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Unbekannter Anderer

Kritik der ethischen Gewalt , so lautet der gemeinsame Titel dreier Vorlesungen, die Judith Butler gegen Ende 2002 am Institut für Sozialforschung gehalten hat, an dem die Frankfurter Schule entstand. Sie eröffnete damit eine Vorlesungs-Reihe, die dem Denken des Schulmitbegründers Theodor Adorno gewidmet sein soll.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Dann verwundert der Titel Kritik der ethischen Gewalt weit weniger. Normalerweise unterstellt man der Ethik, das Gute und die Humanität auf der Welt zu befördern – und das gerade nicht mit Gewalt, sondern mit moralischen Appellen: Der Mensch soll doch freiwillig aus eigener Überzeugung ethische Prinzipien befolgen! Gewalt darf man vielleicht aus Notwehr anwenden. Als schlechthin gut erweist sich Gewalt normalerweise nicht, wie auch die weltweite Kritik am letzten Krieg im Irak vorführt.

    Doch seit Marx die Moral als Moral der herrschenden Klasse disqualifizierte, seit Nietzsche im Innern der Moral den Willen zur Macht der Armen, Schwachen und Kranken erkannte und Freud im schlechten Gewissen den Ursprung psychischer Erkrankungen diagnostizierte, seither akzeptiert man die Ethik nicht mehr als selbstverständlich immer gut, friedlich und gewaltlos. Es kann zu viele Gutmenschen geben. Moralisten können sehr rigoros sein. Nicht selten setzen sie ihre Prinzipien am Ende mit Gewalt durch.

    Gründe für solche fatalen Wirkungen sah Adorno darin, dass moralische Prinzipien normalerweise den Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben. Damit aber können sie dem Einzelnen in seiner konkreten Situation selten gerecht werden. Judith Butler schließt an Adorno an:

    Beim Prozess, Universalität zu formulieren, passiert es normalerweise, dass eine Reihe von Fehlern gemacht werden. Man bietet einen Begriff der Universalität an und es stellt sich heraus, dass er scheitert oder dass er mit Ausschlüssen und einer bestimmten Gewalt arbeitet, die wir mit Ausschlüssen assoziieren können.

    Das Problem, inwieweit ethische Prinzipien, zum Beispiel Menschenrechte, wirklich universell gelten, zeigt sich gerade im interkulturellen Dialog. Die Menschenrechte, die individuelle Freiheit befördern, lassen traditionelle Lebensweisen manchmal nicht mehr zu, beispielsweise die Rolle der Frau im konservativen Islam. Auch eine universelle Ethik erfährt offenbar eine kulturelle Prägung. Judith Butler:

    Wenn wir zustimmen, dass es viele kulturelle Wege gibt, das Universale zu erklären, und dass das Universelle sehr kulturabhängig ist, dann scheint es, dass wir immer mit einer besonderen kulturellen Formung umgehen müssen, wenn wir das Universelle artikulieren. Es scheint mir, dass wir das akzeptieren müssen, wenn wir einen Begriff der Universalität entwickeln wollen, der nicht den Zwecken des kulturellen Imperialismus dienen soll.

    Judith Butler bekräftigt in ihren Vorlesungen nicht bloß jene These von Marx bis Adorno, dass Ethik gewalttätig wird. Sie weist diese Diagnose auch nicht einfach zurück. Sie fragt vielmehr sehr sensibel danach – und das macht die Spannung des Buches aus -, wie man ethische Gewalt eindämmen kann. Sie stützt sich dabei auf die feministische Philosophin Adriana Cavarero, die ihrerseits an Emmanuel Lévinas anschließt. Der vielleicht bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhundert bezweifelt, dass es ethisch beispielsweise primär darum geht, den Anderen immer besser zu verstehen.

    Ich denke, für Cavarero ist die Basis der Ethik ein Verständnis, dass der Andere nicht erfassbar ist, dass wir keine definitive Zusammenfassung dessen geben können, wer der Andere ist. Und ich denke wirklich, das ist verbunden mit einer Art der unendlichen Verantwortlichkeit bei Lévinas und zwar in dem Sinn, dass dies eine Beziehung zum Anderen ist, (die ich brauche?) und die keinen Anfang und kein Ende besitzt. Wenn wir glauben, den anderen erfassen und kennen zu können (. .) dann ist das eine Art der Gewalt. (. .) Aber ich denke, das Du arbeitet gegen diese Gewalt, weil es in (Carareros) Begriffen und natürlich auch in denen von Lévinas unerfassbar ist.

