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Unbekannte Gefahr

Bei der Öl- und Gasförderung gelangen Schlämme aus der Unterwelt an die Erdoberfläche, die ein gefährliches Gepäck mit sich führen: Radioaktivität. Seit den 70ern ist das Problem der strahlenden Abfälle der deutschen Gas- und Ölindustrie bekannt. Bei Nachfragen nach konkreten Zahlen gibt man sich aber zugeknöpft.

Von Jürgen Döschner | 05.02.2010
    Flaches Land, grüne Wiesen, fette Kühe - und dazwischen, mitten im norddeutschen Emsland: ein Hauch von Texas:

    "Wir sind hier am westlichsten Punkt des Feldes. Das ist eine sogenannte Pferdekopfpumpe. Technisch ausgedrückt eine Kolbentiefpumpe. In etwa 700 Meter Tiefe hängt hier eine Kolbenpumpe im Bohrloch, die durch ein Gestänge auf und nieder bewegt wird und durch jeden Kolbenhub Öl und Wasser an die Oberfläche befördert."

    Otto Wilhelm kennt sich aus mit Öl. Er ist Betriebsleiter der BASF-Tochter Wintershall. Seit über 60 Jahren werden hier im Emsland Öl und Gas aus dem Boden geholt. Stolz führt Wilhelm jedes Jahr Dutzende Besuchergruppen durchs Emsland: Politiker, Journalisten, interessierte Bürger.

    Doch was allen Besuchern bislang verschwiegen wurde:

    Mit jedem Barrel Öl und jedem Kubikmeter Gas fördern die Pumpen ungeahnte Mengen radioaktiver Abfälle an die Oberfläche: Schlämme, Abwässer und Ablagerungen versetzt mit Radium 226, Polonium 210 und anderen gefährlichen Stoffen.

    Die Öffentlichkeit hat von deren Existenz bislang nichts gewusst, die Industrie hat sie verheimlicht, die Politik sie ignoriert. Eine gefährliche Mischung - in jeder Hinsicht.

    Regelmäßig müssen die Ölförderanlagen im Emsland gewartet werden. Wintershall-Betriebsleiter Otto Wilhelm geht zu einem Förderplatz. Ein gewaltiger Kranwagen zieht lange Rohre aus dem Boden.

    "Wir haben hier eine sogenannte Aufwältigung vor uns, wo die Pumpe gewechselt wird, weil der Verschleiß zu groß war und die Fördermenge nicht mehr erreicht wurde. Hier haben wir das Pumpgestänge liegen, das Stück für Stück ausgebaut wurde, hier liegt die Pumpe, die jetzt wieder neu eingebaut wird und mit dem Pumpgestänge zusammen auf etwa 700 Meter Tiefe runter gefahren und abgesetzt wird."

    Dies ist einer der Momente, wo bei der Erdölproduktion Radioaktivität ins Spiel kommt. In solchen Rohren bilden sich im Laufe der Zeit Ablagerungen, darin u.a. das hochgiftige und extrem langlebige Radium 226.

    Radium 226 ist ein Zerfallsprodukt von Uran 238, das sich in tieferen Schichten fast überall in der Erdkruste befindet. Da es sich um Stoffe handelt, die bereits in der Natur vorkommen, spricht man auch von "natürlicher Radioaktivität", auf Englisch: Naturally occurring radioactive material, kurz NORM-Stoffe. Radium 226 ist als starker Alpha-Strahler vor allem gefährlich, wenn es direkt in den Körper gelangt. Es kann Lungen- und Knochenkrebs auslösen. Radium 226 ist mit einer Halbwertzeit von 1.600 Jahren extrem langlebig. Ein Zerfallsprodukt ist Radon, ein radioaktives Gas, das die zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs ist.

