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Umgehungsstraßen und größenwahnsinnige Schreibvorhaben

"Ich" nannte der Autor Andreas Maier seine Frankfurter Poetikvorlesungen. Dieses Ich rückt ins Zentrum eines großen Romanprojekts mit dem Titel "Ortsumgehung". Der erste Teil dieses Zyklus' ist gerade erschienen: "Das Zimmer".

Von Ulrich Rüdenauer | 24.11.2010
    "Seit über 40 Jahren wird die B3a um Friedberg in der Wetterau herum geplant, die Ortsumgehung der durch die B3 durchfahrenen Orte. Die haben mit dem Bau angefangen vor etwa drei Jahren. Die Ausmaße der Landschaftsumwälzung hat die meisten dann schon eher erschrocken. Und ich bin inzwischen weggezogen aus Bad Nauheim, unter anderem wegen der Landesgartenschau und der Ortsumgehung, weil von meinen Spazierwegen mir jetzt fast nichts mehr geblieben ist.

    Andererseits habe ich aber selbst vor einigen Jahren schon angefangen immer mal wieder in kleineren Texten über meine Herkunft und meine Heimat zu schreiben, und jetzt war es vor einigen Jahren so, dass ich mir gesagt habe: Du gehst jetzt auf die 40 zu, du hast jetzt ein paar Romane geschrieben, die waren relativ erfolgreich, du hast ein gewisses Standing im Betrieb, du hast dir gewisse Freiheiten jetzt erwirtschaftet. Wie willst du weitermachen? Eines Abends kam mir plötzlich dieser größenwahnsinnige, so kam es mir im ersten Augenblick vor, Gedanke.

    Ich saß rum und urplötzlich hatte ich einen Titel: 'Ortsumgehung', ich wusste sofort, was der Titel bedeuten soll: Nämlich im Zuge der Vernichtung meiner Heimat umgehe ich diese Heimat selbst noch mal, guck sie mir noch mal genau an, wie ein Hund, der ums Haus herumschleicht, kurz bevor er stirbt. Ich schrieb also auf ein großes Blatt Papier oben 'Ortsumgehung', und dann wusste ich sofort, ich will das eigentlich anfangen und bis zu meinem Lebensende weiterschreiben. Also muss es mehrere Titel haben. Und dann habe ich innerhalb von wenigen Sekunden alle elf Titel aufgeschrieben, ohne ein erstes Wort auch nur für den ersten Text zu haben, der erste Titel war 'Das Zimmer', dann kommt 'Das Haus', dann kommt 'Die Straße', dann kommt 'Der Ort' usw., und der vorletzte Titel ist 'Der Teufel' und der Letzte ist 'Der liebe Gott'"."

    "Das Zimmer", der erste Teil dieses "größenwahnsinnigen" Romanprojekts, von dem wir Andreas Maier eben erzählen hörten, liegt nun vor. Das Buch bildet eine Art Prolog zu dem autobiografisch grundierten Zyklus "Ortsumgehung". "Das Zimmer" beginnt mit einem olfaktorischen Moment: Eine Mini-Epiphanie im hessischen Bad Nauheim setzt die Umgehung des Ortes der Kindheit, die mehr einer Tiefenbohrung ähnelt, in Gang. Die ersten Zeilen des Romans, vom Autor selbst gelesen, präsentieren auch schon fast das gesamte Material:

    ""Das Zimmer meines Onkels J. liegt im ersten Stock links zur Uhlandstraße hin, direkt gegenüber dem Badezimmer, das mein Onkel wahrscheinlich gar nicht benutzen durfte. Meistens, wenn ich als Kind bei meiner Großmutter war, schlief er, dann stank das ganze Haus. War er weg, das heißt in Frankfurt, Pakete schleppen, blieb der Geruch dennoch."

