanistan abschieben?"
    "Wölfe: Unheimlich oder Teil unserer Heimat?"
    "Halten Sie eine dritte Start- und Landebahn für nötig?"
    "Ein gläserner Turm am Rheinufer: Gefällt ihnen das?"
    Wer sich heute durch Online-Medien klickt, kommt an solchen Umfragen kaum vorbei. Kurze Frage, wenige Antwortmöglichkeiten – so was ist schnell geklickt. Und ein Zwischenergebnis wird auch gleich geliefert. Die technische Entwicklung im Netz ermöglicht es Redaktionen, ihren Lesern täglich aktuelle Fragen zu stellen – von hoch relevant bis tief banal.
    Abstimmungstool statt Kommentar
    Eins der Umfrage-Tools sieht aus wie ein Tacho, auf dem die Nutzer die Nadel stufenlos zwischen zwei Antwortoptionen bewegen können. Entwickelt wurde er vom Berliner Startup Opinary, einem der größten Player im Markt. Mitgründer Cornelius Frey sagt, damit wolle Opinary Meinungsvielfalt schaffen und darstellen.
    "Unsere Tools haben den Anspruch, verschiedene Meinungen auf einen Blick für den Nutzer grafisch darzustellen und dem Nutzer mit einem Klick die Möglichkeit zu geben, die eigene Stimme, die eigene Meinung zu äußern."
    Frey zufolge nutzen rund 60-mal mehr Leser so ein Abstimmungstool, als einen Kommentar zu schreiben. Redaktionen bekämen auf diesem Weg eine sehr schnelle Rückmeldung, was ihre Leser denken – und die blieben länger auf den Seiten.
    "Ein Nutzer, der interagiert, der Teilhabe wahrnimmt, hat eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, Newsletter zu abonnieren, Online-Abos abzuschließen und eine wirklich langfristige vorteilhafte Beziehung mit dem Medium einzugehen."
    Es geht um Leserbindung
    Es geht bei diesen Umfragen also weniger um das Ergebnis als vielmehr um Leserbindung, bestätigt auch Markus Knall, Online-Chef der Zeitungen "Münchner Merkur" und "TZ", die ebenfalls Umfrage-Tools nutzen.
    "Es geht darum, dass bei einem Thema, das Leute sehr mitnimmt, dass sie dann auch dort ihre Meinung punktuell artikulieren können. Sie bleiben ein Stück länger bei uns, sie setzen sich damit auseinander, sie sehen, wie jetzt gerade, an diesem Tag, in dieser Stunde, auch andere Menschen denken."
    Thema und Fragestellung sind entscheidend dafür, wie viele Leute sich zum Mitmachen animiert fühlen. Ein weiterer Anreiz ist, dass ihnen gleich die Ergebnisse angezeigt werden, um zu sehen, wie andere Nutzer denken. Wie aussagekräftig das Ergebnis ist, ist für viele Redaktionen allerdings sekundär.
    Formulierung der Frage hat Einfluss auf die Antwort
    In der Regel ist nämlich schon die Auswahl der Nutzergruppe nicht repräsentativ, sagt der Statistiker Gerd Bosbach von der Hochschule Koblenz.
    "Antworten tun die, die ein starkes Interesse an dem Thema haben. Erfolg ist, dass man quasi nur Aussagen einer ganz, ganz speziellen Gruppe - das sind meistens die starken Befürworter für irgendwas oder die starken Gegner davon - von denen hat man dann Aussagen, und die lassen sich leider überhaupt nicht übertragen auf die Gesamtheit der Menschen."
    Bei den angezeigten Ergebnissen wird das aber oft nicht angegeben.
    Problematisch sind auch suggestive Fragen und wenn die Nutzer nur unzureichende Antwortmöglichkeiten zur Auswahl haben. Entscheidend kann auch der Kontext sein, wie ein Test gezeigt hat. Dabei lautete die Frage, ob staatliche Ausgaben für Schulen stärker steigen sollten. 54 Prozent sagten Ja. Mit einem Hinweis darauf, dass das mit Steuergeld passiert, sagten nur noch 22 Prozent Ja. So lassen sich Umfragen mit geschickten Formulierungen in bestimmte Richtungen steuern.
    Aussagekräftig wie eine TED-Abstimmung
    Dass solche Umfragen nicht aussagekräftig und überdies manipulierbar sind, weil Nutzer mehrmals abstimmen können, findet Markus Knall von "Münchner Merkur" und "TZ" nicht grundsätzlich problematisch.
    "Die Zuverlässigkeit ist genauso gegeben wie bei vielen anderen Votings, die es auch gibt, nicht nur im Online-Bereich. Denken Sie an TED-Abstimmungen im Fernsehen. Denken Sie an Teletext-Abstimmungen, wo auch suggeriert wird: Hier gibt es 'ne Frage des Tages, wo Leute anrufen. Auch für Zeitungen und Zeitschriften: Telefonumfragen. Auch dort ist es ja nicht geregelt, ob Leute mehrfach anrufen."
    Längst nicht alle Redaktionen weisen bei den Ergebnissen aber wie vom Pressekodex gefordert, darauf hin, wie aussagekräftig diese sind. Und selbst wenn sie es tun, glaubt Statistik-Professor Gerd Bosbach nicht, dass die meisten Nutzer die Aussagekraft solcher Umfragen richtig einschätzen können.
    "Der normale Bürger hat das statistisch-empirische Hintergrundwissen nicht, und er bekommt es auch nicht beigebracht, weil die, die Meinungsergebnisse bekanntgeben, wollen, dass ihr Ergebnis einfach so akzeptiert wird und haben gar kein Interesse daran, die Ungenauigkeiten der Ergebnisse, die Verzerrungen der Ergebnisse darzustellen."