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Umstrittene Mainzer Lesestudie

Wissenschaftler der Uni Mainz stellten eine Studie vor, nach der das Lesen auf Tablet-PCs vor allem älteren Lesern leichter falle als das Lesen im klassischen Buch. Pikantes Detail: Während der Präsentation der vorläufigen Ergebnisse warb ein Mitfinanzierer der Studie für den Verkauf eines eigenen Tablet-PC.

Von Ludger Fittkau | 28.10.2011
    Mattias Schlesewsky klickt auf dem Bildschirm seines Laptops ein Foto an, auf dem ein Mensch mit einer hellen Kappe sitzt. Aus der Kappe ragen Drähte, die mit Messgeräten verbunden sind. Der so verdrahtete Mensch auf dem Foto ist eine von insgesamt 30 Versuchspersonen eines Leseexperimentes des Mainzer Neurolinguisten Schlesewsky:

    "Also wir messen einerseits die Blickbewegung und andererseits die Gehirnströme. Diese Art, gekoppelt EEG und Blickbewegung zu messen, ist noch relativ neu. Sie wird nur an drei Orten momentan in der Welt gemacht, in Mainz, in Potsdam und in Finnland."

    Schlesewsky gab zehn älteren Probanden und 20 Studierenden jeweils ein klassisches Buch, einen Tablet-PC, konkret ein iPad sowie den E-Book-Reader Kindle in die Hand und ließ sie mit der Elektrodenkappe auf dem Kopf Texte lesen:

    "Was nun spannend ist, ist das schnellere Lesen auf dem Tablet-PC. Und das zeigt nun diese Grafik. Die jungen Erwachsenen zeigen keinen Unterschied, die lesen auf allen dreien gleich. Aber die älteren Erwachsenen lesen pro Seite ungefähr vier Sekunden schneller."

    Die Mainzer Wissenschaftler halten das für ein signifikantes Resultat. Thomas Kammer sieht das ganz anders. Er ist Leiter der Abteilung Neurostimulation in der Psychiatrie der Uniklinik Ulm. Ein Experte in diesem Forschungsfeld. Kammer hält die Idee der Mainzer Forscher, aus der Messung von Hirnströmen und Augenbewegungen Schlussfolgerungen im Hinblick auf die komplexe Kulturtechnik des Lesens zu ziehen, für sehr gewagt:

    Das ist nicht so sicher etabliert, dass man so ein Ergebnis daraus ziehen kann, das können tausend andere Effekte sein, die zu diesem Unterschied führen, es kann auch Zufall sein.

    Umso wichtiger wäre es gewesen, so Kammer, die Mainzer Studie zunächst in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift zu veröffentlichen und damit von der Fach-Community überprüfbar zu machen und nicht - wie geschehen – vorab in Auszügen auf einer Pressekonferenz bei der Buchmesse. Doch die Studie, die dem Tablet-PC beim Lesen Vorteile gegenüber dem klassischen Buch bescheinigt, wurde zu einem Viertel von der Firma MVB Marketing und Verlagsservice GMBH finanziert, einer Tochterfirma des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Diese Firma hatte ein handfestes Interesse daran, die für den Tablet-PC günstigen Ergebnisse der Mainzer Studie bei Buchmesse zu präsentieren. Denn zeitgleich stellte sie einen eigenen Tablet-PC vor, mit dem sie im Weihnachtsgeschäft Geld verdienen will. Die Mainzer Wissenschaftler Schlesewsky und Füssel beteuern nun, dass sie von diesem Verkaufsinteresse der Firma MVB, ihres Mitfinanziers der Studie, erst während der Buchmesse erfahren haben:

    Schlesewsky:

    "Wir wussten auch nicht, jedenfalls die experimentelle Seite der Studie, wusste nicht, dass die MVB zeitgleich zur Vorstellung der Studie ein Tablet-Gerät vorstellt."

    Füssel:

    "Direkt auf der Pressekonferenz haben wir dazu Stellung genommen und haben die für uns bis zu diesem Datum unbekannte Präsentation eines Tablet-PCs der MVB, also des Marketing-und Verlagsservice des Buchhandels deutlich kritisiert und haben darauf hingewiesen, dass das nicht in Absprache mit den Verfassern der Studie erfolgt ist."

    Thomas Kammer von der Uniklinik Ulm sieht jedoch eine klare Mitverantwortung der Mainzer Wissenschaftler für diese peinliche Situation. Es sei grundsätzlich fragwürdig, Forschungsergebnisse gemeinsam mit außeruniversitären Drittmittelgebern vorzustellen, ohne vorher eine Studie seriös wissenschaftlich publiziert zu haben, so Kammer:

    "Klar, das wird immer üblicher, das verlangt der Markt. Aber wissenschaftlich führt das nicht weiter.''"

    Der Mainzer Buchwissenschaftler Stephan Füssel räumt ein, dass die große Bühne der Frankfurter Buchmesse Anlass war, die Studie vorzustellen, obwohl sie noch nicht beendet und wissenschaftlich korrekt veröffentlicht war:

    ""Wir sind jetzt vorgeprescht mit diesem Ergebnis, das sage ich durchaus. Weil wir aber auch eine sinnvolle und nicht emotionale Debatte haben wollten."

    Diese Debatte hätte man aber wohl am ehesten bekommen, wenn man sich einem wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren unterzogen und die Studie zunächst in einem Fachblatt veröffentlicht hätte. Nun müssen sich die Mainzer Forscher mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie hätten einem E-Book-Verkäufer in die Hände gespielt.