Während Paul Bremer, der US-Statthalter im Irak auf seinen Pressekonferenzen trotz der jüngsten Welle der Gewalt noch immer unerschütterlichen Optimismus demonstriert, schreien vor dem Hauptquartier der Koalition, der so genannten "grünen Zone", Demonstranten ihren Protest heraus: "Amerika ist der Feind Gottes" - dieser Slogan gehört noch zu den freundlichsten Parolen. An wen, so fragen sie, will Washington am 30. Juni 2004 die Macht eigentlich übergeben? – Etwa an einige derjenigen Politiker, die jetzt im 25-köpfigen US-geführten Regierungsrat mitarbeiten?
Ob Pachachi, Chalabi, das sind doch Exilanten, sind reich, sie haben es sich jahrzehntelang im Ausland gut gehen lassen - und jetzt kommen sie her und wollen uns regieren. Wir sind gegen diese Politiker aus dem Exil. Wir wollen eine echte demokratische irakische Regierung von Kräften aus dem Inneren des Landes, wir wollen unsere Freiheit und unsere Arbeit. Und wenn diese Regierung nicht bald kommt, dann kann das nur einen Grund haben: Es gibt eine Abmachung zwischen den Amerikanern und Saddam, die sich gegen uns Iraker richtet.
Mit dem Vertreter der schiitisch dominierten Dawa-Partei, Salim, ist innerhalb weniger Monate nun schon das zweite prominente Mitglied des US-gestützten Regierungsrats
einem Attentat zum Opfer gefallen. Ist Washington gut beraten, könnte man fragen, sich auf eine Gruppe von Politikern zu stützen, die nicht nur auf der Abschussliste unterschiedlicher Terrorgruppen steht, sondern auch beim Gros der Bevölkerung höchst unbeliebt ist? - Zu den wichtigsten Hoffnungsträgern der US-Verwaltung gehört bis jetzt noch Adnan Pachachi, der Ex-Außenminister aus der Epoche vor Saddam. Bis vor einigen Monaten hatte der 80-Jährige den Vorsitz im Regierungsrat inne. Für die Zeit nach dem 30. Juni ist er als Übergangspräsident im Gespräch. Ihn würde es, im Vergleich zu anderen, qualifizieren, dass er - trotz seiner Zusammenarbeit mit der US-Besatzung - stets auf seiner unabhängigen Meinung bestanden hat. Mit Kritik am amerikanischen Irak-Einsatz hält er nicht hinter dem Berg.
Als Hauptmotiv für ihren Einmarsch in unser Land haben die Amerikaner zwar Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen angeführt. Sie haben gesagt, sie wollten sichergehen, dass der Terrorismus ein für alle Mal gestoppt wird. Doch meiner Meinung nach gab aber noch ein anderes, für Washington nicht minder wichtiges Element. Es ging vor allem auch um Sicherheit für Israel, schließlich ist dies die traditionelle Leitlinie der US-Politik.
Zum Stil Pachachis gehört, dass er sich auf ideologische Diskussionen nicht erst einlässt. Ihm geht es um praktische Verbesserungen. Was machbar ist, das soll man tun – das andere nicht. Und wenn man wählt, dann muss die Wahl in aller Sorgfalt vorbereitet werden.
Wir haben im Augenblick weder ein Wahlgesetz, noch ein Wahlregister, wir erfüllen nicht die Vorbedingungen, die nötig wären, um Wahlen abzuhalten. Hinzu kommt noch die prekäre Sicherheitslage, der Mangel an Recht und Ordnung, die drängenden Wirtschaftsprobleme, kurz: es ist die falsche Zeit für Wahlen, Wahlen sind zur Zeit ganz ausgeschlossen. Wir müssen Geduld haben und warten bis die Zeit für unsere Bevölkerung gekommen ist, unter internationaler Aufsicht frei und fair eine Regierung zu bestimmen, die tatsächlich repräsentativ ist.
Einer der bei den Irakern unbeliebtesten Ratsmitglieder ist Ahmed Chalabi. Der Geschäftsmann mit dem guten Draht zum Weißen Haus hat die Bush-Administration im Vorfeld des Krieges mit viel zu schlichten und zu optimistischen Analysen fehlgeleitet. Der von Washington mit Dollarmillionen aufgepumpte Irakische Nationalkongress, dessen Vorsitzender Chalabi ist, hat so gut wie keine Unterstützung in der irakischen Bevölkerung. Vielen gilt er als Interessenvertretung der US-Wirtschaft. Selbst im Hauptquartier des INC gibt man sich anscheinend wenig Illusionen hin. Was Chalabis Sprecher, Haidar Dar Ahmed sagt, klingt wie ein Rückzugsgefecht.