    Im Gegensatz zum Uran selbst ist Radium leicht wasserlöslich. Zusammen mit dem Wasser, das bei jeder Öl- oder Gasförderung zwangsläufig an die Oberfläche gelangt, wird das Radium aus der Tiefe der Erdkruste geholt. Es lagert sich in Form von Krusten, sogenannten Scales, in den Förderrohren ab und sammelt sich als Schlamm in Filtern, Pumpen, Kesseln und anderen Produktionsanlagen. Das Phänomen ist in der Fachwelt schon länger bekannt.

    "Es gibt eine schleichende Gefahr in der Öl- und Gasindustrie, und allmählich beginnen die Unternehmen, sie wahrzunehmen", "

    schreibt das kanadische Fachblatt "Oilweek Magazine" im Januar 2006. Und weiter:

    "Tief unten in der Erdkruste stellen natürliche radioaktive Stoffe kein Strahlenrisiko dar- so lange man sie ungestört dort lässt. Aber Eingriffe wie die durch die Öl- und Gasindustrie können die Radioisotope anreichern und über die Förderanlagen an die Oberfläche transportieren, wo sie Gesundheits- und Umweltprobleme hervorrufen."

    Natürliche radioaktive Substanzen entstehen in vielen Bereichen: im Uranbergbau, bei der Verbrennung von Kohle, bei der Stahlerzeugung und selbst in Wasserwerken.

    Doch die Öl- und Gasindustrie hatte lange Zeit niemand im Verdacht. Erst Anfang der 80er Jahre wurden erste brancheninterne Untersuchungen angestellt. Nach und nach begannen sich in verschiedenen Ländern Experten aus Wissenschaft, Industrie und Umweltbehörden für die radioaktiven Hinterlassenschaften der Öl- und Gasindustrie zu interessieren.

    " "Strahlenschutz und der Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Öl- und Gasindustrie", "

    lautet zum Beispiel der Titel einer 130 Seiten starken Studie der Internationalen Atom-Energie-Agentur (IAEA) aus dem Jahr 2003. Dort finden sich u.a. Angaben über den Grad der radioaktiven Belastung der Öl- und Gas-Rückstände. Demnach schwankt die spezifische Aktivität der Abwässer und Abfälle zwischen 0,1 und 15.000 Becquerel pro Gramm. Zum Vergleich: Die mittlere Belastung von Boden und Gestein liegt bei 0,03 bq/g!

    Becquerel ist die Maßeinheit für die Menge eines radioaktiven Isotops in einem Material und benennt den Zerfall dieses Isotops pro Sekunde. Diese Maßeinheit hat nichts mit der radioaktiven Strahlung zu tun, die meist in Sievert gemessen wird.

    Die Studie der Internationalen Atomenergiebehörde zeigt: Es geht um erhebliche Abfallmengen mit zum Teil erheblicher radioaktiver Belastung. Diese Abfälle entstehen überall, wo Gas und Öl gefördert werden, und fast überall ist deren Entsorgung nur unzureichend oder überhaupt nicht geregelt.

    Es gibt in keinem Land der Welt eine lückenlose, kontinuierliche und unabhängige Erfassung und Überwachung der radioaktiven Rückstände aus der Öl- und Gasproduktion. Zumindest sind sie weder unabhängigen Wissenschaftlern noch der Öffentlichkeit zugänglich. Viele Untersuchungen der Industrie zu dem Thema sind unter Verschluss.

    In Deutschland gibt es drei Unternehmen, die im nennenswerten Umfang Erdöl und Erdgas fördern:

    Die BASF-Tochter Wintershall, die RWE-Tochter DEA und der deutsche Ableger des US-Multis Exxon.

    Mit rund drei Millionen Tonnen pro Jahr gehört Deutschland zu den Zwergen in Sachen Ölförderung. Und auch die Gasförderung ist im Weltmaßstab eher minimal. Doch auch hier entstehen radioaktive Abfälle.

    Welche Mengen radioaktiver Rückstände fallen in Deutschland pro Jahr an? Wie stark ist die radioaktive Belastung? Wie wurden und werden diese Rückstände entsorgt?

    Allen drei Unternehmen wurden in Vorbereitung dieser Sendung diese Fragen schriftlich gestellt.

