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Umstrittener Gegenwartskünstler

Willi Sitte gelang, was vielen Künstlern in der DDR verwehrt blieb: Seine Kunst war nicht nur anerkannt und gefeiert, auch konnte er als Kulturfunktionär Einfluss nehmen. Genau diese Rolle sorgte jedoch im wiedervereinigten Deutschland bei Vielen für Skepsis.

Von Christiane Vielhaber |
    "Den Willi Sitte", so schrieb das Neue Deutschland zu Beginn der 70er-Jahre, "kennt wohl die ganze Republik". Kein Wunder, denn der damals 50-Jährige hatte bereits all das erreicht, wovon andere Künstlerkollegen in der DDR nur träumen konnten. In besonderen Fällen allerdings auch Albträume bekommen konnten. Denn Sitte war eben nicht nur ein offiziell gefeierter Malerfürst, der in seinen Bildern den real existierenden Sozialismus anschaulich illustrierte bis hin zu den Duschorgien gestählter Brigadeführer in der Waschkaue. Er war zugleich auch ein oftmals zu recht gefürchteter Kulturfunktionär, der nachweislich von 1965 bis 1975 unter dem Decknamen Guttuso als geheimer Informant für die Stasi Spitzeldienste leistete.

    Dass er es dann nach der Wiedervereinigung auch in den alten Bundesländern zu einem relativ hohen Bekanntheitsgrad brachte, verdankte er allerdings nicht einer ästhetischen Neubewertung seiner Kunst, sondern dem sogenannten Sitte-Skandal. Ausgelöst wurde er in Nürnberg. Geplant hatte man dort nämlich eine Ausstellung zum 80. Geburtstag des Künstlers im Frühjahr 2001. Dies sollte eine Art Dankesgeste für das bereits 1993 dorthin persönlich übereignete "Sitte-Archiv" sein. Da es das Nürnberger Haus aber als seine vornehmste Aufgabe erachtet, die gezeigte Kunst jeweils in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext zu erforschen und zu vermitteln, stand diesem Vorhaben plötzlich die nur höchst subjektiv und damit lückenhaft dokumentierte Biografie des Künstlers im Wege. Während die Nürnberger kurzerhand die geplante Retrospektive verschoben, um sich so eingehender und vor allem wissenschaftlich mit der Biografie Sittes zu befassen, ließ jener nun beleidigt verlauten, er lasse sich seine Biografie nicht verbiegen.

    Die reinen Daten und Stationen lassen sich unverbogen neutral so wiedergeben: 1921 im tschechischen Kratzau geboren. 1936 Aufnahme in die Kunstschule des Nordböhmischen Gewerbemuseums Reichenberg. 1940 Besuch der Hermann-Göring-Meisterschule für monumentale Malerei bei Werner Peiner in der Eifel. Kriegseinsatz in Italien, dort dann Mitkämpfer bei Partisanen und anschließend freischaffender Künstler in Mailand. 1947 Niederlassung in Halle und bald darauf Lehrtätigkeit an der Burg Giebichenstein. 1972 Berufung zum Direktor. Dem Mitglied des Zentralkomitees der SED übertrug man schließlich auch von 1974 bis 1988 die Präsidentschaft des Verbandes Bildender Künstler der DDR. Als kulturpolitischer Funktionär und Staatskünstler nahm er übrigens auch 1977 an der 6. Kasseler documenta teil.

    Zu verbiegen ist da also rein äußerlich nichts. Und, innerlich sozusagen, mit seinen eigenen Hinweisen auf staatliche Ablehnung wegen anfänglicher, stilistischer Unangepasstheit während der Formalismusdebatte, ebenso wenig. Denn hier konnte sich Sitte stets auf Picasso als vorbildhaften Gestalter gesellschaftlicher Konflikte berufen, dessen "Guernica" er z. B. beim Kampf der Thälmannbrigade in Spanien oder bei andern sogenannten Massakerbildern zitierte. Auch als sich Sitte dann dem sozialistischen Alltag zuwandte, konnte er sich bei seinen figurenreichen Kompositionen auf den politisch korrekten John Heartfield und dessen Collageprinzip berufen. Und wer seine barock ausufernden Akte und Paare, seine bräsigen Schwimmer und Saunagänger als wenig parteikonform und unschön kritisierte, den entwaffnete er mit der Eigeninterpretation seines "humanistischen" Menschenbildes, nach der auch die natürliche Körperlichkeit etwas über das Wesen der Gesellschaft, über Harmonie und Widersprüche aussage.

    So gehörte es auch zu seinem Harmonieverständnis, dass er die Belange seiner Künstler vertrat. Allerdings nur, solange sie die Harmonie im Staate nicht störten. Bei Widersprüchen kam es da durchaus schon das eine oder andere Mal zu Repressalien. Wenn er sich auch die eigene Biografie nicht verbiegen lassen wollte, so blieb er die Antwort auf die Frage, inwieweit er andere Künstlerlebensläufe entscheidend verbogen hat, in seiner 2003 erschienenen Autobiografie mit dem Titel "Farben und Folgen" nicht nur schuldig. Im Gegenteil stilisierte sich Sitte hier selbst zum Opfer, zunächst der Nazis, dann des Stalinismus und zuletzt der bösartigen Unterstellungen und Verdächtigungen durch die Medien. Er spielte bis zu seinem Ende die Rolle des unschuldigen Gutmenschen, dem man 2006 zu seinem 85. Geburtstag, übrigens mit Exkanzler Gerhard Schröder als Promi-Gratulanten, in Merseburg ein eigenes Museum eingerichtet hat. Lebenslügen muss man offenbar auch lebenslang mit sich herumschleppen! Wie schrieb er doch in seinen Erinnerungen: "Ich spürte bald, dass sich um mich so etwas wie ein Nimbus ausbreitete. Wie das kam, ist mir bis heute unerklärlich." Ob ihm das jetzt vielleicht irgendjemand im Jenseits erklären kann?