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Unangenehm, aber oft nicht vermeidbar

Wir verfügen mit dem Magen-Darm-Trakt über ein hochaktives System, biologische Materialien - Nahrung - zu zersetzen, um daraus Energie für unseren Körper zu gewinnen. Dabei entstehen Gase, die irgendwohin müssen.

Von Mirko Smiljanic | 08.02.2011
    Unsere Vorfahren wussten zu feiern! Klöße und Fasanen, Keulen und Kohl, Brot und jede Menge Bier standen auf den Tischen, die sich unter dem Gewicht der vollen Teller und Schüsseln bogen. Wer was hatte, stopfte es in sich rein! Im nächsten Winter schon konnte Schmalhans wieder Küchenmeister sein. In solchen Zeiten hatte die feine Küche keine Konjunktur - und die diskrete Verdauung erst recht nicht.

    "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz, ... "

    ... wusste schon Martin Luther, der bei seinen Gelagen viel Wert auf gute Stimmung legte; und selbst Chinas großer Denker Konfuzius - eher bekannt als ein Philosoph, der die Harmonie des Menschen mit dem Weltganzen suchte - hat Tiefgründigen zum Thema Verdauung gesagt.

    "Gut gefurzt ist halb geschissen."

    Würden heute zeitgenössische Philosophen solche Erkenntnisse verbreiten? Natürlich nicht, pupsen ist tabu! Trotzdem ein paar Fakten: Rund 400 Bakterienarten zersetzen und spalten im Darm unentwegt, was wir essen und trinken. Dabei entstehen Gase - bei gesunden Menschen pro Tag rund ein Liter, die sich etwa acht Mal am Tag entladen. Kritisch wird es, wenn die Zahl auf 20 Mal pro Tag steigt, dann stimmt etwas nicht. Aber was genau - man mag es kaum glauben - ist in unserer forschungslastigen Gesellschaft bisher noch nie in allen Facetten untersucht worden. Immerhin haben Mediziner herausgefunden, ...

    " ... dass tatsächlich Menschen mit Blähungen, mit Völlegefühl mehr Luft, mehr Gase im Bauchraum, vor allem im Darm, haben. Es gibt einige wenige Konstellationen, wo wir Ursachen finden, zum Beispiel Milchzuckerunverträglichkeiten, die führen eben dazu, dass der Milchzucker nicht gespalten werden kann, dann nicht aufgenommen wird, von Darmbakterium vermehrt gespalten wird und dabei vermehrt Blähungen entstehen. In aller Regel können wir aber keine Kette - ich mache das, dann passiert das, ich mache das, dann hört es auf - eine solche Kette können wir in aller Regel nicht auflisten, ... "

    ...sagt Dr. Jürgen von Schönfeld, Chefarzt der Internistischen Klinik des Marien-Krankenhauses in Bergisch Gladbach. Blähungen - die Übermäßigen - treten fast nie isoliert auf. Die Patienten klagen in den meisten Fällen auch über ein unangenehmes Völlegefühl. Aber auch da weiß Internist von Schönfeld kaum wissenschaftlich Erhellendes.

    "Völlegefühl ist ein sehr häufiges Symptom, es ist eine Befindlichkeitsstörung, und ich muss gleich kleinlaut hinzufügen, wir Magen-Darm-Doktors sind in solchen Dingen nicht besonders gut. Es gibt eine Reihe von Befunden, die wir zuordnen können, es gibt eine Reihe von Erklärungen, die wir tatsächlich haben, aber in der Mehrzahl der Fälle können wir diesem Symptom keine spezifische Erkrankung zuordnen und das bedeutet leider auch, dass wir diese Störungen, die sehr das Lebensgefühl beeinträchtigen können, die Lebensqualität mindern können, in der Regel können wir diese Störungen nicht gut beeinflussen."

    Vielleicht hat man ja deshalb dieser Befindlichkeitsstörung einen vergleichsweise unverfänglichen Namen gegeben. Blähungen und Völlegefühl können Symptome eines Reizdarms sein, an dem immerhin immerhin rund 15 Prozent der Bevölkerung leidet - und zwar nicht nur ein paar Tage oder Wochen, sondern Monate und Jahre. Hin und wieder mögen Blähungen und Völlegefühl zwar verschwinden, irgendwann zwickt und zwackt es aber wieder. Ein Grund, warum es die einen trifft, die anderen aber nicht, könnte eine Funktionsstörung des Nervensystems im Magen-Darm-Trakt sein.

    "Wahrscheinlich bemerken Menschen mit Blähungen und Völlegefühl eher, dass der Darm gedehnt wird, als Menschen, die diese Nervenfunktionsstörung nicht haben, sie merken sie früher und sie bemerken sie früher schmerzhaft, als Menschen, die ein intaktes Nervensystem im Magen-Darm-Trakt haben."