    Das Ergebnis: Keine Informationen, keine Zahlen, keine Interviews.

    Stattdessen der Verweis auf den Branchenverband, die "Wirtschaftsgemeinschaft Erdöl- und Erdgasgewinnung e.V.", kurz: WEG.

    Nach mehreren Mails und hartnäckigen Nachfragen erklärt sich der Verband bereit, Fragen zu den radioaktiven Abfällen seiner Branche zu beantworten. WEG-Sprecher Hartmut Pick ergreift die Flucht nach vorn und stellt das Problem der radioaktiven Abfälle aus der Öl- und Gasproduktion als "alten Hut" dar.

    ""Nun, das Thema ist eigentlich ein Thema, seit es die Gasförderung in Deutschland gibt, das ist so seit Anfang der 70er-Jahre."

    Doch schon die erste Nachfrage bringt den Öl-Lobbyisten aus dem Konzept.

    "Sie sagen, seit den 70er-Jahren ist Ihnen das Problem bekannt. Ist das irgendwann mal, und wann, von Ihnen, von Ihren Unternehmen in der Öffentlichkeit kommuniziert worden, dass es dieses Phänomen gibt?"

    Pick: "Hä, das müssen wir erst noch mal klären. Können Sie mal kurz ausmachen?"

    Sein Mitarbeiter greift ein:

    "Wir haben das natürlich nicht mit der Bevölkerung kommuniziert, wir kommunizieren das Problem mit den Mitarbeitern, die damit beschäftigt sind, mit den Aufsichtsbehörden, die damit zusammenhängen - ja, mit der Branche, innerhalb der Branche."

    Seit den 70er-Jahren kennt die deutsche Öl- und Gaswirtschaft also das Problem, hat aber bewusst die Öffentlichkeit darüber bis heute im Unklaren gelassen. Verbandssprecher Pick begründet das so:

    "Wir haben es hier mit natürlicher Radioaktivität in einem relativ geringen aktiven Bereich zu tun, der im Bereich der natürlichen Radioaktivität auch unserer Umgebung liegt."

    Das einzige Richtige an dieser Aussage ist, dass es so etwas wie eine natürliche Radioaktivität in unserer Umwelt gibt. Doch die durchschnittliche Aktivität im Boden beträgt, wie gesagt, 0,03 Becquerel pro Gramm. Und wie stark sind die Abfälle der Öl- und Gasindustrie belastet? Der Verbandssprecher:

    "Also, nach unseren Informationen liegt das im Mittelwert bei um die 20 Becquerel."

    Wohl gemerkt: 20 Becquerel pro Gramm in den Abfällen - gegenüber 0,03 Becquerel pro Gramm in normalen Böden - das ist fast das 700fache der normalen Belastung. Und dies sind Durchschnittswerte.

    Die Internationale Atomenergiebehörde berichtet in ihrer Studie von Spitzenwerten bis 15.000 Becquerel pro Gramm. Und ein Experte des Ölriesen Exxon bezifferte in einem Vortrag in Dresden im Jahr 2007 die mittlere Belastung der NORM-Abfälle seiner Branche mit 88,5 Becquerel pro Gramm.

    Das ist mehr als das 3000fache der natürlichen Bodenbelastung! Schon ab einer Belastung von einem Becquerel pro Gramm ist das Material laut Strahlenschutzverordnung überwachungsbedürftig.

    Doch der Branchenverband beschwichtigt weiter. Als nächsten Beleg für die vermeintliche Harmlosigkeit der strahlenden Öl-Abfälle nennt Industriesprecher Pick die angeblich geringen Mengen, die davon jährlich anfallen.

    "Wir schätzen, dass an diesen Stoffen, die, wie gesagt, natürlich vorkommen in unserer Umgebung und eine sehr geringe Radioaktivität aufweisen, um die 300 Tonnen pro Jahr anfallen in unserer Industrie."

