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UN-Behindertenrechtskonvention
Deutschland und die Inklusion

Zehn Jahre ist es her, dass in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat. Anfänglich war eine regelrechte "Inklusionseuphorie" in den Bundesländern zu spüren: Alle sollten bald gemeinsam lernen, Förderschulen sollten aufgelöst werden. Doch mittlerweile hat sich der Wind gedreht.

Von Claudia van Laak | 22.02.2019
Ein Schulkind steht vor einer Tafel, auf der das Wort "Inklusion" geschrieben steht.
In Berlin ziehen Inklusionsforscher eine Bilanz von 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention (picture alliance / dpa)
Wo steht Deutschland heute bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention? Diese Frage kann man gar nicht richtig beantworten, sagt Vera Moser von der Berliner Humboldt-Universität. Die Bildungspolitik in Deutschland habe nämlich komplett versäumt, konkrete Ziele festzulegen, bemängelt die Pädagogik-Professorin.
"Das ist eigentlich die größte Baustelle, die wir haben, dass wir weder Indikatoren haben, woran man Inklusion misst, noch Benchmarks, wann man in welchem Jahr mit welchen Strategien wo sein möchte."
Tatsache ist: Bei immer mehr Schülerinnen und Schülern wird ein Förderbedarf diagnostiziert. Gleichzeitig sind in den letzten zehn Jahren nur wenige Förderschulen aufgelöst worden - trotz Inklusions-Gebot. Die Bundesländer gehen höchst unterschiedlich mit diesem Thema um - in Bremen gehen die meisten Förderkinder bereits auf eine Regelschule, in Bayern dagegen besuchen mehr Kinder mit Handicaps die Förderschule als noch zehn Jahre zuvor.
"Im Moment ärgert mich die Diskussion in die Richtung, zu sagen, die Inklusion ist schlecht. Da ist das Paradies auf Erden nicht umgesetzt, das taugt nichts. Und gleichzeitig wird über die Qualität der Förderschulen überhaupt nicht gesprochen."
Mangelhafte Umsetzung der Inklusion
Vera Moser zitiert eine empirische Studie, nach der der Intelligenzquotient von Kindern sinkt, je länger sie eine Förderschule besuchen. Gleichzeitig ist belegt, dass Förderkinder eher einen Schulabschluss schaffen, wenn sie eine inklusive Regelschule besuchen. Nur: In vielen Bundesländern wurde die Inklusion mangelhaft umgesetzt, die Lehrerinnen und Lehrer in den Regelschulen nur ungenügend weiterqualifiziert. Diese fühlen sich mit einer heterogen zusammengesetzten Klasse überfordert. Detlef Pech, Direktor der Professional School of Education an der Humboldt-Uni:
"Es ist ja auch weder ein Zauberwerk noch ernsthaft überraschend, dass, wenn Menschen nicht qualifiziert sind für etwas, es aber trotzdem machen müssen, dann sind sie entweder absolut fantastisch und bringen sich das selber bei oder es funktioniert eben nicht."
Inklusion braucht Zeit, sagt Detlef Pech. Die Lehrerausbildung wurde vielerorts reformiert, doch bis alle Schulen über Pädagoginnen und Pädagogen verfügen, die inklusiv unterrichten können, werden viele Jahre vergehen.
"Mein Plädoyer wäre an dieser Stelle deswegen: Wir brauchen überraschenderweise, wenn wir Dinge ändern, die Geduld auszuhalten, uns anzuschauen, ob die funktionieren. Und meines Erachtens sind diese kurzfristen Maßnahmen eher welche, die ernsthaft zu Lasten der Schülerinnen und Schüler gehen."
Mutlose Schulpolitik
Im Moment gibt es ein Parallelsystem - Regelschulen, die inklusiv unterrichten, also Förderkinder aufnehmen, gleichzeitig bestehen die Förderschulen weiter. Diese Doppelstruktur hält Vera Moser nicht für sinnvoll - auf die Dauer gesehen:
"Jeder Ökonom, der sich damit beschäftigt hat, sagt, diese Parallelführung ist definitiv das teuerste, und sie hat natürlich systemstabilisierende Effekte. Das führt keine Veränderung herbei."
Inklusion sei außerdem mehr als der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern, sagt Pädagogik-Professorin Moser. Müsse nicht grundsätzlich die Notengebung infrage gestellt werden? Und das selektive Schulsystem? Die Schulpolitik sei in diesen Fragen viel zu mutlos.
"Also es wird so getan, als ob es nur ein paar Leute betrifft und nicht grundsätzlich eine Reform von Unterricht, von Schule mit sich bringt."