    Wenn ich den Anderen letztlich nie ganz verstehe, kann ich ihm auch ethisch nicht vorschreiben, wie er zu leben hat. Judith Butler erweitert diesen Gedanken, dass die Unerkennbarkeit des Anderen meine Rücksichtnahme und Verantwortlichkeit ihm gegenüber erhöht und nicht mindert. Traditioneller Weise vermag man ethisch zu handeln, weil man seiner selbst mächtig ist, sich selbst zu erkennen vermag. Doch für Judith Butler existieren Grenzen der Selbsterkenntnis:

    Wir können nicht über uns selbst oder unser Handeln reflektieren, ohne genauso die sozialen Bedingungen zu beachten, die dieses Selbst und dessen Handlung möglich und verstehbar werden lassen. (. .) Ich denke, dass man sich selbst oder seine Handlung nicht völlig verstehen kann ohne Verständnis der sozialen Normen, in denen man lebt und das bedeutet, dass Ethik uns zum Problem der Sozialkritik weist.

    Nicht nur aus psychologischen Gründen, weil ich mir beispielsweise mein Unbewusstes nicht bewusst machen kann, bin ich mir nicht vollständig transparent. Vielmehr bin ich in einen sozialen Zusammenhang eingebunden, den ich natürlich genauso wenig völlig überschaue. Das mindert aber meine ethische Kraft nicht. Im Gegenteil, die Einsicht in meine eigene Schwäche ruft mich zur Vorsicht gegenüber dem Anderen auf und soll derart die ethische Gewalt mindern. Judith Butler widerspricht der liberalen Vorstellung vom egoistischen Individuum, das primär für sich allein lebt:

    Von Anfang an wird das Ego vielmehr im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt. Es wird hervorgebracht im Verhältnis zu anderen. (. .) Und ich denke, das bedeutet, wenn wir unser Selbst als sozial verwurzelt begreifen, dann heißt das, dass der Andere uns nicht nur als jemand begegnet, der außerhalb von uns ist, sondern dass er in einem bestimmten Sinn die Bedingung unseres eigentlichen Seins ist. Dann bin ich verantwortlich für den Anderen in dem Sinn, dass der Andere ein Teil von mir ist.

    Wenn ich einsehe, dass ich keine absolute Souveränität mir selbst gegenüber besitze, dann werde ich nicht unfähig, ethisch zu handeln, weil ich jetzt vielleicht meine Triebe nicht mehr unter Kontrolle hätte. Ich entfalte meine Humanität überhaupt erst dann, wenn ich Einsicht in die Grenzen meiner Einsichtsfähigkeit gewinne:

    Ich denke, wenn ich mich selbst nicht völlig kenne, bedeutet das nicht, dass ich nicht versuchen sollte, mich selbst kennen zu lernen. (. .) Aber ich sollte auch wissen, dass es Grenzen dieses Kennens gibt. (. .) Und ich denke, ohne dass man die Grenzen der Selbsterkenntnis anerkennt, wird man nicht in der Lage sein, diese auch bei Anderen anzuerkennen.

    Judith Butler setzt die Bemühungen der zeitgenössischen Ethik fort, einerseits den Menschen nicht als isoliertes Individuum zu betrachten und andererseits ihn nicht grundsätzlich der Gemeinschaft unterzuordnen. Beides wären offenbar falsche und entfremdende Lebensformen. Die Frage, ob es ein richtiges, nicht entfremdetes Leben gibt, läßt sich dann nicht mehr einfach verneinen. Dem pessimistischen Verdikt Adornos, ‚es gibt kein richtiges Leben im falschen’, folgt Judith Butler daher nicht. Man muss und kann sich zumindest um ein besseres Leben bemühen:

    Ich denke, es gibt vielleicht nur einen Kampf, einen Kampf um ein richtiges Leben unter falschen Bedingungen. Man muss von einem persönlichen Standpunkt aus fragen, (. .) unter welchen Bedingungen ist das Leben mir gegeben und welche Macht habe ich, diese Bedingungen zu ändern. Es stellt sich heraus, dass ich mein Leben nur unter sozialen Bedingungen begreifen kann, unter denen das Leben mir gegeben ist. Das bedeutet, um die soziale Welt zu ändern, muss ich manchmal mich selbst ändern. (. .) Manchmal müssen genauso die sozialen Normen geändert werden und das bedeutet, dass man gleichzeitig auf sich selbst und auf die sozialen Normen einwirken muss. Derart denke ich, muss eine bestimmte ethische Praxis mit einer Praxis sozialer Kritik kombiniert werden.