    Nun ist die deutsche Öl- und Gasproduktion im Weltmaßstab zwar unbedeutend. Doch die von der WEG genannten Abfallmengen sind erheblich zu niedrig gegriffen. Bei der GRS, der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln, arbeitet Dietmar Weiß, einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die sich mit den radioaktiven Hinterlassenschaften der Öl- und Gasindustrie beschäftigt haben. Weiß nennt andere Zahlen als der Erdöl-Verband:

    "Wir sprechen in der Summe im Jahr - also auf Trockenmasse bezogen, Frischmasse ist etwas mehr - von 1000 bis 2000 Tonnen."

    Das ist drei bis sechsmal so viel, wie der Industrieverband nennt. Konfrontiert mit den von der Ölwirtschaft genannten 300 Tonnen reagiert der GRS-Experte irritiert:

    Weiß: "Sie meinen 300 Tonnen, also Schlämme und Scales zusammen?"
    Autor: "Beides zusammen."
    Weiß: "Das kann ich mir jetzt so nicht erklären."

    Also 700 bis 1700 Tonnen radioaktiver Müll, die laut GRS jährlich anfallen - aber in der Rechnung der Öl- und Gasindustrie überhaupt nicht auftauchen.

    Die Frage ist: Was passiert mit diesen großen Mengen radioaktiv belasteter Abfälle, die Jahr für Jahr entstanden sind und irgendwo geblieben sein müssen? Der Verband, der von den Gas- und Öl-produzierenden Unternehmen beauftragt wurde, alle Fragen in diesem Zusammenhang zu beantworten, kann nicht einmal erklären, wie jene 300 Tonnen kontaminierter Abfälle pro Jahr genau entsorgt werden, die die Industrie selbst einräumt. Verbandssprecher Pick:

    "Ja, im Endeffekt landen sie auf einer Deponie. Das ist aber dann die Sache des jeweiligen Entsorgungsunternehmens."

    Eines dieser Unternehmen, die der Verband der Öl- und Gasproduzenten angeblich nicht kennt, ist die Leipziger Gesellschaft für Metallrecycling, GMR, ist. Dort entzieht man den kontaminierten Schlämmen das Quecksilber. Die Geschäftsführung der GMR lehnte ein Interview ab.

    Etwas offener zeigte sich dagegen die DELA GmbH in Essen. Dort werden seit zwei Jahren radioaktive Ölrückstände nach dem gleichen Verfahren wie in Leipzig behandelt. Sie stammen jedoch nicht aus Deutschland, sondern wurden aus den Niederlanden importiert.

    "Die finden Sie hier bei uns in der Halle eins, das ist die Produktionsstätte, in der wir eine Destillationsanlage haben, wo wir das Quecksilber aus diesen NORM-Abfällen herausdestillieren bei 800 Grad","

    erklärt Christian Bonmann, Geschäftsführer der DELA GmbH. In der großen Halle steht eine haushohe Anlage. Ein Drehrohrofen, in dem den Schlämmen aus der Öl- und Gasförderung Wasser und Quecksilber entzogen werden. Zurück bleibt Staub - radioaktiver Staub. Doch für Bonmann offenbar kein Problem.

    ""Es handelt sich nach unserer Definition um quecksilberhaltigen Abfall, der sicherlich eine kleine Strahlung mit sich trägt, die aber für unseren Prozess unerheblich ist. Warum? Dieser ganze Prozess wird bei uns in einem Unterdruck durchgeführt, es gibt also keine Möglichkeit von Staubemissionen, und der Staub ist letztendlich ja das, was diese leichte Radioaktivität trägt. Und insofern sind wir hier in einem sicheren Medium."

    Wie gefährlich solcher Staub sein kann, erklärt der Essener Strahlenbiologe und Mitglied der Strahlenschutzkommission Wolfgang Müller:

    "Wenn das Radium 226 selbst in Staubform in die Lunge hinein gerät, dann kann auch dieses Radium 226 zu Lungentumoren führen, kann, wenn es anderswo im Körper deponiert wird, unter Umständen auch Knochentumore auslösen."