Dass wir das Sprachrohr der US-Wirtschaft sein sollen, beruht auf falschen Gerüchten. Das alte Regime hat solche Unterstellungen verbreitet, um fälschlich den Anschein zu erwecken, es gehe beim Krieg nur um die Reichtümer des Irak und nicht um die Ablösung von Saddam Hussein. Tatsächlich gibt es keinen einzigen Beweis für die Verbindungen des INC zur US-Wirtschaft. Aber das Schöne an der Demokratie ist ja, dass jeder sagen kann, was er will. Manche haben eben grundsätzlich etwas gegen alle, die im Exil gewesen sind. Dagegen ließe sich einwenden, dass gerade diejenigen, die sich im Ausland aufgehalten haben, die Werte der Demokratie verinnerlicht haben, ja dass es den Exilanten zu verdanken ist, dass die Welt überhaupt von den Leiden der Iraker erfahren hat.
Populärer als die säkular orientierten Regierungsratsmitglieder sind bei den Irakis die Führer der Schiitengruppen, die in dem US-gestützten Gremium Funktionen übernommen haben. Anders die Rolle der Schiitenvertreter, die im Regierungsrat mitarbeiten. Über ihre Motive mehr zu erfahren, muss man die Reise nach Najaf antreten...
Bis zum Marsch der US-Truppen auf Najaf, endete die Hoheit der Koalition drei Stunden von Bagdad entfernt, hinter einem Gürtel aus Palmenhainen. Wer in dieser Region das Sagen hat, das zeigen die überlebensgroßen Portraits der von Saddam ermordeten Schiitenführer, die die Bilder Saddams ersetzt haben. Mit ihren Basaren, Kuppeln, Minaretten und einem Gewirr von engen Gassen, bildet die spirituelle Hauptstadt des Irak eine Welt für sich. Von beinahe jedem Punkt der Stadt fällt der Blick auf die goldglänzende Kuppel der Imam-Ali-Moschee, in dem der Stammvater der Schia begraben liegt. Wie ein gewaltiger Magnet scheint der heilige Schrein alle Lebensenergien anzuziehen und zu bündeln. An beinahe jedem Ort hört man die nie versiegende Rezitation, die aus dem Hof des heiligen Schreines dringt und alle Lebensäußerungen begleitet. Eine der einflussreichsten Schiitenorganisationen ist die schon 1958 in Najaf gegründete Dawa-Partei, deren Vertreter das heute ermordete Regierungsratsmitglied Salim war. Laut Parteisprecher Walid al Hilli besteht das Hauptziel der Dawa in der Errichtung einer irakischen - und keiner amerikanisch verordneten - Demokratie.
Die Amerikaner behaupten, sie wollten aus dem Irak ein Musterbeispiel für Demokratie machen. Ist es Demokratie, ein Land zu besetzen? Eine komische Art Demokratie wäre das. Demokratie heißt, den Menschen die Freiheit zu geben, das Land so aufzubauen, wie sie es sich vorstellen. Wenn die Amerikaner den Irakern dabei helfen wollen, tun sie damit ein wirklich gutes Werk. Aber es geht nicht, dass sie das Land im Namen der Demokratie auf unbestimmte Zeit regieren. Wir sind durchaus kompetent genug, das selbst zu tun.
Was stellt der Dawa-Sprecher Walid al Hilli sich unter einer genuin irakischen Demokratie vor?
Wir sind nicht daran interessiert, den Menschen eine islamische Gesetzgebung aufzuzwingen, wir wollen sie nur wählen lassen. Das Volk entscheidet. Ist eine Mehrheit für islamische Gesetze, wird sie mit ja stimmen - und dann haben wir den Willen der Nation zu respektieren und islamische Gesetze einzuführen.
Die mit der Dawa-Partei konkurrierende Organisation ist SCIRI, der 'Hohe Rat für eine islamische Revolution im Irak’, die ihre Gelder aus Teheran bezieht. Ihr Sprecher, Scheich Hammoudi, ist ein freundlicher graubärtiger Geistlicher mit Turban und der Erscheinung eines Philosophen.
Die irakische Bevölkerung ist ausgesprochen heterogen, unsere Menschen unterscheiden sich auf vielfältige Weise. Deshalb spricht die Führung unserer Organisation sich für ein demokratisches System aus. Jeder Iraker sollte die Möglichkeit erhalten, sich für die gesellschaftliche Variante einzusetzen, die er persönlich für die richtige hält. Das neue irakische System sollte unserer Vielfalt Rechnung tragen. Dazu sind zwei Prinzipien unabdingbar. Erstens: Im neuen System muss es Gewaltenteilung geben. Zweitens: Das Volk muss der einzige legitime Entscheidungsträger bleiben.
Ein Schiitenstaat mit Gewaltenteilung und Demokratie?
Wieso nicht, fragt Scheich Hammoudi, geht zum Regal und kommt mit einem halben Dutzend Büchern zurück: Sorush, Magnia – allesamt schiitische Denker, die sich für eine parlamentarische Demokratie aussprechen. Anders als die sunnitischen Korangelehrten, hätten sich die schiitischen Geistlichen nie zu Sprachrohren der Mächtigen gemacht; sie hätten weder ihre Unabhängigkeit noch den Bezug zur Gegenwart verloren.
