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Unabhängig, scharfsinnig, polyglott

Die Emigration rettete die Philosophin Hannah Arendt vor der Nazi-Verfolgung. In den USA machte die Heidegger-Schülerin Karriere, schrieb Bücher über den Totalitarismus und analysierte die deutsche Nachkriegsgesellschaft. 1961 verfolgte sie als Korrespondentin des Magazins "New Yorker" den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Sie nannte die Nazi-Größe einen "Durchschnittsbürokraten". Damit erntetet Arendt harsche Kritik.

Von Jochen Stöckmann | 04.12.2005
    Als ein "Kind" von Martin Heidegger hat man Hannah Arendt bezeichnet - und damit befindet sich die streitbare Philosophin in bester Gesellschaft: Schließlich gehören auch Hans Jonas, Karl Löwith und Herbert Marcuse zu dieser Familie - sie alle haben bei jenem tiefgründelnden Denker studiert, der nach 1945 wegen seiner Lobreden auf die Nationalsozialisten in Verruf geriet. Für die Tochter aus einem jüdischen, mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Elternhaus wog Heideggers Verfehlung doppelt schwer: Nicht nur, dass die Nazis Hannah Arendt 1933 aus Deutschland vertrieben hatten - die zionistische Aktivistin sah sich überdies persönlich von ihrem Lehrer enttäuscht, mit dem die 18-Jährige eine ebenso intensive wie hoffnungslose Liebesaffäre begonnen hatte.

    Als Vorbild einer intellektuell unabhängigen Frau galt ihr damals Rahel Varnhagen, die im 19. Jahrhundert mit ihrem Berliner Salon dem Geistesleben wichtige Impulse gegeben hatte. In ihrem ersten Buch, der "Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin der Romantik", zeichnet Hannah Arendt auch Rahels Erfahrung der Ausgeschlossenen, ja Verstoßenen nach. Das fertig ausgearbeitete Manuskript begleitete die 1937 von den Nazis Ausgebürgerte auf ihrer Flucht in die USA. Als es dort nach Kriegsende endlich erscheinen konnte, schrieb Arendt mit Blick auf die Entrechtung ganzer Bevölkerungsgruppen über Rahel Varnhagen:

    Sie ist Jüdin und Paria geblieben. Nur weil sie an beidem festgehalten hat, hat sie einen Platz gefunden in der Geschichte der europäischen Menschheit.

    Den düsteren Gegenpol zu dieser Position umriss Arendt 1951 in ihrer Studie über "Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft". Als Professorin des New Yorker Brooklyn College hatte sie faschistische, aber auch kommunistische Systeme untersucht und ein gemeinsames Wesensmerkmal entdeckt: das ebenso demagogische wie diktatorische Bündnis von Mob und Eliten. Es war also nur konsequent, dass sie 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Stadt Hamburg ein Publikum bundesdeutscher Honoratioren und Intellektueller aufrief:

    "Sie haben die Möglichkeiten - und daher auch die Verpflichtung - sich darum zu kümmern, die Welt so zu ändern, dass Verfolgung und Versklavung in ihr nicht mehr möglich sind."

    Ihren ehemaligen deutschen Landsleuten unterstellte Hannah Arendt - seit 1951 Bürgerin der USA - die Flucht in einen hilflosen, unverbindlichen Humanismus. Stattdessen aber gelte es, die Nazi-Verbrechen im Geist der neuen Demokratie politisch zu bewerten. Darum stellte die scharf argumentierende Rednerin in Hamburg die Forderung:

    "Der unheimlichen Realitätslosigkeit der reinen Menschlichkeit zu widerstehen, zum Beispiel dadurch, dass man nach Möglichkeit auch das Unmenschliche noch versteht und auch das Ungeheuerliche noch in der Vorstellung nachzuvollziehen sucht."

    Hannah Arendt, als Reporterin für den "New Yorker" unterwegs, hielt sich 1961 mit ihren Berichten über den Eichmann-Prozess in Jerusalem an diese Prämisse. Insbesondere jüdische Organisationen nahmen es der einstigen Zionistin allerdings übel, dass sie die so genannten "Judenräte" als Kollaborateure bei dem von Adolf Eichmann bürokratisch durchgeplanten Massenmord kennzeichnete. Auch auf deutscher Seite wollte man sich nicht mit jener Formel von der "Banalität des Bösen" abfinden, die den Blick von Einzelpersonen weg auf politische und gesellschaftliche Faktoren lenkte. Mit Eichmann, so Hannah Arendt, hatte kein "Teufel in Menschengestalt", sondern "ein beliebiger Hanswurst" den Holocaust organisiert.
    Als unabhängige, ebenso scharfsinnige wie den Menschen zugewandte Beobachterin besetzte die polyglotte Philosophin ihren Platz zwischen allen Stühlen. Und so umriss sie - wenige Wochen vor ihrem Tod am 4. Dezember 1975 - in einem Gespräch jenes neue Europa, das ihre Heimat hätte werden können:

    "Eine Einheitlichkeit, die nicht unbedingt im Verwischen der Grenzen besteht. Das Englische wie das Deutsche, wenn es irgend geht auch noch das Französische wach und lebendig zu halten, sich sozusagen in der Mitte des Atlantiks anzusiedeln. Gar nicht um zu vermitteln, sondern um mit dem Erfahrungshintergrund des einen die Erfahrungen des anderen zu sehen und vice versa."