"Wer sind wir? Schwierig, zu sagen, dass man eine mannigfaltige Identität hat. Das zu sagen, sollte Sie aber zufrieden machen! Und ich habe eine mannigfaltige Identität. Schauen Sie: Meine Nationalität ist Schweizer, meine Kultur ist europäisch, vom Glauben her bin ich Muslim und aus Prinzip bin ich Internationalist. Ich bin all das. Ich habe kein Problem damit, mannigfaltige Identitäten zu haben. Wo ist das Problem; wollen Sie mich in eine Schublade stecken?"
Der Islamwissenschaftler tritt in Talkshows auf und in Diskussionsrunden, ist Prediger und Vortragsreisender. Die Mitschnitte seiner religiösen Ansprachen erscheinen in Auflagen von 50- bis 60 000; unter jungen Muslimen in ganz Europa ist der 45-jährige ein Star. Er sagt ihnen, dass es nicht so sehr darauf ankomme, sich in die Gesellschaft zu integrieren, sondern eher darauf, an ihr teilzuhaben, sich einzubringen. Auch und gerade als Muslim.
"Ich kann in diese neue Gesellschaft integriert sein, ohne in Frieden mit mir selbst zu sein. Wahre Integration ist die Integration meiner intimen Überzeugungen, die Integration meines Herzens in diese neue Umgebung. Das heißt: Ich betrete die neue Umgebung nicht nur, sondern profitiere auch von ihr. Es ist meine Kultur, sie gehört zu mir, hier bin ich zu Hause."
Die Autorin Nina zu Fürstenberg sieht in Tariq Ramadan einen Mann, der Brücken bauen kann zwischen einer orthodox-muslimischen Geisteshaltung und westlich-demokratischen Denktraditionen. Ramadans Gegner jedoch misstrauen dem Islamwissenschaftler und halten ihn für einen verkappten Islamisten. Als Beweis führen sie Text-Passagen an - wie zum Beispiel folgendes Zitat aus Ramadans Werk: Der Islam und der Westen:
Der Prozess der Säkularisierung befreite nicht nur die Gesellschaft von der Herrschaft der Religion, sondern führte zugleich zu einer Infragestellung der Moral. Die laizistische Moral, die sich auf das Vernunftprinzip stützt, erhob sich seither zum Maßstab. Die westliche Lebensweise stützt sich auf und erhält sich durch die Verführung zur Aufstachelung der natürlichsten und primitivsten Instinkte des Menschen: sozialer Erfolg, Wille zur Macht, Drang zur Freiheit, Liebe zum Besitz, sexuelles Bedürfnis usw.
Solche Zitate liest man in Nina zu Fürstenbergs Buch nicht. Es sind aber gerade derartige Äußerungen, durch die Tariq Ramadans Gegner zu der Überzeugung gelangen: Dieser Muslim will nicht nur, dass islamische Werte an Gewicht gewinnen - er will langfristig auch, dass der Westen islamisch wird. Nina zu Fürstenberg hält dagegen die Angst vor einer Islamisierung durch den smarten Prediger für unangemessen. Zwar räumt sie in ihrem Buch ein, dass Ramadans Denken auf Bekehrung abzielt - hält jedoch dagegen - Zitat:
Aber daraus kann man keine Straftat oder Schuld ableiten, denn der Islam an sich kann weder als schlecht eingestuft noch verboten werden. Die europäischen Demokratien müssen sich gegen Angriffe seitens des islamistischen Terrors verteidigen, aber man kann den muslimischen Glauben nicht als Bedrohung schlechthin verurteilen; vor allem, weil die Ramadansche Interpretation des islamischen Glaubens nicht nur mit den demokratischen Institutionen vereinbar ist, sondern auch die Integrationsproblematik erleichtert hat.
Als Beweis für Tariq Ramadans Reformwillen führt die Autorin seinen Einsatz für die Rechte muslimischer Frauen an, seinen Aufruf an die islamische Welt, ein Moratorium für die Steinigung von Ehebrechern zu befürworten und seine Deutung der Sharia nicht als Gesetz, sondern als Wertesystem für das Handeln des Einzelnen. Ramadans Gegner jedoch sehen in seinen Ausführungen keinen Reformwillen. Sie kritisieren vor allem, dass er ausdrücklich mit Hilfe religiöser Denkmuster argumentiert. Und nicht - zum Beispiel - vom Standpunkt der Menschenrechte aus. Nina zu Fürstenberg zufolge nimmt Ramadan aber gerade mit dieser Haltung eine Zwischenposition ein zwischen Islamismus und westlichen Werten.