Die Tore unserer Interpretation sind weit geöffnet. Und zu den bisher bekannten politischen Theorien lassen sich jederzeit neue hinzufügen. Nicht auf einzelne Denker kommt es an, worauf es ankommt ist, weiter zu denken. Unsere Gelehrten haben die verschiedensten Staatstheorien entwickelt. Khomeinis Theorie ist wirklich nur eine von vielen, sie unterscheidet sich grundlegend von den Auffassungen des Ayatollah Bakr al Sadr, und dessen Ideen unterscheiden sich wiederum von denen Scheich Shams-ed-Dins und diese wiederum von denen unseres ermordeten Parteigründers Ayatollah Bakr al Hakim. Mein Mardscha oder Lehrmeister zum Beispiel ist Ayatollah Shams-ed-Din. Und Shams ed-Din ist gegen eine Regierung durch die Religionsgelehrten. Er spricht von einer Regierung durch eine Verfassung. Aber in der derzeitigen Situation spielen theoretische Konzepte ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Wir müssen in erster Linie praktisch denken und realistische Lösungen suchen.
So unklar die Programme und konkreten Staatsmodelle bleiben, so heftig ist im Irak der Machtkampf zwischen beiden Denkschulen entbrannt. Für die apolitischen Quietisten stehen die Anhänger des geistlichen Oberhaupts Groß-Ayatollah Sistani. Im Mittelfeld taktieren die von Teheran protegierten, "moderaten islamischen Revolutionäre", SCIRI und Dawa-Partei.
Für die radikalen Verfechter einer islamischen Republik steht die Bewegung von Muqtada al Sadr, dem Sohn des 1999 unter Saddam ermordeten Ayatollah Sadik al Sadr. Sadik al Sadr gehörte zu den wenigen, die es wagten, öffentlich, das Baath-Regime zu kritisieren und eine islamische Republik zu fordern. 1999 wurde er von Saddams Geheimdienst ermordet. Sein Sohn Muqtada meint, das Charisma geerbt zu haben. Im Untergrund hat er zur Saddam-Zeit die Anhänger seines Vaters organisiert und verachtet alle Oppositionellen, die das Land verlassen haben - einschließlich der SCIRI und der Dawa-Führung. Muqtada, der erst 30 Jahre alt ist, verfügt über keinen hohen theologischen Rang und wird deshalb von der Geistlichkeit um Ayatollah Sistani mit vornehmer Nichtachtung gestraft. Sein Selbstbewusstsein ist dafür umso ausgeprägter. Er sieht sich als der legitime Führer einer islamischen Republik Irak.
Überall in Najaf sind die Wände der Häuser mit seinen Proklamationen tapeziert. Seit Muqtada al Sadr von der US-Koalition wegen Mordverdachts gesucht wird, hat er sich rar gemacht. An seiner statt pflegt sein engster Vertrauter, Mustafa Yacubi, die Fragen von Journalisten zu beantworten:
Der Sadr-Bewegung ist es unmöglich, mit der Besatzung zusammenzuarbeiten. Dabei sind wir nicht grundsätzlich gegen den US-gestützten Regierungsrat, wir sind aber gegen die Art und Weise, wie seine Mitglieder sich den Amerikanern ausliefern. Es geht nicht, dass die Amerikaner die Entscheidungen dieses Gremiums jederzeit durch ein Veto außer Kraft setzen können. Gewisse Mitglieder des Regierungsrates sind zu unserem Meister Muqtada gekommen und er hat ihnen gesagt: Hört, ich bin zur Mitarbeit bereit, aber ich stelle zwei Bedingungen. Erstens: Ein Vetorecht für den US-Zivilverwalter Bremer darf es nicht länger geben. Zweitens: Auch andere Bewegungen, die bisher nicht vertreten sind, müssen im Rat ihren Platz bekommen.
Zum Staatsmodell der Sadr-Bewegung äußert sich auch Yacubi nicht. Denn dafür, sagt er, gebe es Experten. Sie würden handeln, wenn die Zeit gekommen sei.
An der Spitze eines islamischen Staates müssten nicht zwangsläufig Geistliche stehen. Was die Einzelheiten der islamischen Regierung angeht, so hat Muqtada al Sadr gesagt: Die genaue Organisationsform werde ich verkünden, sobald sich herausgestellt hat, was die Mehrheit der Menschen wirklich will.
Immer häufiger tragen die Schiitengruppen ihre Differenzen auch mit Waffen aus, ringen Anhänger der "schwarzen" und der "roten" Schia um die Schlüsselstellungen der Macht. Sadr-Anhänger liefern sich Feuergefechte mit Gefolgsleuten Sistanis, vertreiben die Anhänger des Großayatollahs aus der Hussein-Moschee in Kerbela. Sistanis Leute kommen zurück und versuchen, ihre Hoheit über die heiligen Schreine wieder zu erobern. Mehrere Tote hat der Schlagabtausch bereits gefordert. Muqtatda al Sadrs Sprecher ist von solchen Auseinandersetzungen nichts bekannt.
Ja, es ist richtig, dass wir eine eigene Miliz, die "Armee des Mahdi", unterhalten. Aber es ist eine friedliche Organisation, die keine Waffen besitzt.