    Das Zimmer, der Onkel, der Geruch: Mit diesen Elementen wird im Roman gespielt, Maier improvisiert mit diesen Versatzstücken, er umkreist immer wieder von Neuem den Ausgangsort. Und windet sich dann spiralförmig mit einer kunstvollen Redundanz vom düster beschriebenen Keller des Hauses, dem - Zitat - "frühesten Darkroom in meinem Bewusstsein", hoch hinaus in das Wirtshaus, das im Wald auf einer Anhöhe liegt. Das Zimmer wird geöffnet, von dort aus kann die Reise in die Vergangenheit und die Wetterau beginnen, zunächst noch in die Vorzeit, hinter die Zeit zurück, an die sich der Erzähler aus eigener Anschauung erinnern kann. Wie in Hermann Lenz' autobiografischem Eugen Rapp-Zyklus oder wie in Edgar Reitz' Filmepos "Heimat" schafft sich der Erzähler einen historischen Grund, der noch vor seinem Bewusstsein liegt und auf dem er schließlich Bodenhaftung finden kann. Bei Maier wird das im zweiten Band der Fall sein, wenn dann - wie er sagt - das Ich "mit voller Orchestration" auftritt.

    "Das Zimmer" bildet das Eingangsportal, eine klaustrophobische, von Ekel durchzogene Welt. Die Heimat ist hier kein Ort des unumstößlichen Aufgehobenseins, sondern etwas zutiefst Bedenkliches und zugleich nicht Wegzudenkendes. "Ortsumgehung" bedeutet: Eindringen in einen Zustand, Betreten eines Ortes, in dem - wie im Combray des Marcel Proust oder im Staufenberg des Peter Kurzeck - natürlich die ganze Welt destilliert ist. "Das Zimmer" wird sowohl im Roman für den Erzähler als auch für den Autor Andreas Maier zum "Zentrum der Weltausschreitung":

    "Das Zimmer, in dem lange Zeit der Onkel, der im Roman vorkommt, gelebt hat, in einem Haus, in das ich später selbst eingezogen bin und in dem ich dann später angefangen habe, meine ersten Romane zu schreiben - das ist eine eigenartige Koinzidenz. Am Schreibtisch, meine Romane schreibend, habe ich immer die ganze Zeit gedacht: Was du eigentlich willst, aber nicht kannst, aber irgendwann wirst du es vielleicht mal können, und da musst du dich hinschreiben, ist, etwas über dich und deine Heimat, dein Leben, deine Familie, die Zeit, in der du gelebt hast, zu machen. Einerseits im Sinne eines Festhaltens, andererseits aber auch im Sinne einer Aussage darüber, wie ich das denn alles finde und wie mir das denn alles vorkam, wo ich aufgewachsen bin und wie ich aufgewachsen bin. Letzten Endes eigentlich wollte ich mir immer so eine Art von Welt erschreiben, die meine eigene Welt ist, die aber zugleich auch meine Herkunftswelt ist, aber solange sie nur meine Herkunftswelt ist und nicht von mir erschrieben, ist es noch nicht meine eigene Welt."

    Autobiografische Romane sind nie reine Nacherzählung von Vergangenheit, sondern deren Neuerfindung. Andreas Maier nutzt dafür die Suada. Wiederholung und Steigerung sind die stilistischen Mittel; Abscheu und Sehnsucht die Schreibimpulse. Erzählt wird im ersten Teil von Onkel J, den man schon aus den einige Jahre lang in der Zeitschrift "Volltext" und Anfang 2010 in Buchform veröffentlichten Kolumnen Maiers kennt. "Onkel J. Heimatkunde" heißt dieses Kolumnenbuch, das eine Vorstufe zum Roman bildet, auch sprachlich schon das Großprojekt "Ortsumgehung" vorwegnimmt. Onkel J. ist der Idiot der Familie; eine Zangengeburt, geistig behindert, von Wutanfällen geschüttelt. Einer, der nicht dazugehört, obwohl er gerne dazu gehören würde. In den Wirtschaftswunderjahren, in denen die Familie Boll mit ihrem Steinmetzbetrieb Anteil hat am Aufschwung, ist er das Anhängsel. Der Bruder der Mutter fristet ein Dasein jenseits von Gut und Böse, einmal heißt es, er stehe mit einem Bein noch im Paradies - er ist "der glücklichste Mensch der Welt" und "die nie sich schließende Wunde der Familie". Andreas Maier gibt sich keine Mühe, Onkel J. als Sympathieträger zu zeichnen: Alles an ihm kommt dem Erzähler-Ich abstoßend und nazibraun vor, selbst sein innig geliebter VW-Variant trägt SA-Farben; natürlich hört er mit Vorliebe Heino und schaut Bergfilme mit Luis Trenker. Des Onkels Ausflüge nach Frankfurt enden, in der Vorstellung des Erzählers, unbeholfen in Bordellen; sein Ziel bleibt aber immer das Wirtshaus als Sehnsuchtsort schlechthin - auch so etwas, zu dem er dazugehören möchte und es als Kuriosität auch ein wenig tut.