"Tariq Ramadan lehnt sich erst mal ganz stark dagegen auf, das, was ja sehr viele Muslime machen, die aus ihrer Unsicherheit oder ihrer Wut oder ihrer Unverstandenheit heraus, islamistisch, nennen wir es so Konzepte anwenden. Ich glaube, dass das einer der Punkte ist, auf die Tariq Ramadan zu reagieren versucht. Also: Er versucht, einen Mittelweg zu finden. Einerseits für die Muslime - und ihnen nahe zu bringen, dass man auch religiös sein kann, und trotzdem die Werte einer pluralistischen, offenen Gesellschaft annehmen, und auf der anderen Seite religiös."
Nina zu Fürstenberg rät ihren Lesern, keine Angst vor religiösen Denkmustern zu haben und sich den Schriften Ramadans furchtlos zu nähern. Ein Großteil der Ängste vor Tariq Ramadan sei ohnehin ausschließlich in seiner familiären Herkunft begründet.
"Tariq Ramadans Familiengeschichte ist problematisch; sein Großvater war der Gründer der Muslimbrüder; Hassan al Bannah; was eine Erbschaft ist sozusagen, mit der er natürlich von vornherein kategorisiert ist; das ist sicher mal ein Angstpunkt."
Weil es Nina zu Fürstenbergs erklärtes Ziel ist, Ängste vor Tariq Ramadan abzubauen, plädiert sie energisch dafür, ihn nicht in Sippenhaft zu nehmen für seinen Großvater Hassan al Bannah und seine islamistische Familie. Die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder werde von Ramadan nicht vertreten, sagt sie. Er sei freilich in den Diskurszusammenhängen der islamistischen Muslimbruderschaft groß geworden. Und nutze bis heute die Kanäle, die ihm die Organisation zur Verfügung stelle - zum Beispiel für seine Auftritte, Publikationen und Vermarktungsinteressen. Nina zu Fürstenberg schreibt:
Eine gewisse Seelenverwandtschaft ist offensichtlich, aber eine Identifikation Tariqs mit den Muslimbrüdern wäre irreführend. Ihre Absichten decken sich nicht. Ramadan anzuhaften, einen Staat aus muslimischen Immigranten im Staat Europa anzustreben - so als ob man das misslungene großväterliche ägyptische Projekt nun auf London und Madrid, Rom und Berlin übertragen könnte, verlangt eine beachtliche Portion Phantasie und widerspricht nicht nur dem, was Tariq sagt, sondern auch dem, was diejenigen, die ihm folgen, tun.
Während Tariq Ramadans Gegner ihm vorwerfen, sich nicht nachdrücklich genug von den ideologischen Konzepten der Muslimbrüder zu distanzieren, beharrt die Autorin darauf, dass der Islamwissenschaftler einen wichtigen Beitrag zum Dialog zwischen frommen Muslimen und der westlichen Welt leistet.
Fazit: Die Autorin hat ein Plädoyer für Tariq Ramadan geschrieben, keine kritische Analyse. Wer zu ihrem Buch greift, muss sich außerdem auf ärgerliche Übersetzungsfehler einstellen. Das Werk wurde aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt - und da wird zum Beispiel aus der Islamkonferenz der Islamrat, aus dem Enkel der Neffe und anderes mehr. Das ultimative Tariq-Ramadan-Buch, das sich gut strukturiert, mit Sorgfalt und ohne unterschwellige Islamfeindschaft kritisch mit den komplexen Ideen des prominenten Muslims auseinandersetzt, muss offenbar noch geschrieben werden.
Nina zu Fürstenberg: Wer hat Angst vor Tariq Ramadan? Der Mann, der den Islam reformieren und die westliche Welt verändern will. Herder Verlag, 194 Seiten, Euro 14,95.