Lieutenant Chavez und Lieutenant Fox, zwei Offiziere der US-Armee, die sich in der Bagdader Schiitenhochburg Sadr-City schon geraume Zeit mit der Mahdi-Armee herumschlagen, entlocken Äußerungen wie diese breites Grinsen.
Die Mahdi-Armee eine friedliche Organisation? Das wäre ihnen ganz neu.
Muqtada al Sadr hat in der letzten Zeit immer wieder zum Ungehorsam gegenüber den Koalitionskräften aufgerufen und den Leuten gesagt: Die Koalition ist hier, um euch zu unterdrücken, das dürft ihr nicht hinnehmen. Die Folgen zeigen sich dann in den Predigten einiger Imame in manchen der lokalen Moscheen.
Al Sadr hat versucht, sich des Gebäudes eines der im Mai gewählten Bezirksräte zu bemächtigen, in Sadr City, dem größten Schiitenviertel Bagdads. Er hat das Gebäude gewaltsam besetzen lassen. Wir haben ihn dann wieder rausgeworfen. Muqtada schreckt nicht vor bewaffneten Konflikten mit anderen zurück, etwa mit den Leuten von Ayatollah Sistani - und beide Gruppen liefern sich dann Feuergefechte. Die Hauptfrage ist immer: Wer kontrolliert das Viertel - und wer arbeitet in welchem Ausmaß mit den Amerikanern zusammen?
In der umkämpften Sunnitnehochburg Falludscha hat sich die Lage kurzzeitig beruhigt. Bagdad leidet weiter unter der Gewalt. Abends hört man immer wieder Schüsse: Gangsterbanden, die sich gegenseitig bekriegen, Anschläge auf US-Patrouillen, Freudenfeuer – schwer zu sagen. Fast täglich feuern Katiouscha-Raketen auf den Sitz der US-Zivilverwaltung ab.
Selbstmordattentäter sprengen sich vor Polizeistationen in die Luft – und töten überwiegend Zivilisten, sagt ein Anwohner empört.
Ein großer Toyota mit einem oder zwei Fahrern, ich erinnere mich nicht mehr so genau, fuhr vor die Polizeistation und explodierte. Zwischen 30 und 40 Menschen kamen ums Leben. Überall rund um die Wache gab es Verletzte, auch Kinder wurden getötet. Das ist ein sehr dicht bevölkertes Viertel, sehen Sie den Markt hier? Die meisten Leute sind überzeugt, dass die Wahabiten dahinterstehen, die Leute von Osama Bin Laden, die al Kaida oder die Baathisten von Saddam.
Haydar, ein 21-jähriger Anglistik-Student an der Bagdader Mustansiriyah-Universität, lehnt den blindwütigen Terror ab. Das täten auch die meisten seiner Kommilitonen, sagt er. Für viele sind die Attentäter Ausländer: Syrer, Saudi Araber, oder al Kaida-Anhänger, die im Irak ihr eigenes Süppchen kochen wollten. Erst wenn die Amerikaner nach den versprochenen Wahlen die Macht nicht abgäben, dann, so meint er, sei die Zeit für einen echten Volksaufstand gekommen.
Die Menschen lassen sich jederzeit durch einen Aufruf unserer Ayatollahs mobilisieren, nicht alle, aber mindestens zehn bis fünfzehn Millionen. Wir warten nur auf den Appell zum Widerstand. Für alle Schiiten, sogar für die Sunniten bedeutet Jihad, dass Gott selber uns befiehlt, gegen alle zu kämpfen, die unser Land besetzen, unsere Ehre verletzen, unser Geld stehlen. Würden wir dem Aufruf dann nicht folgen, hieße das, dass wir Gottes Gebote nicht beachten.
Wäre ein solcher Aufruf wirklich denkbar?
Die Antwort von SCIRI-Sprecher Scheich Hammoudi klingt ebenso diplomatisch, wie undiplomatisch:
Sollten die Amerikaner die Macht nicht abtreten, würden wir dem Beispiel unseres Heilsbringers folgen, des 12. Imams, dessen Wiederkunft wir erwarten: Wie er, sind wir nicht bei den Mächtigen, sondern beim Volk. Sobald die Menschen dafür bereit sind, erscheint der Mahdi, um ihnen beizustehen. So werden auch wir handeln. Wenn die Iraker uns um Hilfe bitten, werden sie uns bereit finden, ihnen zu helfen.
Hunderttausende, die unbewaffnet auf die Basen der Koalition zumarschieren – das wäre das Ende der US-Präsenz im Irak. Die augenblicklichen Anschläge sunnitischer Gruppen und der Widerstand der Sadr-Miliz nähmen sich dagegen aus wie schwache Nadelstiche. Doch weder SCIRI, noch die Dawa-Partei, noch die al Sadr-Bewegung hätte allein die Macht, zum Widerstand aufzurufen. Das könnte nur der Quietist Sistani, der spirituelle Führer aller Schiiten. Sollte Washington das Ende der Besatzung über den Wahltermin Anfang 2005 hinaus verzögern oder das Wahlergebnis nicht anerkennen – dann bleibt Sistani nur die Flucht nach vorn, will er den Einfluss nicht verlieren. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Wahlen wie geplant 2005 stattfinden - und dass sich die unterschiedlichen Schiitenorganisationen sich in einem Machtkampf anschließend zerfleischen. Dann bliebe die Initiative nach wie vor in Washington.