    Das Kind, das diesen Onkel J. als stinkenden, rechthaberischen Zeitgenossen wahrnimmt, macht sich über ihn lustig, es triezt ihn. Nach und nach aber scheint sich der Blick des Kindes zu verändern, und im Gesamtkomplex des Romanzyklus' fällt J. schließlich eine ganz besondere Rolle zu.

    "Der Onkel J. ist am Anfang der 'Ortsumgehung' so eine Art Wächterfigur, so eine Art Eingangsfigur. Die Wächterfigur am Austritt aus dem Paradies. Und dieser komische, stinkende, brutal cholerische, azivilisatorische Onkel wird im Verlauf der gesamten Ortsumgehung immer so eine Art Gegenfigur sein, und alle anderen, anständigen, intelligenten, braven, aber auch coolen, tollen, hippen Leute, die da so auftauchen werden, werden immer gnadenlos vom Erzähler ausgezogen werden. Und am Ende wird tendenziell eher immer nur das stehen bleiben können, was ein wenig in die Richtung des Onkels geht."

    In die Richtung des Onkels geht das Unverdorbene und Einfache, das nicht Berechnende und das Heimatverbundene. Er ist der Wächter an der Schwelle vom Kind- zum Erwachsensein. "Unschuld" ist freilich Folge einer Unzulänglichkeit: Onkel J. ist einer, der zwar will, aber nicht kann. Die anderen, scheint es, wollen immerzu etwas und können es leider auch. So kommt es zu den Veränderungen, die Fortschritt genannt werden, und die in Andreas Maiers Roman für jene Deformationen der Landschaft und der Menschen stehen, die den Erzähler zu seiner ernüchterten und ernüchternden Erinnerungstirade provozieren.

    Der Sonderling war schon immer und ist auch hier das Korrektiv zur wohlgeordneten Welt: Durch das Andere zeigt sich das Normale. Die Normalität freilich ist eine furchtbare, die durch die beharrliche Genauigkeit und Ironie der Sprache bei Maier immer wieder entblößt wird. Lob der Provinz gibt es hier nicht, auch wenn man auf den ersten flüchtigen Blick diesen Eindruck gewinnen könnte; die Heimat wird durchschritten und durchschrieben, weil es nicht anders geht, weil es dazu keine Alternative gibt - nicht aber aus Heimatliebe. Oder wenn Liebe, dann ist sie überhaupt nur mit Hass durchsetzt vorstellbar: Der Erzähler würde die Heimat lieben können, gäbe es keine Menschen darin - der Zwiespalt des in der Heimat Zurückgebliebenen oder zumindest knietief in ihr Feststeckenden. Schon in dem Kolumnenband "Onkel J." hat Andreas Maier mit einer schlagenden Opposition gearbeitet, vermeintlich auf Kumpanei mit dem Leser aus: Er spricht vom Einstmals, in dem im Vergleich zum Heute vermeintlich alles besser war.

    "Mir geht es nie um Erinnerung oder Bewahrung von irgendetwas, mir geht es aber immer darum, einen rhetorisch-polemischen Standpunkt den anderen Menschen und ihren zivilisatorischen Handlungen gegenüber einzunehmen. Dafür dient mir, wie ein Trick, immer die Zeitspanne zwischen früher und jetzt. Indem ich auf ein Früher rekurriere oder meine eigene Heimat, auf eine Zeit, als, vor 30 Jahren, noch nicht so viel Autoverkehr war blablabla usw. - da nicken dann plötzlich alle immer und sagen, ja ja, und haben dieses Gefühl, früher sei irgendwas besser gewesen. Früher war im Leben nie irgendetwas besser gewesen. Solange es die Menschheitsgeschichte gibt, ist es eine Katastrophengeschichte."