    Ob Menschen mit Blähungen und Völlegefühl sich krank fühlen und zum Arzt gehen, hängt von der individuellen Bewertung der Symptome ab. Einige suchen sofort medizinischen Rat, während andere nichts machen und das Darmrumoren als normale Begleitmusik des Lebens ansehen. Wer professionelle Hilfe sucht, gerät mit solchen Symptomen allerdings leicht in eine Diagnostikmühle.
    Dr. Jürgen von Schönfeld plädiert deshalb dafür, ...

    " ... dass man maßhält, es ist wichtig, dass man nicht von einem Arzt zum anderen geht und die gesamte Diagnostik wiederholen lässt, zwei Magenspiegelungen, drei Magenspiegelungen, drei Darmspiegelungen, man findet in der Regel für diese Beschwerden keine Ursache. Wenn man älter ist, wenn man Alarmsymptome hat, dann muss man einmal gründlich nachschauen, wenn man jünger ist, würde ich eher versuchen, sind noch flacher zu halten."

    Genau da liegt aber auch ein Problem: Die Ursachen des Reizdarmes sind in den meisten Fällen harmlos, sie können in einigen wenigen Fällen aber auch auf einen Tumor hinweisen.

    "Diese Unterscheidung ist eine Kunst! Das sollte man zuerst mit dem Hausarzt angehen und mit ihm besprechen, ob man mehr Diagnostik braucht oder nicht. Es gibt natürlich Dinge, die die Alarmglocken schrillen lassen, wenn Blut im Stuhl ist, da muss man nicht lange drüber nachdenken, da ist zunächst mal abzuklären, ob es dafür schwerwiegende Ursachen gibt, Gewichtsverlust ist klar, Schmerzen, die nachts auftreten, sollten dazu führen, dass man mehr Diagnostik macht, weil, das gehört eigentlich nicht zum Reizdarm, das sind eigentlich überwiegend tagsüber auftretende Beschwerden und die Menschen könnten eigentlich nachts normal schlafen."

    In allen anderen Fällen gilt: statt Hightech-Diagnostik, mehr Eigenbeobachtung! Wer unter Blähungen leidet, sollte sich mal kritisch anschauen, was er so isst.

    "Für manche Sachen in der Medizin brauchen Sie keinen Arzt, sondern einen gesunden Menschenverstand. Dinge, die blähen können, kennen wir alle, das sind Kohlsorten, das sind Zwiebeln. Jeder, der merkt, dass er das nicht gut verträgt, wird es ohnehin aus seinem Speiseplan entweder verbannen oder zumindest die Dosis reduzieren."

    Bewegung hilft ebenfalls, weniger Alkohol, mehr ballaststoffhaltige Nahrung und natürlich eine gewisse Hygiene der Psyche. Sätze wie "Das schlägt mir auf den Magen" haben ja einen durchaus ernsten Hintergrund. Nur von einem sollte man die Finger lassen: von Medikamenten!

    "Es gibt eine Reihe von Medikamenten, ich sage immer, es gibt 1000, was nur beweist, dass die Medikamente alle nicht besonders gut sind, denn gäbe es ein Gutes, gäbe es die anderen 999 nicht mehr. Es gibt keine Medikamente, die zuverlässig die Beschwerden lindern, es gibt ein paar Klassiker unter den Medikamenten, die kann man durchprobieren, aber in aller Regel helfen diese Medikamente nicht durchschlagen."

    Mancher muss eben mit einem Grundrauschen an Zwicken und Zwacken leben - aber auch denen spendet Dr. Jürgen von Schönfeld Trost.

    "Es hilft dann sehr, wenn man mit den Patienten einmal ausführlich und länger spricht, ihnen sagt, dass man ihre Beschwerden ernst nimmt, dass man weiß, dass diese Beschwerden nicht nur lästig sind, sondern auch die Lebensfreude, die Lebensqualität deutlich senken können, aber ihnen eben die Rückversicherung gibt, das ist etwas Harmloses, es ist langwierig, es ist schwer zu beeinflussen, es ist keine Psyche, es ist keine Einbildung, aber die gute Nachricht ist, es ist harmlos!"

    Blähungen, das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe, haben ja auch eine positive Seite.

    ""Im Atemholen sind zweierlei Gnaden,

    die Luft einziehen, sich ihrer entladen.

    Jenes bedrängt, dieses erfrischt,

    so wunderbar ist das Leben gemischt.

    Du, danke Gott, wenn er dich presst,

    Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.”"