Ob Pachachi, Chalabi, das sind doch Exilanten, sind reich, sie haben es sich jahrzehntelang im Ausland gut gehen lassen - und jetzt kommen sie her und wollen uns regieren. Wir sind gegen diese Politiker aus dem Exil. Wir wollen eine echte demokratische irakische Regierung von Kräften aus dem Inneren des Landes, wir wollen unsere Freiheit und unsere Arbeit. Und wenn diese Regierung nicht bald kommt, dann kann das nur einen Grund haben: Es gibt eine Abmachung zwischen den Amerikanern und Saddam, die sich gegen uns Iraker richtet.
Mit dem Vertreter der schiitisch dominierten Dawa-Partei, Salim, ist innerhalb weniger Monate nun schon das zweite prominente Mitglied des US-gestützten Regierungsrats
einem Attentat zum Opfer gefallen. Ist Washington gut beraten, könnte man fragen, sich auf eine Gruppe von Politikern zu stützen, die nicht nur auf der Abschussliste unterschiedlicher Terrorgruppen steht, sondern auch beim Gros der Bevölkerung höchst unbeliebt ist? - Zu den wichtigsten Hoffnungsträgern der US-Verwaltung gehört bis jetzt noch Adnan Pachachi, der Ex-Außenminister aus der Epoche vor Saddam. Bis vor einigen Monaten hatte der 80-Jährige den Vorsitz im Regierungsrat inne. Für die Zeit nach dem 30. Juni ist er als Übergangspräsident im Gespräch. Ihn würde es, im Vergleich zu anderen, qualifizieren, dass er - trotz seiner Zusammenarbeit mit der US-Besatzung - stets auf seiner unabhängigen Meinung bestanden hat. Mit Kritik am amerikanischen Irak-Einsatz hält er nicht hinter dem Berg.
Als Hauptmotiv für ihren Einmarsch in unser Land haben die Amerikaner zwar Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen angeführt. Sie haben gesagt, sie wollten sichergehen, dass der Terrorismus ein für alle Mal gestoppt wird. Doch meiner Meinung nach gab aber noch ein anderes, für Washington nicht minder wichtiges Element. Es ging vor allem auch um Sicherheit für Israel, schließlich ist dies die traditionelle Leitlinie der US-Politik.
Zum Stil Pachachis gehört, dass er sich auf ideologische Diskussionen nicht erst einlässt. Ihm geht es um praktische Verbesserungen. Was machbar ist, das soll man tun – das andere nicht. Und wenn man wählt, dann muss die Wahl in aller Sorgfalt vorbereitet werden.
Wir haben im Augenblick weder ein Wahlgesetz, noch ein Wahlregister, wir erfüllen nicht die Vorbedingungen, die nötig wären, um Wahlen abzuhalten. Hinzu kommt noch die prekäre Sicherheitslage, der Mangel an Recht und Ordnung, die drängenden Wirtschaftsprobleme, kurz: es ist die falsche Zeit für Wahlen, Wahlen sind zur Zeit ganz ausgeschlossen. Wir müssen Geduld haben und warten bis die Zeit für unsere Bevölkerung gekommen ist, unter internationaler Aufsicht frei und fair eine Regierung zu bestimmen, die tatsächlich repräsentativ ist.
Einer der bei den Irakern unbeliebtesten Ratsmitglieder ist Ahmed Chalabi. Der Geschäftsmann mit dem guten Draht zum Weißen Haus hat die Bush-Administration im Vorfeld des Krieges mit viel zu schlichten und zu optimistischen Analysen fehlgeleitet. Der von Washington mit Dollarmillionen aufgepumpte Irakische Nationalkongress, dessen Vorsitzender Chalabi ist, hat so gut wie keine Unterstützung in der irakischen Bevölkerung. Vielen gilt er als Interessenvertretung der US-Wirtschaft. Selbst im Hauptquartier des INC gibt man sich anscheinend wenig Illusionen hin. Was Chalabis Sprecher, Haidar Dar Ahmed sagt, klingt wie ein Rückzugsgefecht.
Dass wir das Sprachrohr der US-Wirtschaft sein sollen, beruht auf falschen Gerüchten. Das alte Regime hat solche Unterstellungen verbreitet, um fälschlich den Anschein zu erwecken, es gehe beim Krieg nur um die Reichtümer des Irak und nicht um die Ablösung von Saddam Hussein. Tatsächlich gibt es keinen einzigen Beweis für die Verbindungen des INC zur US-Wirtschaft. Aber das Schöne an der Demokratie ist ja, dass jeder sagen kann, was er will. Manche haben eben grundsätzlich etwas gegen alle, die im Exil gewesen sind. Dagegen ließe sich einwenden, dass gerade diejenigen, die sich im Ausland aufgehalten haben, die Werte der Demokratie verinnerlicht haben, ja dass es den Exilanten zu verdanken ist, dass die Welt überhaupt von den Leiden der Iraker erfahren hat.