    Maiers Haltung ist keine der Kritik, sondern eher der Klage: Der Mensch, da er nun einmal nicht anders kann, ist ein Handelnder. Die Katastrophe ist vorprogrammiert.

    "Die 'Ortsumgehung' ist keine Heimatgeschichte, keine Heimaterkundung, obwohl es immerfort zu Hause spielt, es ist in erster Linie eine Krankheitsgeschichte. Es ist der Versuch einer Rekonstruktion dessen, warum ich so bin, wie ich bin. Und für das, wie ich bin, hab ich in der letzten Zeit das Wort Krankheit mir zugelegt. Das zweite ist: Es ist eine Glaubensgeschichte, die Rekonstruktion einer Glaubensentwicklung, also ein immer näher hinkommen zum lieben Gott."

    Die Verzweiflung an der Heimat als Krankheit zum Tode, um mit Kierkegaard zu sprechen? Die Rettung ist schon in der Struktur des Romanprojekts angelegt. Aus der Krankheitsgeschichte wird eine Glaubensgeschichte, die "Ortsumgehung" soll schließlich mit den Bänden "Der Teufel" und "Der liebe Gott" enden. Auch hier zielt die Bewegung von den tiefsten, höllischen Kellergewölben ganz hoch hinaus in die Transzendenz. Eine Bewegung, die sich vielleicht sogar in der Sprache Andreas Maiers in den letzten Jahren nachvollziehen lässt:

    "Und das ging so weiter, dass ich dann irgendwann selbst mir wieder gegönnt habe, das Wort Gott zu verwenden, später habe ich dann das Wort Gott wieder sein lassen, ich rede jetzt nur noch vom lieben Gott. Und inzwischen ist er für mich immer das aller Einfachste, und auch meine Sprache ist dadurch ganz furchtbar einfach geworden, weil ich ja jetzt mit Worten wie gut und wahr usw. immer sehr gut arbeiten kann und dabei noch nicht mal ein schlechtes Gewissen hab, weil es ja gar nicht auf mir beruht, weil das ja von ganz woanders herkommt. Aber das wird einem vielleicht doch erst spät klar, und das will man sich auch erst mal gar nicht zugeben, weil man ja auch ein Stück von sich selbst aufgibt, dabei. Für andere klingt das natürlich absolut größenwahnsinnig und großkotzig, das weiß ich auch, aber das ist jetzt nicht vornehmlich mein Problem, etwas wie Glaube muss etwas sein, was ganz ganz einfach ist. Und es kann kein Warum dafür geben."

    Tatsächlich ist dieses Schreiben in seiner spiralförmigen, litaneihaften Form, mit den um sich und die einzelnen Gegenstände kreisenden Tautologien nicht hinterfragbar. Es gibt auch in diesen Texten kein Warum, sondern nur ein Darum, von dem aus immer wieder neu angesetzt wird. Und wo soll das alles enden, wo die "Ortsumgehung" für den Schriftsteller Maier hinführen?

    "Ich habe immer davon geträumt, dass ich irgendwann mal einen Text anfange, den ich nie mehr aufhöre zu schreiben. Ja, gut, ich weiß jetzt nicht, wie lange ich lebe, ich weiß auch nicht, ob ich elf Jahre jetzt dafür brauche, vielleicht braucht es auch viel länger. Aber so, wie ich im Augenblick drauf bin, denke ich: du schreibst das jetzt und anschließend bist du ja schon recht alt, und dann schreibst du noch einmal einen deiner früheren Maier-Romane, der dann auch irgendwie ganz anders und diesmal bestimmt richtig gut werden wird."

    Andreas Maier: "Das Zimmer", Suhrkamp Verlag, 203 Seiten, 17,90 Euro