    DELA-Geschäftsführer Bonmann bleibt dennoch dabei: Die Schlämme aus Holland sind völlig ungefährlich.

    "Ich bin unsicher, ob man hier überhaupt von einer radioaktiven Belastung sprechen kann. Gleichwohl, es gibt Werte, die wir haben messen lassen, die liegen im Input, wenn wir das Material bekommen, in der Regel kleiner zehn Becquerel, im Schnitt bei fünf Becquerel, und im Output liegen die Werte zwischen 10 und 15 Becquerel."

    Das kann schon rein rechnerisch nicht stimmen.

    Die Schlämme werden getrocknet und so auf ein Viertel bis ein Fünftel ihrer ursprünglichen Masse reduziert. Dadurch steigt die radioaktive Belastung entsprechend um das Vier- bis Fünffache an. Der Reststoff müsste also mit 20 bis 50 Becquerel pro Gramm belastet sein.

    Und in der Tat: Ein TÜV-Bericht bestätigt eine spezifische Radioaktivität des Endmaterials von 40 Becquerel pro Gramm. Trotzdem lagerte das Essener Unternehmen diese kontaminierten Rückstände über Monate ohne jede Kennzeichnung auf dem Betriebsgelände. Selbst für den Transport sollten die Fässer nicht besonders gekennzeichnet werden, erklärt Geschäftsführer Bonmann:

    "Nach deutschem Recht und deutscher Analyse ist es kein radioaktiver Abfall, und wenn diese Fässer den Hof verlassen, werden sie entsprechend als das deklariert, was sie sind."

    Autor: "Und das wäre?"

    Bonmann: "Im Moment kein radioaktiver Abfall."

    Eigenartig nur: Zwei Wochen nach diesem Interview, als das Fernsehen über den Betrieb berichtet, stehen die Fässer plötzlich in einer geschlossenen Halle, klebt auf jedem der Fässer der gelb-schwarze Warnaufkleber für radioaktives Material. Das spricht nicht gerade für die Kompetenz des Unternehmens in Sachen NORM-Abfälle. Auf die Frage, ob ihm die Diskussion über die Gefahren und Risiken der radioaktiven Abfälle aus der Öl- und Gasindustrie bekannt sei, antwortet Geschäftsführer Bonmann denn auch:

    "Die Diskussion ist mir nicht bekannt, weil wir auch noch mal betonen möchten: Wir sind keine Anlage zur Aufbereitung von strahlenden Abfällen, sondern wir sind eine Anlage zur Wiedergewinnung von Sekundärrohstoffen. Dazu zählt also keine Radioaktivität, sondern das hierin enthaltene Quecksilber. Und wir haben uns auch ansonsten mit radioaktiven Abfällen noch nicht wirklich beschäftigt."

    Mit anderen Worten:

    Die Essener DELA GmbH hantiert seit Jahren mit Stoffen, deren Risiken und Gefahren sie weder kannte noch einschätzen konnte. Und das alles unter den Augen und mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde - in diesem Fall des Regierungspräsidenten Düsseldorf.

    Seit 2001 sind die radioaktiven NORM-Abfälle aus der Öl- und Gasindustrie in der Strahlenschutzverordnung aufgeführt. Demnach müssen Rückstände ab einer Belastung von 1 Becquerel pro Gramm gesondert entsorgt werden. Doch eine Kontrolle der Öl und Gas fördernden Unternehmen, bei denen der Abfall entsteht, ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Das Bundesamt für Strahlenschutz schreibt auf seiner Internet-Seite zu den Bestimmungen über NORM-Stoffe in der Strahlenschutzverordnung:

    "(...) Untersuchungen führten zur Festlegung einer Anzahl 'überwachungsbedürftiger' Rückstände, bei deren Beseitigung oder Verwertung Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung erforderlich werden können (...). Dabei hat der Gesetzgeber auf den sonst im Strahlenschutz üblichen Genehmigungsvorbehalt verzichtet; die Umsetzung der Erfordernisse des Strahlenschutzes geschieht weitgehend in Eigenverantwortung der betroffenen Betriebe."