Populärer als die säkular orientierten Regierungsratsmitglieder sind bei den Irakis die Führer der Schiitengruppen, die in dem US-gestützten Gremium Funktionen übernommen haben. Anders die Rolle der Schiitenvertreter, die im Regierungsrat mitarbeiten. Über ihre Motive mehr zu erfahren, muss man die Reise nach Najaf antreten...
Bis zum Marsch der US-Truppen auf Najaf, endete die Hoheit der Koalition drei Stunden von Bagdad entfernt, hinter einem Gürtel aus Palmenhainen. Wer in dieser Region das Sagen hat, das zeigen die überlebensgroßen Portraits der von Saddam ermordeten Schiitenführer, die die Bilder Saddams ersetzt haben. Mit ihren Basaren, Kuppeln, Minaretten und einem Gewirr von engen Gassen, bildet die spirituelle Hauptstadt des Irak eine Welt für sich. Von beinahe jedem Punkt der Stadt fällt der Blick auf die goldglänzende Kuppel der Imam-Ali-Moschee, in dem der Stammvater der Schia begraben liegt. Wie ein gewaltiger Magnet scheint der heilige Schrein alle Lebensenergien anzuziehen und zu bündeln. An beinahe jedem Ort hört man die nie versiegende Rezitation, die aus dem Hof des heiligen Schreines dringt und alle Lebensäußerungen begleitet. Eine der einflussreichsten Schiitenorganisationen ist die schon 1958 in Najaf gegründete Dawa-Partei, deren Vertreter das heute ermordete Regierungsratsmitglied Salim war. Laut Parteisprecher Walid al Hilli besteht das Hauptziel der Dawa in der Errichtung einer irakischen - und keiner amerikanisch verordneten - Demokratie.
Die Amerikaner behaupten, sie wollten aus dem Irak ein Musterbeispiel für Demokratie machen. Ist es Demokratie, ein Land zu besetzen? Eine komische Art Demokratie wäre das. Demokratie heißt, den Menschen die Freiheit zu geben, das Land so aufzubauen, wie sie es sich vorstellen. Wenn die Amerikaner den Irakern dabei helfen wollen, tun sie damit ein wirklich gutes Werk. Aber es geht nicht, dass sie das Land im Namen der Demokratie auf unbestimmte Zeit regieren. Wir sind durchaus kompetent genug, das selbst zu tun.
Was stellt der Dawa-Sprecher Walid al Hilli sich unter einer genuin irakischen Demokratie vor?
Wir sind nicht daran interessiert, den Menschen eine islamische Gesetzgebung aufzuzwingen, wir wollen sie nur wählen lassen. Das Volk entscheidet. Ist eine Mehrheit für islamische Gesetze, wird sie mit ja stimmen - und dann haben wir den Willen der Nation zu respektieren und islamische Gesetze einzuführen.
Die mit der Dawa-Partei konkurrierende Organisation ist SCIRI, der 'Hohe Rat für eine islamische Revolution im Irak’, die ihre Gelder aus Teheran bezieht. Ihr Sprecher, Scheich Hammoudi, ist ein freundlicher graubärtiger Geistlicher mit Turban und der Erscheinung eines Philosophen.
Die irakische Bevölkerung ist ausgesprochen heterogen, unsere Menschen unterscheiden sich auf vielfältige Weise. Deshalb spricht die Führung unserer Organisation sich für ein demokratisches System aus. Jeder Iraker sollte die Möglichkeit erhalten, sich für die gesellschaftliche Variante einzusetzen, die er persönlich für die richtige hält. Das neue irakische System sollte unserer Vielfalt Rechnung tragen. Dazu sind zwei Prinzipien unabdingbar. Erstens: Im neuen System muss es Gewaltenteilung geben. Zweitens: Das Volk muss der einzige legitime Entscheidungsträger bleiben.
Ein Schiitenstaat mit Gewaltenteilung und Demokratie?
Wieso nicht, fragt Scheich Hammoudi, geht zum Regal und kommt mit einem halben Dutzend Büchern zurück: Sorush, Magnia – allesamt schiitische Denker, die sich für eine parlamentarische Demokratie aussprechen. Anders als die sunnitischen Korangelehrten, hätten sich die schiitischen Geistlichen nie zu Sprachrohren der Mächtigen gemacht; sie hätten weder ihre Unabhängigkeit noch den Bezug zur Gegenwart verloren.
Die Tore unserer Interpretation sind weit geöffnet. Und zu den bisher bekannten politischen Theorien lassen sich jederzeit neue hinzufügen. Nicht auf einzelne Denker kommt es an, worauf es ankommt ist, weiter zu denken. Unsere Gelehrten haben die verschiedensten Staatstheorien entwickelt. Khomeinis Theorie ist wirklich nur eine von vielen, sie unterscheidet sich grundlegend von den Auffassungen des Ayatollah Bakr al Sadr, und dessen Ideen unterscheiden sich wiederum von denen Scheich Shams-ed-Dins und diese wiederum von denen unseres ermordeten Parteigründers Ayatollah Bakr al Hakim. Mein Mardscha oder Lehrmeister zum Beispiel ist Ayatollah Shams-ed-Din. Und Shams ed-Din ist gegen eine Regierung durch die Religionsgelehrten. Er spricht von einer Regierung durch eine Verfassung. Aber in der derzeitigen Situation spielen theoretische Konzepte ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Wir müssen in erster Linie praktisch denken und realistische Lösungen suchen.
So unklar die Programme und konkreten Staatsmodelle bleiben, so heftig ist im Irak der Machtkampf zwischen beiden Denkschulen entbrannt. Für die apolitischen Quietisten stehen die Anhänger des geistlichen Oberhaupts Groß-Ayatollah Sistani. Im Mittelfeld taktieren die von Teheran protegierten, "moderaten islamischen Revolutionäre", SCIRI und Dawa-Partei.
Für die radikalen Verfechter einer islamischen Republik steht die Bewegung von Muqtada al Sadr, dem Sohn des 1999 unter Saddam ermordeten Ayatollah Sadik al Sadr. Sadik al Sadr gehörte zu den wenigen, die es wagten, öffentlich, das Baath-Regime zu kritisieren und eine islamische Republik zu fordern. 1999 wurde er von Saddams Geheimdienst ermordet. Sein Sohn Muqtada meint, das Charisma geerbt zu haben. Im Untergrund hat er zur Saddam-Zeit die Anhänger seines Vaters organisiert und verachtet alle Oppositionellen, die das Land verlassen haben - einschließlich der SCIRI und der Dawa-Führung. Muqtada, der erst 30 Jahre alt ist, verfügt über keinen hohen theologischen Rang und wird deshalb von der Geistlichkeit um Ayatollah Sistani mit vornehmer Nichtachtung gestraft. Sein Selbstbewusstsein ist dafür umso ausgeprägter. Er sieht sich als der legitime Führer einer islamischen Republik Irak.
Überall in Najaf sind die Wände der Häuser mit seinen Proklamationen tapeziert. Seit Muqtada al Sadr von der US-Koalition wegen Mordverdachts gesucht wird, hat er sich rar gemacht. An seiner statt pflegt sein engster Vertrauter, Mustafa Yacubi, die Fragen von Journalisten zu beantworten:
Der Sadr-Bewegung ist es unmöglich, mit der Besatzung zusammenzuarbeiten. Dabei sind wir nicht grundsätzlich gegen den US-gestützten Regierungsrat, wir sind aber gegen die Art und Weise, wie seine Mitglieder sich den Amerikanern ausliefern. Es geht nicht, dass die Amerikaner die Entscheidungen dieses Gremiums jederzeit durch ein Veto außer Kraft setzen können. Gewisse Mitglieder des Regierungsrates sind zu unserem Meister Muqtada gekommen und er hat ihnen gesagt: Hört, ich bin zur Mitarbeit bereit, aber ich stelle zwei Bedingungen. Erstens: Ein Vetorecht für den US-Zivilverwalter Bremer darf es nicht länger geben. Zweitens: Auch andere Bewegungen, die bisher nicht vertreten sind, müssen im Rat ihren Platz bekommen.
Zum Staatsmodell der Sadr-Bewegung äußert sich auch Yacubi nicht. Denn dafür, sagt er, gebe es Experten. Sie würden handeln, wenn die Zeit gekommen sei.
An der Spitze eines islamischen Staates müssten nicht zwangsläufig Geistliche stehen. Was die Einzelheiten der islamischen Regierung angeht, so hat Muqtada al Sadr gesagt: Die genaue Organisationsform werde ich verkünden, sobald sich herausgestellt hat, was die Mehrheit der Menschen wirklich will.
Immer häufiger tragen die Schiitengruppen ihre Differenzen auch mit Waffen aus, ringen Anhänger der "schwarzen" und der "roten" Schia um die Schlüsselstellungen der Macht. Sadr-Anhänger liefern sich Feuergefechte mit Gefolgsleuten Sistanis, vertreiben die Anhänger des Großayatollahs aus der Hussein-Moschee in Kerbela. Sistanis Leute kommen zurück und versuchen, ihre Hoheit über die heiligen Schreine wieder zu erobern. Mehrere Tote hat der Schlagabtausch bereits gefordert. Muqtatda al Sadrs Sprecher ist von solchen Auseinandersetzungen nichts bekannt.
Ja, es ist richtig, dass wir eine eigene Miliz, die "Armee des Mahdi", unterhalten. Aber es ist eine friedliche Organisation, die keine Waffen besitzt.
Lieutenant Chavez und Lieutenant Fox, zwei Offiziere der US-Armee, die sich in der Bagdader Schiitenhochburg Sadr-City schon geraume Zeit mit der Mahdi-Armee herumschlagen, entlocken Äußerungen wie diese breites Grinsen.
Die Mahdi-Armee eine friedliche Organisation? Das wäre ihnen ganz neu.