    Die Industrie kontrolliert sich also weitgehend selbst - und das in dem so sensiblen Bereich der radioaktiven Abfälle. Solch "großzügiger" Umgang führt nicht nur zu einer potenziellen Gefährdung von Dritten durch unsachgemäße Entsorgung der gefährlichen Rückstände. Auch die Gesundheit der Mitarbeiter der Öl- und Gasunternehmen selbst wird gefährdet. Denn über Jahrzehnte wurden diese Abfälle meist völlig sorglos und unsachgemäß beseitigt - teils aus Unkenntnis, teils wegen fehlender gesetzlicher Bestimmungen, teils aus rein ökonomischen Gründen. Der kanadische NORM-Experte Tab Cuthill wird in der Öl-Fachzeitschrift "Oilweek Magazine" mit den Worten zitiert:

    "In vielerlei Hinsicht ist das Problem der NORM-Stoffe aus der Öl- und Gasförderung heute vergleichbar mit der Asbest-Problematik vor 20 Jahren."

    Und die Menge der radioaktiven Rückstände wird steigen - auch wenn die Ölförderung in vielen Ländern längst ihren Höhepunkt überschritten hat.

    Das liegt zum einen daran, dass der Wasseranteil bei der Ölförderung mit zunehmendem Alter der Quelle steigt - dann werden bis zu 50 Liter Wasser pro Liter Öl gefördert. Und je mehr Wasser gefördert wird, desto mehr radioaktive Substanzen kommen aus dem Erdinnern an die Oberfläche. Der zweite Grund ist der Rückbau stillgelegter Quellen.

    Zig Tausende Kilometer Förderrohre mit stark verstrahlten Ablagerungen darin werden aus den Bohrlöchern gezogen - und die Frage ist, wohin damit.

    Nach ersten Berichten über das Thema ist nun offenbar auch die Politik aufmerksam geworden.

    Im Dezember letzten Jahres haben die Grünen im Bundestag eine Anfrage an die Bundesregierung zu diesem Thema gestellt.

    Welche Mengen radioaktiver Abfälle entstehen jährlich in der Öl- und Gasindustrie? Wie werden sie entsorgt? Welche Altlasten aus diesem Bereich gibt es? Warum tauchen diese Abfälle nicht im Strahlenschutzbericht auf?

    Das Ergebnis war ernüchternd. Auf die meisten Fragen konnte die Bundesregierung keine Antwort geben. Nun will sich Berlin erst einmal bei den Bundesländern schlaumachen.

    Doch das Beispiel Nordrhein-Westfalen im Umgang mit der Essener Firma DELA zeigt.

    Auch in den Ländern wird das Problem der radioaktiven Hinterlassenschaften der Öl- und Gasindustrie unterschätzt.

    Und was für Deutschland gilt, das gilt für die großen Öl- und Gasproduzenten wie Russland, Saudi-Arabien, USA, Iran, Kasachstan, Aserbaidschan und andere erst recht.

    Jedes Jahr produziert die Öl- und Gasindustrie Millionen Tonnen radioaktiver Rückstände.

    Sogenannte NORM-Stoffe, naturally occurring radioactive material - radioaktive Isotope aus der Natur.

    Doch das macht sie nicht weniger gefährlich. Sie stammen aus Hunderten bis Tausenden Metern Tiefe und werden erst durch die Öl- und Gasförderung an die Oberfläche, in die Biosphäre gebracht.

    Dort können sie, wenn sie nicht sicher entsorgt werden, dasselbe Unheil anrichten wie alle radioaktiven Substanzen: Sie zerstören durch ihre Strahlen Zellen und Erbgut und lösen Krebs aus.

    Radioaktivität kann man nicht riechen, nicht schmecken, nicht spüren. Umso wichtiger ist es, dort, wo sie auftauchen kann, darüber zu reden, davor zu warnen. Doch im Fall der radioaktiven Abfälle der Öl- und Gasindustrie wird bis heute geschwiegen.