Muqtada al Sadr hat in der letzten Zeit immer wieder zum Ungehorsam gegenüber den Koalitionskräften aufgerufen und den Leuten gesagt: Die Koalition ist hier, um euch zu unterdrücken, das dürft ihr nicht hinnehmen. Die Folgen zeigen sich dann in den Predigten einiger Imame in manchen der lokalen Moscheen.
Al Sadr hat versucht, sich des Gebäudes eines der im Mai gewählten Bezirksräte zu bemächtigen, in Sadr City, dem größten Schiitenviertel Bagdads. Er hat das Gebäude gewaltsam besetzen lassen. Wir haben ihn dann wieder rausgeworfen. Muqtada schreckt nicht vor bewaffneten Konflikten mit anderen zurück, etwa mit den Leuten von Ayatollah Sistani - und beide Gruppen liefern sich dann Feuergefechte. Die Hauptfrage ist immer: Wer kontrolliert das Viertel - und wer arbeitet in welchem Ausmaß mit den Amerikanern zusammen?
In der umkämpften Sunnitnehochburg Falludscha hat sich die Lage kurzzeitig beruhigt. Bagdad leidet weiter unter der Gewalt. Abends hört man immer wieder Schüsse: Gangsterbanden, die sich gegenseitig bekriegen, Anschläge auf US-Patrouillen, Freudenfeuer – schwer zu sagen. Fast täglich feuern Katiouscha-Raketen auf den Sitz der US-Zivilverwaltung ab.
Selbstmordattentäter sprengen sich vor Polizeistationen in die Luft – und töten überwiegend Zivilisten, sagt ein Anwohner empört.
Ein großer Toyota mit einem oder zwei Fahrern, ich erinnere mich nicht mehr so genau, fuhr vor die Polizeistation und explodierte. Zwischen 30 und 40 Menschen kamen ums Leben. Überall rund um die Wache gab es Verletzte, auch Kinder wurden getötet. Das ist ein sehr dicht bevölkertes Viertel, sehen Sie den Markt hier? Die meisten Leute sind überzeugt, dass die Wahabiten dahinterstehen, die Leute von Osama Bin Laden, die al Kaida oder die Baathisten von Saddam.
Haydar, ein 21-jähriger Anglistik-Student an der Bagdader Mustansiriyah-Universität, lehnt den blindwütigen Terror ab. Das täten auch die meisten seiner Kommilitonen, sagt er. Für viele sind die Attentäter Ausländer: Syrer, Saudi Araber, oder al Kaida-Anhänger, die im Irak ihr eigenes Süppchen kochen wollten. Erst wenn die Amerikaner nach den versprochenen Wahlen die Macht nicht abgäben, dann, so meint er, sei die Zeit für einen echten Volksaufstand gekommen.
Die Menschen lassen sich jederzeit durch einen Aufruf unserer Ayatollahs mobilisieren, nicht alle, aber mindestens zehn bis fünfzehn Millionen. Wir warten nur auf den Appell zum Widerstand. Für alle Schiiten, sogar für die Sunniten bedeutet Jihad, dass Gott selber uns befiehlt, gegen alle zu kämpfen, die unser Land besetzen, unsere Ehre verletzen, unser Geld stehlen. Würden wir dem Aufruf dann nicht folgen, hieße das, dass wir Gottes Gebote nicht beachten.
Wäre ein solcher Aufruf wirklich denkbar?
Die Antwort von SCIRI-Sprecher Scheich Hammoudi klingt ebenso diplomatisch, wie undiplomatisch:
Sollten die Amerikaner die Macht nicht abtreten, würden wir dem Beispiel unseres Heilsbringers folgen, des 12. Imams, dessen Wiederkunft wir erwarten: Wie er, sind wir nicht bei den Mächtigen, sondern beim Volk. Sobald die Menschen dafür bereit sind, erscheint der Mahdi, um ihnen beizustehen. So werden auch wir handeln. Wenn die Iraker uns um Hilfe bitten, werden sie uns bereit finden, ihnen zu helfen.
Hunderttausende, die unbewaffnet auf die Basen der Koalition zumarschieren – das wäre das Ende der US-Präsenz im Irak. Die augenblicklichen Anschläge sunnitischer Gruppen und der Widerstand der Sadr-Miliz nähmen sich dagegen aus wie schwache Nadelstiche. Doch weder SCIRI, noch die Dawa-Partei, noch die al Sadr-Bewegung hätte allein die Macht, zum Widerstand aufzurufen. Das könnte nur der Quietist Sistani, der spirituelle Führer aller Schiiten. Sollte Washington das Ende der Besatzung über den Wahltermin Anfang 2005 hinaus verzögern oder das Wahlergebnis nicht anerkennen – dann bleibt Sistani nur die Flucht nach vorn, will er den Einfluss nicht verlieren. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Wahlen wie geplant 2005 stattfinden - und dass sich die unterschiedlichen Schiitenorganisationen sich in einem Machtkampf anschließend zerfleischen. Dann bliebe die Initiative nach wie vor in Washington.